Mit über 100.000 gesammelten Unterschriften hat das Volksbegehren »Stoppt den Pflegenotstand an Bayerns Krankenhäusern« viermal so viele eingereicht wie nötig. Aurélie Mattmüller erklärt, warum die Resonanz so groß war
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marx21: Was soll mit dem Volksbegehren erreicht werden?
Aurélie Mattmüller: Mit dem Volksbegehren wollen wir die Versorgungsqualität in den bayerischen Krankenhäusern verbessern. Momentan gibt es keine gesetzliche Regelung dafür, wie viele Pflegekräfte auf einer Station angestellt sein müssen, damit eine gute Pflege gewährleistet werden kann. Das wollen wir ändern.
Warum ist das wichtig?
Für die Qualität der Versorgung der Patientinnen und Patienten im Krankenhaus ist die Frage der Personalausstattung entscheidend. In Bayerns Krankenhäusern fehlen zur Zeit 12.000 Pflegestellen. Wir wollen eine Personalausstattung, die sich nicht an ökonomischen Kennzahlen, sondern am Bedarf der Patientinnen und Patienten bemisst.
Wie ist das Pflegekraft-Patienten-Verhältnis zur Zeit?
Die Situation ist mehr als prekär: In deutschen Krankenhäusern betreut eine Pflegekraft im Schnitt 13 Patienten. Damit ist das Pflegekraft-Patientenverhältnis eines der schlechtesten im europäischen Vergleich. In Norwegen sind es zum Beispiel nur 5 Patienten, in den Niederlanden 7, in Griechenland 10 pro Pflegekraft.
Wie sieht es bei den Nachtschichten aus?
Noch schlimmer! Bei einer bundesweit erhobenen Stichprobe der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) kam heraus, dass in mehr als der Hälfte aller Fälle (55 Prozent) eine Pflegekraft allein 25 Patienten betreuen muss. Uns haben aber auch schon Kolleginnen und Kollegen berichtet, dass sie nachts teilweise für rund 40 Betten zuständig sind.
Wer macht bei der Kampagne mit?
Alle, die sich vom Thema Pflege angesprochen fühlen. Das sind vor allem Pflegekräfte, aber natürlich auch Patientinnen und Patienten oder Angehörige, die die Unterversorgung auf Stationen am eigenen Leib erfahren.
Welche Organisationen unterstützen euch?
Bei den Bündnispartnern ist vom Bundespflegeverband bis hin zur trotzkistischen Kleingruppe alles dabei. Der Kreis der Initiatoren besteht aus Vertretern von LINKEN, Grünen und SPD, sowie Gewerkschafts-, Pflege- und Patientenvertretern. Besonders aktiv sind die LINKE und ver.di.
Was sind eure bisherigen Erfahrungen?
Die Resonanz ist sehr groß, vor allem bei Sammelaktionen auf den Straßen. Die Menschen freuen sich, dass es jetzt endlich ein handfestes Mittel gibt, mit dem sie sich konkret für das Thema Pflege einsetzen können.
Wie war die Stimmung unter den Belegschaften in Krankenhäusern?
Dort ist die Stimmung ganz unterschiedlich. Viele haben die Initiative begeistert aufgegriffen, anderen geht das Volksbegehren nicht weit genug. Sie wünschen sich das ganze Krankenhausfinanzierungssystem anzugehen, um die fortschreitende Kapitalisierung der Pflege zu bekämpfen. Viele Pflegekräfte sind jedoch schlichtweg zu überlastet, um sich zu engagieren oder wollen für ein so ehrgeiziges Projekt keinen Konflikt mit der Stationsleitung eingehen.
Warum ist die Situation an den Krankenhäusern so schlecht?
Diese Situation ist kein Unfall, sondern das Produkt neoliberaler Versorgungslogik.
Kannst du das genauer erklären?
Es ist erst seit 1985 überhaupt erlaubt, mit Krankenhäusern Profite zu machen. Zuvor wurden Krankenhäuser weitestgehend kostendeckend finanziert. Durch politische Entscheidungen erhielt Stück für Stück der Markt Einzug in das Gesundheitswesen. Damit stellte sich im Management der Krankenhäuser die Profitorientierung vor das Interesse am Patientenwohl.
Wer ist dafür verantwortlich?
In den letzten Jahrzehnten haben alle Bundesregierungen an dieser neoliberalen Politik festgehalten oder sie sogar noch verschärft.
Inwiefern?
Unter der rot-grünen Bundesregierung 1998-2005 wurden die DRG-Fallpauschalen eingeführt. Seitdem stehen Krankenhäuser unter ständigem finanziellen Druck. Statt Patientinnen und Patienten bis zur Genesung zu versorgen, wird nun jeder Diagnose die entsprechende Fallpauschale zugeordnet – also mehr oder weniger ein Preisschild für die Kosten einer Krankheit.
Was waren die Folgen?
Überall wurden seit der Umstellung der Krankenhausfinanzierung auf Fallpauschalen Stellen abgebaut, um mit geringeren Kosten möglichst viel Gewinn zu machen. Die Qualität der Krankenversorgung und die Arbeitsbedingungen von Pflegekräften haben sich dadurch massiv verschlechtert.
Der Pflegenotstand ist kein Unfall
Der Fachkräftemangel, den die Regierung heute betrauert, ist die Folge notorischer Unterbezahlung eines extrem anstrengenden Berufs. Das Krankenhaus ist längst zu einer Fabrik geworden.
Was ist eine Alternative zu den DRG-Fallpauschalen?
Eine wirkliche Alternative wäre zunächst einmal die Verstaatlichung der Krankenversorgung, damit der Konkurrenzdruck und die Profitlogik aus unserem Gesundheitssystem verschwindet. Auf Finanzierungsseite müssten die Abschaffung der privaten Krankenversicherung und ein einkommensbezogener Kassenbeitrag durchgesetzt werden, damit wir alle gleich gut versorgt werden. Und natürlich ein flächendeckender Tarifvertrag für die Pflegekräfte.
Wie kann das erreicht werden?
Ohne außerparlamentarischen Druck wird sich gar nichts bewegen. Auch bessere Arbeitsbedingungen sind fast immer Resultat von Arbeitskämpfen. Diese wurden traditionell eher im industriellen Bereich geführt, im Pflegebereich müssen da einfach noch gemeinsame Erfahrungen stattfinden. Seit letztem Jahr sind jedoch Auseinandersetzungen geführt worden, die vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen wären – wie beispielsweise an der Charité in Berlin. Wenn der betriebliche und gewerkschaftliche Organisierungsgrad in Krankenhäusern sich auf lange Sicht erhöht, können die Pflegekräfte vielleicht bald für mehr kämpfen als nur personelle Entlastung.
Woher soll das Geld für zusätzliche Pflegestellen kommen?
Es wird ja auf Seiten der DRG-Befürworter immer von erhöhter Wirtschaftlichkeit gesprochen. Wenn man sich die Zahlen der Krankenkassen anschaut, spart uns das DRG-System faktisch aber gar keine Kosten ein. Das Geld, das in Privatkliniken jetzt in die Taschen der Investoren wandert, sollte in neue Stellen und bessere Löhne der Pflegekräfte investiert werden.
Wie viele Unterschriften braucht ihr?
Wir brauchen in der ersten Phase 25.000 Unterschriften, damit das Volksbegehren überhaupt zugelassen wird. Wenn wir mit den über 100.000 eingereichten Unterschriften die rechtliche Prüfung überstehen, müssen zehn Prozent der Wahlberechtigten in Bayern in die Rathäuser mobilisiert werden, um dort für die Übernahme des Gesetzestextes zu unterschreiben, damit es der Gesetzesentwurf in den Landtag schafft. Das sind in Bayern circa 900.000 Menschen.
Wie geht es nach der Landtagswahl weiter?
Wir haben die gesammelten Listen extra eine Woche vor den Wahlen abgegeben, um nochmal ein Zeichen gegen die sozialen Missstände in Bayern zu setzen, bevor es am 14. Oktober in die Wahlkabinen geht. Wenn wir die Unterschriften gesammelt haben und erfolgreich sind, müssen wir diskutieren, wie wir weiter strategisch vorgehen. Wenn es beispielsweise zu einer schwarz-grünen Koalition kommen sollte, wird das Volksbegehren natürlich als Druck von links auf die Grünen wirken. Mir ist es wichtig, neben der Umsetzung des Personalschlüssels auch die außerparlamentarische Organisierung in der Bewegung rund um das Volksbegehren voranzutreiben.
Zur Person:
Aurélie Mattmüller ist Politikwissenschaftlerin mit Fokus Nahoststudien und interessiert sich für soziale Kämpfe von Ramallah bis München. Seit Ende August unterstützt sie den Initiatorinnenkreis des Volksbegehrens »Stoppt den Pflegenotstand an Bayerns Krankenhäusern« mit Presse- und Social-Media-Arbeit.
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Volksbegehren »Stoppt den Pflegenotstand«
Schlagwörter: Bayern, Inland, Krankenhaus, Pflege, Pflegenotstand, Volksbegehren