Harald Wolf war Senator und einer der Bürgermeister Berlins. Mit seinem lesenswerten Buch »Rot-Rot in Berlin« legt er Materialien über zehn Jahre Regierungsbeteiligung der LINKEN in der Hauptstadt vor. Von Klaus-Dieter Heiser
Der ehemalige Wirtschaftssenator und Bürgermeister von Berlin Harald Wolf legt in seinem lesenswerten Buch »Rot-Rot in Berlin« Materialien über zehn Jahre Regierungsbeteiligung in Berlin vor. Erfreulich klar schreibt er am Ende: »Regieren [darf] für eine linke Partei nie Selbstzweck, nie ein sich selbst genügender ‚Wert an sich‘ sein. Der Wert einer Regierungsbeteiligung muss sich immer an den durch das Regierungshandeln konkret bewirkten gesellschaftlichen Veränderungen bemessen«. Diese Einsicht kommt spät.
Regierungsbeteiligung in Berlin
Fünfzehn Jahre zuvor war für Gregor Gysi die Regierungsbeteiligung der PDS im Berliner Senat eben »ein Wert an sich«. »Dahinter verbarg sich das Ziel, über Regieren in Berlin und damit auch erstmals in einem Teil des ehemaligen Westens der Republik an Akzeptanz zu gewinnen und Normalität herzustellen«, erklärt der Autor. Doch Rot-Rot wurde zu einem Desaster für die PDS, später für DIE LINKE. Wolf musste feststellen, dass sich ehemals Verbündete abgewandt hatten, Wählerinnen und Wähler ihre Stimme verweigerten.
Ausführlich stellt Wolf Fakten zur Berliner Politik der 90er-Jahre zusammen. Am Ende des Jahrzehnts waren Berlins Finanzen desolat. Allein die Haushaltsrisiken in Milliardenhöhe, die sich aus den Geschäften der überwiegend landeseigenen Bankgesellschaft Berlin ergaben, ließen jeden Sparansatz als absurd erscheinen. 2001 war die von der Union geführte CDU/SPD-Koalition im Zuge des Berliner Bankenskandals abgewählt worden.
Leere Versprechen der Linken in Berlin?
Harald Wolf erinnert an die Aufsehen erregende Erklärung, mit der Gregor Gysi die Funktion des PDS-Spitzenkandidaten übernahm. Gysi versprach: »Ich möchte dafür eintreten, dass die notwendige Sanierung der Stadt sozial gerecht erfolgt, dass Armut und Arbeitslosigkeit wirksam bekämpft werden. Ich möchte, dass die Bildungschancen für die jungen Generationen ausgebaut werden und die vielfältigen Formen von Kunst und Kultur in dieser künftigen europäischen Metropole erhalten bleiben. Alle anderen Ausgaben müssen auf den Prüfstand, aber auch Einschnitte müssen mit Bedacht und gerecht erfolgen.« Eine Gysi-Euphorie setzte ein. Am Wahltag wurden alle Umfrageergebnisse mit 22,6 Prozent, im Ostteil Berlins sogar mit 47 Prozent übertroffen.
Ab Mitte Januar 2002 regierte ein Senat aus SPD und PDS. Geplant war ursprünglich ein Ampelsenat aus SPD, FDP und Grünen. Diese Verhandlungen platzten wegen erheblicher Gegensätze, vor allem in der Mieten- und Wohnungspolitik. Auf anderen Politikfeldern waren bei den Ampelverhandlungen bereits Übereinstimmungen erzielt worden. Vieles davon findet sich in der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS wieder. So fand »neoliberaler Zeitgeist« Eingang in die Politik der ersten rot-roten Regierungsperiode von 2002 bis 2006.
Berlin: »Sparen bis die Stadt quietscht«?
»Sparen bis die Stadt quietscht«, so hatte es der neue Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) angekündigt, und an dieser Linie orientierte sich der rot-rote Senat. Eine der ersten Maßnahmen von SPD und PDS war, die Risiken aus dem Immobiliengeschäft der Bankgesellschaft Berlin zu übernehmen. »Risikoabschirmung« für die Fondsanleger mit Steuergeldern statt Insolvenz der Bankgesellschaft, die bei der Landesbank Berlin Verbindlichkeiten über 18 Milliarden Euro hatte. Von den Versprechungen Gregor Gysis während des Wahlkampfes für eine sozial gerechte Sanierung der Stadt, war keine Rede mehr. Die PDS stimmte der Risikoabschirmung zu.
Haushaltskonsolidierung bedeutete neben Privatisierungen vor allem Einschnitte bei den Ausgaben. Harald Wolf listet sie auf; sie bewirkten das Gegenteil der versprochenen sozialen Gerechtigkeit: Abbau des Personals und Kürzungen der Gehälter im öffentlichen Dienst; Kürzung der Zuschüsse an die Berliner Bäderbetriebe mit der Folge, dass neun Bäder geschlossen wurden; Kürzungen der Etats in den Berliner Bezirken, mit der Folge, dass Jugendeinrichtungen geschlossen oder an freie Träger abgegeben wurden sowie Reduzierung der Bibliotheken; Erhöhung von Kita-Beiträgen; Reduzierung des Blindengeldes; Einschränkung der Lernmittelfreiheit; teureres Sozialticket für öffentliche Verkehrsmittel. Dem Wissenschafts- und Kulturbereich drohte ein Kahlschlag. Ein Studienkontenmodell wurde entwickelt. Studierende verhinderten durch Protest, dass ein Einfallstor für Studiengebühren geöffnet wurde. Andere Proteste perlten am Senat ab; Wolf erwähnt sie nicht einmal.
Rekommunalisierung der Wasserbetriebe in Berlin?
Der SPD/PDS-Senat »erbte« von der Großen Koalition die Privatisierung der Energieversorger Bewag und Gasag sowie die Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe. Von Anfang an richtete sich Protest insbesondere gegen die Geheimhaltung der Verträge über die Wasserbetriebe. Sie sicherten den privaten Investoren eine garantierte Rendite zu. Klagte die PDS noch gemeinsam mit den Grünen als Oppositionspartei vor dem Landesverfassungsgericht gegen den »Wasservertrag« – zum Teil erfolgreich – lag nun beim Wirtschaftssenator Wolf die Verantwortung für die Umsetzung nicht beanstandeter Teile des Vertrags. Der »Wassertisch«, eine außerparlamentarische Initiative, organisierte einen erfolgreichen Volksentscheid zur Offenlegung der Verträge und zur Rekommunalisierung der Wasserbetriebe. Das Verhalten von Landesvorstand und Abgeordnetenhausfraktion der Linkspartei zu diesem Volksentscheid ist eines der dunklen Kapitel von Rot-Rot in Berlin. Harald Wolf räumt ein, die Dynamik des Volksentscheids und die breite Ablehnung der Wasserprivatisierung »unterschätzt« zu haben.
Das Scheitern des sozialen Wohnungsbaus in Berlin
Der rot-rote Senat beschloss den »Ausstieg aus der Anschlussförderung im sozialen Wohnungsbau«. Es war eine richtige Entscheidung, nur noch 15 statt 30 Jahre die Eigentümer der überteuert gebauten Wohnungen zu fördern. Aber sie wurde schlecht umgesetzt. Die Mieterinnen und Mieter mussten deutlich mehr Miete zahlen. Viele konnten das nicht und mussten umziehen. Landeseigene Wohnungsgesellschaften nahmen einen großen Teil der Wohnungssuchenden auf. Das ging solange relativ gut, bis durch Privatisierung landeseigener Wohnungsbestände diese Möglichkeit entfiel. Sozialen Wohnungsbau hat es seither in Berlin nicht mehr gegeben. Harald Wolf bezeichnet den Verkauf der landeseigenen Wohnungsgesellschaft GSW an die Cerberus-Gruppe, die in der Branche zu den Geierfonds zählt, als folgenschweren Fehler, als »Sündenfall«. Kam er überraschend? Nein, der Verkauf einer Wohnungsgesellschaft aus dem landeseigenen Bestand mit etwa 80.000 Wohnungen stand bereits in der Koalitionsvereinbarung von SPD und PDS.
Bilanz der Regierungsbeteiligung in Berlin
Nach fünf Jahren Regierungsbeteiligung verzeichnete die PDS 2006 einen Verlust von 9,2 Prozent ihrer Wählerinnen und Wähler; ein Absturz auf 13,4 Prozent. Fehlentscheidungen im ersten rot-roten Senat waren offensichtlich, doch eine gründliche Analyse blieb aus. Als Mangel erkannte die Berliner Partei, schreibt Wolf, dass es keine eigenen Schwerpunkte gegeben habe.
Deshalb nahm sie für die Fortsetzung der Koalition drei »Referenzprojekte« in Angriff: Einstieg in die Gemeinschaftsschule, Aufbau eines öffentlichen Beschäftigungssektors und Sanierung der öffentlichen Unternehmen statt ihrer Privatisierung.
Zu Beginn der Legislaturperiode gab es erste Erfolge. Harald Wolf schreibt, dass die SPD diese Entwicklung wie auch die guten Wahlergebnisse für die LINKE bei der Bundestagswahl 2009 von 20,2 Prozent in Berlin als bedrohlich wertete. Seitdem »begann die SPD zunehmend politische Erfolge unsererseits zu verhindern«. Sie blockierte beispielsweise eine Anpassung der Erstattung der Wohnkosten für Hartz-IV-Beziehende zur Vermeidung von Zwangsumzügen ebenso wie eine Erhöhung der Mindestlohnregelung im Vergabegesetz von 7,50 Euro auf 8,50 Euro. Nach Wolfs Meinung stellte die SPD damit »eine bisher existierende Grundlage einer erfolgreichen Koalition« infrage. Trotzdem verlor DIE LINKE bei der Abgeordnetenhauswahl 2011 mehr als die SPD: nochmals 4,6 Prozent, sie kam auf 11,7 Prozent. Auf Rot-Rot folgte ein rot-schwarzer Senat. Im September wird ein neues Abgeordnetenhaus gewählt.
Lehren für die Linke aus 10 Jahren Rot-Rot in Berlin
Harald Wolf weist darauf hin, dass Koalitionskompromisse, die von einer kleinen Gruppe ausgehandelt werden, zu Widersprüchen in und mit der Partei führen. Dies sei mit der Logik der Regierungsbeteiligung unvermeidlich verbunden und ziehe die Gefahr nach sich, dass die Parteiorganisation in Passivität und eine mürrische Duldung der Regierungsarbeit verfalle. Die Fähigkeit zur gesellschaftlichen Mobilisierung im außerparlamentarischen Raum werde geschwächt.
Harald Wolfs Buch versteht sich als ein Beitrag zur Debatte unter dem Motto: »Wir haben verstanden«. Seine Schlussfolgerungen sind jedoch umstritten. Landesvorsitzender Klaus Lederer und Fraktionschef Udo Wolf haben sich jüngst in Pressegesprächen für eine erneute Regierungsbeteiligung der LINKEN mit SPD und nun auch mit den Grünen ausgesprochen. Udo Wolf: »Wir sind uns einig, worin die Probleme der Stadt bestehen, und dass wir neue Ansätze brauchen, um sie zu lösen.« Er gehe sowohl mit Grünen als auch mit Sozialdemokraten regelmäßig Kaffee trinken. So leistet er der Partei einen Bärendienst.
Auch für Klaus Lederer ist DIE LINKE in Berlin »keine Protestpartei mehr«, weil sie in Berlin zehn Jahre lang regiert hat. Viele Wählerinnen und Wähler der LINKEN sind ins Nichtwählerlager abgewandert, weil DIE LINKE, wie Klaus Lederer einräumt, in den Augen dieser Menschen zu wenig für sie bewirken konnte. Im jetzt beginnenden Wahlkampf muss sich DIE LINKE davon befreien, ein Teil von »Kaffeerunden« und des politischen Farbenspiels möglicher Regierungskoalitionen zu sein. Das ist möglich. Viele Linke innerhalb und außerhalb der Partei sind dazu bereit.
Mit der AfD droht zudem in Berlin eine Partei ins Landesparlament einzuziehen, in der sich Nationalisten, Rassisten und Faschisten sammeln. Ihr gilt es durch eine konsequente antirassistische und soziale Politik den Boden zu entziehen. Das ist die Aufgabe der LINKEN und zugleich die Schlussfolgerung aus 10 Jahren Rot-Rot in Berlin.
Schlagwörter: Analyse, Artikel, Berlin, Debatte, DIE LINKE, Gregor Gysi, Harald Wolf, Klaus Lederer, Klaus Wowereit, Linke, marx21, PDS, Privatisierung, R2G, Regierungsbeteiligung, Rot-Rot, Wahlkampf, Wohnungsbau