Die Massenproteste in Belarus reißen nicht ab. Wir sprachen mit Volodymyr Artiukh über die Hintergründe des Aufstands, die Rolle der Arbeiterklasse, der belarussischen Linken und die Perspektiven der Bewegung
Volodymyr Artiukh ist marxistischer Soziologe und forscht zur politischen Ökonomie und der Arbeiterbewegung in den postsowjetischen Staaten. Er ist Redakteur des ukrainischen Magazins »Commons: Journal of social criticism«.
marx21: Zehntausende von Menschen gingen die letzten Monate in Belarus auf die Straße, trotz der Drohungen und Einschüchterungen von Präsident Aleksander Lukaschenka. Hat dich diese Protestwelle überrascht?
Volodymyr Artiukh: Mich haben Umfang, geografische Ausdehnung, Vielfalt und Ausdauer überrascht. Nicht überrascht hat mich aber, dass es passiert ist. Eine Massenmobilisierung dieses Ausmaßes hat es jetzt zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit von Belarus im Jahre 1991 gegeben, aber sie vereint mehrere Merkmale der vorangegangenen Protestwellen.
Inwiefern?
Die Geschichte der belarussischen Massendemonstrationen lässt sich in drei Perioden einteilen: die 1990er, die 2000er und die Zeit nach 2011. Die Proteste der 1990er Jahre zeichneten sich durch ihre Vielfalt aus. Es gab organisierte Arbeiterproteste, soziale Proteste und von politischen Parteien geförderte Demonstrationen. Sie entstammten der politisierten Atmosphäre der letzten Tage der Sowjetunion, als die antisowjetische Bewegung im Zeichen des Nationalismus und Wirtschaftsliberalismus viele Menschen anzog. Diese Welle setzte sich während der kurzen parlamentarischen Periode von 1991 bis 1994 und nach der Machtübernahme Lukaschenkas 1994 fort. Unter der Herrschaft Lukaschenkas [russisch auch Lukaschenko, Anm. der Red.] schrumpfte jedoch wegen des staatlichen Drucks das Ausmaß und die geographische Ausdehnung der Proteste. Die oppositionellen politischen Parteien spielten jetzt eine prominentere Rolle.
Was war in der zweiten Periode anders?
Die letzten großen sozialen Proteste fanden in den Jahren 1998 bis 2001 statt und wurden von dem Gewerkschaftsbund unterstützt, der bis 2002 in Opposition zu Lukaschenka stand. Danach, während der wirtschaftlich besseren 2000er Jahre, wurden die belarussischen Proteste weniger vielfältig, sie hingen zunehmend an nationalistischen Kalenderfeiertagen und Präsidentschaftswahlen. Sie wurden auch hauptsächlich von den politischen Oppositionsparteien organisiert, die keine Massenunterstützung hatten. Die kleinen Nischen, in welchen diese Parteien arbeiteten, und der zunehmende Druck des Staates führten zu kleineren Demonstrationen vor allem in Minsk.
Wann begann die dritte Phase?
Nach der Krise von 2011. Es gab eine Welle von wilden Streiks und Protesten bei Unternehmen, mehr spontane und dezentrale Demonstrationen, die sich weniger an dem ritualisierten nationalistischen Zeitplan ausrichteten. Die Oppositionsparteien waren nach der Niederlage und den anschließenden Repressionen nach den umstrittenen Präsidentschaftswahlen von 2010 demoralisiert.
Diese Phase gipfelte im Februar und März 2017 in den Protesten gegen das sogenannte Gesetz gegen »Sozialparasitismus«. Die sozialen Forderungen dieser Mobilisierungen richteten sich auch gegen die neoliberalen Reformen der belarussischen Regierung, gegen Sozialabbau, niedrigere Löhne und die Schließung von Unternehmen. Daher waren sie sozial vielfältiger, auf viele Provinzstädte und Gemeinden verteilt, weitgehend spontan und nicht von den traditionellen politischen Parteiführern dominiert. Diese Demonstrationen im Jahr 2017 gaben einen Vorgeschmack auf die Wahlproteste in diesem Jahr.
In welcher Hinsicht?
Erstens wich die traditionell enge nationalistische und liberale Agenda einem breiteren und umfassenderen Aufruf. Wie im Jahr 2017 betonen die heutigen Demonstrierenden, dass sie das »echte Volk« sind, das seine verdiente Anerkennung einfordert. Wie im Jahr 2017 ziehen die Proteste Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus allen Gesellschaftsschichten in allen Teilen des Landes an. Und wie schon damals haben traditionelle und sogar neue Politikerinnen und Politiker, die jetzt im Koordinierungsrat der Opposition vereint sind, die Masse der Protestierenden nicht unter Kontrolle. Die Koordination läuft über soziale Netzwerke und die Telegram-App, was zum Teil an den staatlichen Beschränkungen des Zugangs zu anderen Online-Ressourcen liegt. In den letzten Wochen hat sich die Koordination der Mobilisierungen jedoch auch auf Nachbarschaftsversammlungen und Plattformen verlagert.
Wer sind die Protestierenden?
Leider gibt es keine soziologische Forschung über das soziale Profil der Teilnehmenden. Es ist klar, dass es einen Kern von Protestierenden gibt, die in den vorangegangenen Phasen der Protestaktivität politisiert wurden: Anhänger der »traditionellen« Oppositionsparteien, in der Regel Akademikerinnen und Akademiker sowie NGOs. Aber sie scheinen in der Minderheit zu sein. Belarussische Analysen sprechen von der neuen Generation der »Ungeschlagenen«, der Jugend, die im letzten Jahrzehnt volljährig wurde und zuvor weitgehend unpolitisch war. Viele von ihnen arbeiten im staatlich geförderten IT-Sektor und im Dienstleistungssektor. Lukaschenkas eigene »soziologische« Analyse der Proteste sieht so aus: Es handele sich um Arbeitsmigranten und Händler, die aufgrund pandemiebedingter Restriktionen aus Russland und Polen nach Hause zurückkehren mussten und ihren Platz in Belarus nicht finden konnten. Es stimmt zwar, dass Kleinunternehmer und Wanderarbeiter und -arbeiterinnen traditionell unzufrieden mit der Regierung sind. Allerdings zeigten sich die Beschäftigten der staatlichen, meist industriellen Unternehmen in den Wochen nach der Wahl als das eigentliche Rückgrat der Proteste. Dies geschah zum ersten Mal seit den 1990er Jahren. Die soziale Bewegung der protestierenden Massen weitete sich wie eine Lawine aus, angefangen mit ersten Unterschriftensammlungen im Frühjahr über Wahlkundgebungen der Opposition während des gesamten Sommers, was es so bislang nicht gegeben hatte, bis schließlich zur Explosion nach der Terror-Kampagne der Polizei zwischen dem 9. und 11. August.
Woher kommt das neue Selbstbewusstsein der Arbeiterklasse in Belarus?
Ihr Selbstvertrauen ging von den Straßenprotesten aus, nicht von den Arbeitsplätzen, an welchen sie unter Vereinzelung und strenger Kontrolle durch das Managements leiden. Obwohl wir über Arbeitsunruhen als Teil des größeren Protests sprechen, protestiert die belarussische Arbeiterklasse als Bürgerinnen und Bürger und nicht als Arbeiterinnen und Arbeiter.
Woran liegt das?
Das ist ein zwiespältiger Prozess: Allein die Erfahrung, sich zu vereinigen und den Bossen die Stirn zu bieten, ist für die Arbeiterinnen und Arbeiter lebensnotwendig, um die Vereinzelung zu überwinden und Organisationserfahrung zu sammeln, aber gleichzeitig haben sie noch nicht gelernt, politische Forderungen mit einer breiteren sozialen Agenda zu verknüpfen.
Warum ist das System in Belarus in der Krise?
Im letzten Jahrzehnt stagnierte die belarussische Wirtschaft. Darüber hinaus schränkte die zunehmende imperialistische Rivalität auf globaler Ebene den Spielraum der belarussischen Regierung ein, die angesichts der Weltpolitik in den letzten Wochen vor der Wahl immer stärker ins Schwanken kam. Unter diesen Bedingungen scheinen die langsamen und kontrollierten Marktreformen, die die Regierung seit Jahrzehnten verfolgt, und die ich gerne als belarussische »Neo-Perestroika« bezeichne, nicht mehr durchführbar zu sein. Ein Teil der Bürokratie war wenig glücklich mit der Rolle des bloßen Managers, der von den Launen der oberen Ränge abhängt. Sie wollten selbst Eigentümer von Unternehmen werden. Der russische Staat schließlich ist nicht mehr bereit, Weißrussland zu bevorzugen. Das russische Kapital will sich die profitableren Unternehmen des Landes in den Bereichen Ölverarbeitung, Transport und Kalibergbau selbst aneignen. Die Arbeiterklasse erlebte stagnierende Löhne und einen schrumpfenden Industriesektor, dazu kamen prekäre Beschäftigungsbedingungen.
Welche Rolle spielen Streiks im Rahmen der Protestbewegung?
Statt Streik verwende ich lieber den Begriff Arbeitsunruhen. Diese waren eher symbolisch als materiell wirksam. In vielen der mehr als achtzig Unternehmen und Organisationen, deren Beschäftigte sich zu Protesten bereit erklärten, kam es nur zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen. Nun gibt es Berichte über »work-to-rule«-Aktionen (Dienst nach Vorschrift), aber es ist schwierig, ihren Umfang oder ihre Effizienz zu beurteilen. Die staatlichen Statistiken meldeten keinen auffallenden Produktionsrückgang in der Industrie im August, sind aber auch nicht zwingend zuverlässig. Die Industrieproduktion ist seit letztem Jahr rückläufig, aber dieser Trend ist eher auf systemische wirtschaftliche Probleme als auf Streiks zurückzuführen. Es gibt Berichte über einen erheblichen Produktionsrückgang in einigen Unternehmen wie dem Minsker Automobilwerk, wo es zu Störungen kam, aber auch das ist schwer zu beurteilen. Die symbolische Wirkung war jedoch wichtig. Es gab viele Anzeichen dafür, dass die Behörden Angst vor Massenstreiks hatten: Der erste Besuch Lukaschenkas nach der Wahl galt einem der Industriebetriebe, die Fahrzeuge für militärische Zwecke herstellen. Dort wurde er von den Arbeitern ausgepfiffen. Andererseits wurde die Arbeiterklasse zu einer Inspiration für die Demonstrierenden im Allgemeinen: Die Arbeiterinnen und Arbeiter wurden auf den Straßen als Helden empfangen, mit Transparenten und Sprechchören begrüßt und zu Gesprächen mit oppositionellen Medien eingeladen. Hierbei handelt es sich um eine Ausnahme in der Region. In keinem anderen osteuropäischen Land erlangten die Arbeiter und Arbeiterinnen ein solches symbolisches Prestige im allgemeinen Bewusstsein der Gesellschaft.
Die Auswirkungen der Krise und der sozialen Einschnitte schufen die Basis für die Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen Zustand. Gibt es aktuelle Forderungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, die darauf reagieren, oder konzentriert sich bisher alles auf Neuwahlen?
Die Kehrseite des allgemein populistisch-ideologischen Rahmens der Proteste ist, dass soziale und arbeitsbezogene Forderungen nur sporadisch zum Ausdruck kommen. Wie in den 1980er Jahren in Polen und in der Sowjetunion haben politische Forderungen Vorrang vor Brot-und-Butter-Themen. Im Gegensatz zu den Arbeiterprotesten in der späten Sowjetunion, als sich aus sozialen Forderungen politische Forderungen entwickelten, begannen die Arbeiterunruhen in Belarus unmittelbar politisch. Sie wurden von der Straße in die Fabriken getragen. Es gibt zwar Initiativen, soziale Forderungen in die Bewegung zu tragen, aber es ist noch unklar, wie erfolgreich diese sein werden.
Welche relevanten Oppositionskräfte gibt es zur Zeit? In den deutschen Medien steht vor allem die liberale Oppositionskandidatin Swjatlana Zichanouskaja im Rampenlicht.
Die wichtigsten Oppositionsführer befinden sich entweder im Gefängnis oder im Exil. Außerdem hat der Koordinierungsrat der Opposition selbst ein seltsames Verhältnis zu den protestierenden Massen. Seine Legitimität beruht eher auf Tradition als auf Demokratie. Der Rat wurde von den Wahlteams der Präsidentschaftskandidaten ins Leben gerufen, die bereits entweder im Gefängnis oder im Exil saßen, und Swjatlana Zichanouskaja präsentierte sich eher als eine Art Platzhalterin denn als politische Führerin. Die anderen Mitglieder des Rates wurden auf undurchsichtige Weise ohne eine Art »Vorwahlen« kooptiert. So genießen sie eher eine Art traditionelle Legitimation von Protestkandidaten als eine wirkliche Hegemonie im ursprünglichen Sinne des Wortes: moralische und intellektuelle Führung gepaart mit politischer Führung. Die Vertreter des Rates haben die Massen der Protestierenden nicht aktiv gelenkt, sie traten gelegentlich vor die Menge, um die Stimmung zu heben. Sie bestreiten selbst, ein kohärentes Programm politischer und sozialer Veränderungen zu haben. Natürlich mussten westliche Politiker jemanden finden, mit dem sie reden konnten, nachdem Lukaschenka den letzten Rest von Anerkennung verloren hatte, aber ich denke, dass die Beachtung, die Zichanouskaja durch den Westen erhält, eine symbolische Geste ohne ernsthafte politische Konsequenzen ist.
Welche Ziele verfolgt die liberale Opposition?
Als Ziel nennen sie Neuwahlen. Im Grunde gibt es keinen anderen klaren Plan. Es wäre übertrieben zu behaupten, die Opposition hätte ein liberales Entscheidungszentrum. Es gibt vielmehr verschiedene liberale Intellektuelle, von knallharten Marktfundamentalisten bis hin zu rechten Sozialdemokraten. Sie betonen die Ineffizienz staatseigener Unternehmen, die Notwendigkeit von Marktreformen und die so genannte wirtschaftliche Freiheit. Das kann man aber auch sehr oft von belarussischen Staatsbeamten hören.
Gibt es auch eine prorussische Opposition, und wenn ja, welches Programm vertritt diese?
Ich würde nicht sagen, dass es einen stark pro- oder antirussischen Flügel der Opposition gibt. Die Möchtegern-Führer der belarussischen Proteste behaupten alle, dass sie nichts gegen die Russen haben und zur Zusammenarbeit bereit sind. Diejenigen unter ihnen, die Verbindungen zu Russland haben, wie der inhaftierte Ex-Banker Babaryka, haben keine Unterstützung von Russlands obersten Entscheidungsträgern erhalten, so dass ihre Hoffnungen auf politische und wirtschaftliche Unterstützung durch Russland gedämpft sind. Ich glaube, Russland nimmt keinen von ihnen ernst.
Wie verhält sich Russland bisher im Konflikt?
Anfangs schienen russische Politiker und Medien durch die Ereignisse in Belarus orientierungslos. Aber zwei oder drei Wochen nach den Protesten haben sie sich entschlossen, Lukaschenka an der Macht zu halten. Über die Art dieser Unterstützung können wir nur spekulieren.
Welches weitere Vorgehen erwartest du von russischer Seite?
Russland wird versuchen, die Dinge so zu belassen, wie sie jetzt sind, da Lukaschenka geschwächt und vom Kreml abhängig ist, ihn aber gleichzeitig dazu drängen, Russland so viele wirtschaftliche und politische Zugeständnisse wie möglich zu machen. Dazu gehört wahrscheinlich auch eine Schwächung der präsidialen Macht in Minsk und die Einführung pro-russischer politischer Kräfte als relativ unabhängige Akteure in Belarus.
Wie steht es um die Linke in Belarus?
Die Linke in Belarus ist nicht sehr groß und organisatorisch schwach. Grob skizziert gibt es eine ehemalige kommunistische Partei, die jetzt »Gerechte Welt« heißt und gegen Lukaschenka ist. Sie hat mit der traditionellen Opposition zusammengearbeitet und den Wahlbetrug und die Polizeigewalt verurteilt. Sie arbeitet auch mit einer kleinen Metallarbeitergewerkschaft zusammen. Die belarussischen Grünen haben einen linken Flügel, von denen einige ebenfalls an den Protesten teilnahmen. Auf der einen Seite versuchen sie die Behörden und die liberalen Oppositionsführer zu kritisieren und andererseits, die Demonstrierenden zu aktivieren. Unter den traditionellen Oppositionsparteien gibt es Sozialdemokraten, aber sie neigen weitgehend dazu, liberale Mainstream-Ansichten zu akzeptieren. Es gibt auch informelle linke Gruppen, die vor allem in sozialen Medien und auf Youtube aktiv sind. Ihre Hauptkritik richtet sich gegen die liberalen und nationalistischen Züge des Protests. Sie weisen oft auf die Maidan-Proteste in der Ukraine hin und befürchten ähnliche Entwicklungen in Belarus.
Glaubst du, dass sich durch die Arbeitsunruhen eine neue Arbeiterinnenbewegung in Belarus entwickeln wird, und siehst du Chancen für die Linke durch den Konflikt stärker zu werden?
Chancen dafür gibt es auf jeden Fall. Die Politisierung, die die Arbeiterinnen und Arbeiter von der Straße in die Fabriken brachten, ihre Erfahrung, sich gegen die Chefs zu behaupten, die Erfahrung von Solidarität und Selbstorganisation werden nicht einfach verschwinden. Ein großer Teil der Arbeiter und Arbeiterinnen aller großen Unternehmen durchlebte diesen Moment der Politisierung, der Verwirklichung ihrer Kollektivität und ihres Widerstands gegen ihre Chefs. Diese ganze Proteststimmung wurde zwar brutal unterdrückt, aber die Widersprüche des belarussischen Staatskapitalismus werden nicht verschwinden, sondern sich noch verschärfen.
Warum bist du da so sicher?
Die belarussische Arbeiterklasse wird jetzt nicht nur von der globalen Wirtschaftsrezession, sondern auch vom russischen Kapital bedrängt. Einerseits wird sich die prekäre Lage der Arbeiterinnen und Arbeiter verschärfen: Die Löhne werden nicht steigen, die Unternehmen werden langsam an russische Kapitalisten verkauft, »optimiert« oder geschlossen. Die bürokratische Kontrolle über die Arbeitsplätze wird noch mehr zunehmen und die staatsnahen Gewerkschaften werden nicht in der Lage sein, die Unzufriedenheit der Arbeiter zu kanalisieren. Diese Kombination aus neu gewonnener Politisierungs- und Organisationserfahrung der Beschäftigten und der sich verschlechternden wirtschaftlichen Lage kann zu neuen Wellen von Arbeitsunruhen führen, die dann vielleicht stärker unabhängig von größeren politischen Protesten sind.
Welche Hindernisse müsste diese neue Bewegung überwinden?
Das Haupthindernis ist der bürokratische Despotismus an den Arbeitsplätzen auf der einen Seite und der Mangel an unabhängigen Organisationen zur Formulierung einer autonomen Agenda der Arbeiterklasse auf der anderen Seite. Seit 2004 hat der Staat nach dem Widerstand der Gewerkschaften und der Androhung von Streiks ein einzigartiges System der Arbeitskontrolle entwickelt, das die Solidarität der Arbeiterinnen und Arbeiter präventiv bricht, sie vereinzelt und direkt abhängig vom Management macht.
Was ist das für ein System?
Es handelt sich dabei um eine Art Erweiterung der autoritären Kontrolle, unter der der bürokratische Apparat selbst leidet. Dies wird durch ein System befristeter Arbeitsverträge möglich, das der Unternehmensleitung erlaubt, Arbeiterinnen und Arbeiter ohne jegliche Entschädigung zu entlassen, sie aber andererseits daran zu hindern, ihren Arbeitsplatz zu verlassen, wenn sie es möchten. Gleichzeitig wird die Arbeitslosigkeit durch das »Gesetz gegen Sozialparasitismus« unter Strafe gestellt, während die Arbeitslosenunterstützung miserabel ist. Bei der Beschäftigung geht es also nicht nur um Ausbeutung, sondern auch um soziale Kontrolle durch eine Kombination aus Prekarität und Mobilitätsverbot. Sogar die traditionelle postsozialistische Informalität kommt dem Management zugute und stärkt nicht die Autonomie der Arbeiter und Arbeiterinnen, wie es zu Sowjetzeiten noch der Fall war. Daher würde ich sagen, dass das belarussische Fabrikregime das Schlimmste aus der sowjetischen Vergangenheit und der westlichen kapitalistischen Gegenwart in sich vereinigt. Dies alles geht einher mit einem Mangel an autonomen Organisationsformen.
Welche Rolle spielen die Gewerkschaften aktuell?
Das größte Gewerkschaftsorgan, der Belarussische Gewerkschaftsbund, der so gut wie alle Beschäftigten des Landes umfasst, ist praktisch zu einem Ableger der Staatsbürokratie geworden, seit er 2002 von der Präsidialverwaltung kooptiert wurde. Während der damaligen Wahlen war der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes auch für den Wahlkampf Lukaschenkas verantwortlich. Die Gewerkschaften des Gewerkschaftsbundes reagieren aber etwas stärker auf den Druck der einfachen Mitglieder als die Staatsbürokratie. Dies zeigte sich während der ersten Tage der Proteste im August. Einige lokale Gewerkschaftsorganisationen unterzeichneten Petitionen gegen Wahlbetrug und Polizeigewalt. Aber da der Gewerkschaftsbund für den Staat von entscheidender Bedeutung ist, um die Stimmung der Arbeiterinnen und Arbeiter einigermaßen zu beurteilen oder zu beschwichtigen – der Gewerkschaftsbund als eine Art linke Hand des Staatsapparates –, wird er unter direkter Kontrolle der Präsidialverwaltung gehalten.
Gibt es eine Alternative?
Die Gewerkschaften, die nicht vom Staat kontrolliert werden – die »Freien« und »Unabhängigen«, wie sie sich selbst nennen – haben nicht viele Mitglieder und es mangelt ihnen an Ressourcen. Die größte unabhängige Gewerkschaft hat als Kern die Bergarbeitergewerkschaft. Diese hat, was bis auf das Jahr 1991 zurückgeht, ihre Hochburg in den Kalibergwerken von Salihorsk und soll rund 6000 Mitglieder haben. Sie war am aktivsten und erfolgreichsten bei der Organisation eines ordentlichen Streiks am 17. August 2020, wobei mehrere Kalibergwerke für mehrere Tage stillgelegt wurden, aber sie trug auch die Hauptlast der staatlichen Repressionen. Viele ihrer Mitglieder wurden verhaftet und eingesperrt, einige verließen das Land. Andere unabhängige Gewerkschaften haben deutlich weniger Mitglieder und keine nennenswerte Präsenz in den Betrieben. Sie ähneln eher NGOs, die Rechtshilfe anbieten. Viele Streikkomitees traten während der Arbeitsunruhen in Erscheinung, aber sie sind geheim und sehr anfällig für staatliche Repressionen. Gegenwärtig versucht der Koordinierungsrat der Opposition, die Arbeiterorganisationen einzubeziehen und ihnen organisatorische und materielle Unterstützung zu bieten. Angesichts der Schwäche dieses Gremiums und seines marktorientierten, unternehmerischen Ansatzes in Arbeitsfragen halte ich dies jedoch nicht für einen Weg, den die belarussische Arbeiterbewegung einschlagen sollte.
Welchen Weg denn dann?
Bislang wurde keine autonome Arbeitsagenda formuliert, die sich mit den genannten Fragen befasst. Es gibt im Grunde keine kohärente marxistische Analyse des belarussischen Staatskapitalismus und seines politischen Überbaus, die auch den Klassenkampf in dieser Situation erklären würde. Ohne diese Analyse kann es aber kein politisches Programm der Linken geben, das im bürokratischen Staatskapitalismus den Weg zum Klassenkampf zeigen und klassenbasierte Forderungen und Taktiken zur Schaffung von Arbeiterkontrolle über die Betriebe entwickeln könnte. Überraschenderweise ignorieren die belarussischen linken Intellektuellen diesen Elefanten im Raum weitgehend, entweder aus Mangel an einer klaren Vorstellung über das Wesen des belarussischen Staates oder aufgrund der mechanischen Anwendung von Klassenschemata, die für die westlichen kapitalistischen Staaten entwickelt wurden.
Was erwartet die Linke in Belarus von Genossinnen und Genossen in anderen Ländern?
Ich kann nicht im Namen der belarussischen Linken sprechen, aber ich kann auf der Grundlage meiner Informationen und meiner Erinnerungen an die Situation in der Ukraine im Jahr 2014, als die ukrainische Linke über die Haltung zu den Maidan-Protesten zunehmend gespalten war, einige Ratschläge geben. Dies ist keine völlig analoge Situation, aber es gibt einige Lektionen, die die internationale Linke lernen sollte. Zunächst einmal würde ich der internationalen Linken dringend raten, den Campismus, also das Denken im Ost-West-Gegensatz, und vereinfachende »geopolitische« Illusionen aufzugeben und sich stattdessen auf eine konkrete, klassenbasierte Analyse der Situation in Belarus, einschließlich des internationalen Umfelds, einzulassen. Mit vereinfachenden Verschwörungstheorien über die Einmischung des Westens oder Russlands tut man der fortschrittlichen Sache keinen Gefallen. Überlegungen über die aktuelle Lage in Belarus müssen die Stimmen aus dem Land selbst berücksichtigen, aber auch mit kritischer Distanz. Ich möchte vor schnellen Erklärungen und lauten Proklamationen warnen, die womöglich die Verwirrung in der belarussischen linken Bewegung nur noch vergrößern. Wie es schon im Fall der Ukraine vor sechs Jahren notwendig war, sollte auch jetzt die internationale Linke der belarussischen Linken Raum und materielle und intellektuelle Ressourcen bieten, um eine konkrete Analyse der Situation und eine nüchterne politischen Bewertung zu entwickeln. Zudem sollte die internationale Linke Personen, die unter staatlicher Verfolgung leiden, konkrete materielle Hilfe bieten.
Vielen Dank für das Gespräch.
Die Fragen stellte Daniel Urbach.
Foto: Максим Шикунец
Schlagwörter: Belarus, Russland