Er war seiner Zeit voraus und eckte deshalb an. Jetzt ist der sozialistische Satiriker und Kritiker Rudolf Franz wiederentdeckt worden. Von Ralf Hoffrogge.
Fast vergessen starb im Oktober 1956 in Leipzig der Literaturkritiker Rudolf Franz. Kein Nachruf rief den Zeitgenossinnen und Zeitgenossen sein Leben in Erinnerung. Obwohl Hermann Duncker, KPD-Mitbegründer und später Hochschulleiter in der DDR, den über Siebzigjährigen schon 1953 als »lebendiges Geschichtsbuch der deutschen Arbeiterbewegung« empfahl, hatte sich niemand die Mühe gemacht, Franz‘ Erinnerungen aufzuschreiben oder seine Sammlung von Schriften und Dokumenten der Bewegung zu sortieren.
Rudolf Franz, der schon vor 1914 im Freundeskreis der »Eisbrecher« mit den Gründungsmitgliedern der Spartakusgruppe in kalten Wintern bei heißen Getränken die Fraktionskämpfe der alten Sozialdemokratie diskutiert hatte, in der Weimarer Republik als einer der wichtigsten marxistischen Literatur- und Theaterkritiker hervortrat und eigene Erfolge als Autor bissiger Satiren vorzuweisen hatte, konnte in der DDR kaum noch veröffentlichen. Gleich fünf Manuskripte wurden in seinen letzten Lebensjahren abgelehnt. Nicht einmal seine Leserbriefe an Zeitungen wurden gedruckt – frustriert und zermürbt vernichtete Franz viele seiner Schriften, darunter das Archiv von über tausend Theaterkritiken aus mehreren Jahrzehnten.
Perlen politischer Satire
Der Großteil seines Werks blieb jedoch erhalten, einige »Leseproben« hat der Historiker Gerhard Engel seiner jüngst erschienenen Biographie von Rudolf Franz beigefügt. Nicht nur aufgrund des Nachdrucks einiger Perlen politischer Satire ist das Buch lesenswert.
Denn Franz‘ Lebensweg ist ein Beispiel für die Brüche in der wechselhaften Geschichte des deutschen Sozialismus und Kommunismus, an denen stets auch Menschen zu Bruch gingen. Sie ist ebenso ein Dokument darüber, wie die Deutsche Demokratische Republik an ihrem Anspruch scheiterte, die Ziele der deutschen Arbeiterbewegung umzusetzen. Sie brachte den Arbeiterinnen und Arbeitern in ihrem Machtbereich die Befreiung von sozialer Not, wenn auch die »soziale Frage« bei Wohnungen und Konsumgütern nicht gelöst wurde. Vor allem aber brachte die DDR nicht jene geistige Befreiung und schöpferische Aneignung des kulturellen Erbes vergangener Jahrhunderte, für die sich Rudolf Franz stets eingesetzt hatte.
Bezug auf Alltagserfahrungen
Im Jahr 1882 geboren und aus dem Bürgertum stammend, hatte er sich bereits im Studium politisiert. Franz promovierte 1907 über den Dramatiker Henrik Ibsen und stellte seine Qualitäten als Literatur- und Theaterkritiker in den Dienst der sozialdemokratischen Presse – wohl wissend, dass er damit nicht nur mit seiner Familie brach, sondern sich auch eine Karriere in den Universitäten des Kaiserreiches versperrte. Denn dort durfte seit der »Lex Arons« von 1898 nicht einmal mehr ein gemäßigt sozialdemokratischer Physiker lehren: Sozialistinnen und Sozialisten waren vom Staatsdienst kategorisch ausgeschlossen, insbesondere in den höheren Bildungsanstalten. Umso wichtiger war das Ringen um eine eigene Bildungskultur der proletarischen Bewegung.
Franz, dem als Akademiker in der Arbeiterbewegung durchaus mit Misstrauen begegnet wurde, musste sich lange als freischaffender Journalist durchschlagen. Mehrfach blieb ihm eine Festanstellung als Redakteur verwehrt. Dennoch gelang es ihm durch seine Beiträge, die Theaterkritik der sozialdemokratischen Presse auf ein neues Niveau zu heben. Franz schuf einen Typ von Besprechung, der die Inhalte der Stücke mit den sozialen Verhältnissen abglich. Durch den Bezug auf Alltagserfahrungen machte er die Kritiken auch für jene Arbeiterinnen und Arbeiter interessant, die sich den Eintritt für das Theater nicht leisten konnten – damals die Mehrheit.
Franz vertrat mit seinen Interventionen energisch die Forderung, das Proletariat müsse sich die bürgerliche Kultur kritisch aneignen. Er nahm damit Positionen vorweg, wie sie Jahrzehnte später etwa Peter Weiss in seiner »Ästhetik des Widerstands« vertrat: Die antike und bürgerliche Kunst ist mehr als Klassenkunst und Ideologie der Herrschenden. Sie verkörpert in ihren großen Werken auch ein Unbehagen – etwas, das Herbert Marcuse 1964 in seinem Werk »Der eindimensionale Mensch« als »Künstlerische Entfremdung« bezeichnete: »Sie bringt die Bilder von Zuständen hervor, die mit dem bestehenden Realitätsprinzip unvereinbar sind, die aber als Bilder der Kultur erträglich, ja erhebend und nützlich werden.« Marcuse sah diese Funktion der Kunst zwar im Spätkapitalismus am Aussterben, doch in der Hochphase der bürgerlichen Gesellschaft sei sie wirksam gewesen.
Kritiker der agitatorischen »Tendenzkunst«
Rudolf Franz kann als ein Vorläufer der Idee gelten, dass die ästhetischen Ideale und Errungenschaften der Kunst einen Gegensatz zur profanen gesellschaftlichen Realität bilden. Nach dieser Auffassung verkörpern sie etwas allgemein Menschliches und tragen deshalb potenziell eine Utopie der Gleichheit in sich.
Die Idee einer Aneignung oder »Aufhebung« der Kunst vergangener Jahrhunderte bedeutete für Franz, heftige Kritik an einer rein agitatorischen »Tendenzkunst« zu üben. Diese vernachlässige die ästhetische Form zugunsten einer sozialistischen Moral. Kunst als bloße Erziehung, die im Grunde der Vermittlung politischer Losungen von der Führung ans Parteivolk diente, konnte Franz nicht gutheißen. Aber auch dem Kunstgeschmack der Basis huldigte er nicht unhinterfragt. Er kritisierte etwa die zeitgenössischen Arbeiterlieder mit ihren zahlreichen Metaphern von Krieg, Kampf und Opfertod als militaristisch. Franz forderte stattdessen eine Entmilitarisierung der Sprache sowie eine neue proletarische Lyrik – ein Auftrag, der erst in der Weimarer Republik von Künstlern wie Bertolt Brecht und Hanns Eisler kongenial umgesetzt wurde.
Rudolf Franz gehörte stets dem linken Flügel der Partei an und wurde wegen seiner kritischen Ansichten lange aus der Redaktion der sozialdemokratischen »Bremer Bürgerzeitung« herausgehalten. Erst 1910 bekam er eine feste Stelle als Redakteur. Im ersten Weltkrieg wirkte er im Umfeld der Bremer Linksradikalen, die die Kriegspolitik der Sozialdemokratie radikal ablehnten. Aber auch der Spartakusgruppe stand er nahe. Konsequenterweise trat er 1917 in die USPD als Partei der Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner ein, später in die KPD. Für einige Monate gestaltete Franz das Feuilleton der »Roten Fahne«, anschließend der »Sächsischen Arbeiterzeitung«. In jener Zeit beschäftigte er sich mit dem aufkommenden amerikanischen Kino. Franz bewunderte dessen technische und dramatische Perfektion, die das Publikum in den Bann zog – für ihn eine existenzbedrohende Gefahr für den klassischen Theaterbetrieb. Er erkannte den beträchtlichen »mentalen Einfluss« der Filme, die jedoch durch ihre »Gefühlsduselei« in der Behandlung sozialer Konflikte letztlich Illusionen von Harmonie verbreiteten. Dabei erinnern Franz‘ Ausführungen sehr an die spätere Kritik Bertolt Brechts an der »Überwältigung« des Publikums im Hollywoodkino, das gerade nicht die eigene Reflexion des Gesehenen, sondern die unkritische Identifikation zum Ziel habe. Ein Mechanismus, der im Blockbusterkino bis heute Produktionsschema ist.
Mitglied der SED
Franz, der seine Reflexionsfähigkeit nicht auf die Kunst beschränkte, musste anecken in einer KPD, die nach zahlreichen Richtungskämpfen im Zuge der »Bolschewisierung« um das Jahr 1925 zunehmend autoritär geführt wurde und später durch den Prozess der Stalinisierung ihre politische Eigenständigkeit verlor. Er wurde 1926 aus der Partei ausgeschlossen und überlebte mehr schlecht als recht als Sachbearbeiter in einem kommunalen Fürsorgeamt, wo er von 1930 bis 1933 arbeitete. Als Marxist aus dem Staatsdienst entlassen, verbrachte Franz anders als viele ehemalige Genossinnen und Genossen nur einige Tage in Haft. Er konnte als Korrekturleser und Mitarbeiter eines Antiquariats die NS-Zeit »überwintern«.
Im Jahr der Befreiung 1945 trat Franz wieder in die KPD ein, wirkte als Aktivist der ersten Stunde in einem der selbstorganisierten Antifa-Ausschüsse und wurde 1946 Mitglied der SED. Der geistige Neuanfang im vom NS-Regime nicht nur materiell verwüsteten Deutschland war ihm eine Berufung – mit einer Stelle als Mitarbeiter im Kunstamt der Stadt Leipzig wurde auch ein Beruf daraus. Doch konnte Franz dort, trotz seiner allgemein anerkannten überragenden Kenntnisse, nicht frei wirken. Die von ihm eingeforderten inhaltlichen Diskussionen, etwa anlässlich der Leipziger Goethefeier im Jahr 1949, fanden nicht statt. Aus Rücksicht auf das Bündnis mit den bürgerlichen »Blockparteien« LDP und CDU, die in der Anfangszeit der DDR noch sehr eigenständig agieren konnten, würgten die Verantwortlichen eine kritische Debatte über das Verhältnis von bürgerlicher und sozialistischer Kultur ab.
Rudolf Franz gab daraufhin seinen Posten auf. Auch in den letzten sieben Jahren seines Lebens fand er keinen Wirkungskreis. Eine offene und kontroverse Diskussion über die Rolle der Kultur im antifaschistischen Neubeginn war schon in der jungen DDR problematisch. Auch und gerade auf diesem Gebiet wurde ein Neuanfang verpasst. Zumindest im Hauptstrom staatlicher Propaganda siegte jene auf Agitation und Überredung zielende Tendenzkunst, die Franz schon im Kaiserreich kritisiert hatte.
Franz‘ Biographie, die Gerhard Engel durch die Regimes Kaiserreich, Weimarer Republik, Nationalsozialismus und DDR hindurch nachgezeichnet hat, erzählt mehr als die übliche »Liniengeschichte« mit den aus anderen Biographien und Gesamtdarstellungen sattsam bekannten Brüchen und Zäsuren der Parteipolitik. Themen wie Ästhetik oder die Spannung zwischen bürgerlichem Erbe und sozialistischer Kultur, Reflexionen über die Rolle des Intellektuellen in einer proletarischen Bewegung, über die gesellschaftliche Rolle des Theaters gehen über die historische Kommunismusforschung hinaus. Das macht Engels Buch auch zu einem Kommentar über Fragen, die in der Literatur- und Theaterwissenschaft, vor allem aber von gesellschaftskritischen Künstlerinnen und Künstlern jeder Generation aufs Neue diskutiert werden. Es bleibt zu hoffen, dass dort, wo der Historiker Engel sich »Zurückhaltung auferlegt« und nicht in der Literaturwissenschaft wildern möchte, andere diese Aufgabe aufgreifen.
Weiterlesen: Gerhard Engel: Dr. Rudolf Franz 1882-1956. Zwischen allen Stühlen – Ein Leben in der Arbeiterbewegung, edition bodoni, Berlin 2013, 206 Seiten, 18 Euro.
Foto: blu-news.org
Schlagwörter: DDR, KPD, Sozialismus