Die Proteste des 17. Juni 1953 waren für die SED-Führung ein vom Westen gesteuerter »faschistischer Putsch«. In der Bundesrepublik hingegen wurde die Erhebung als »Volksaufstand für die deutsche Einheit« gefeiert. Beide Interpretationen verfälschen den Charakter des Aufstandes. Von Bernd Gehrke
Der Aufstand des 17. Juni 1953 wurde vor allem durch die Industriearbeiterschaft in den Zentren der alten Arbeiterbewegung Mitteldeutschlands geprägt. Die Großbetriebe waren der Ausgangspunkt, der Motor und das Zentrum der Ereignisse. Im Gegensatz zu den medial vermittelten Bildern, die von den Reichweiten westlicher Kameras beeinflusst waren, ging zwar von Berlin die Initialzündung aus, doch hatte der Aufstand seine Höhepunkte und radikalsten Entwicklungen im mitteldeutschen Industriegebiet sowie in Ostsachsen.
Diese Deutung belegen die DDR-Akten, die seit 1990 zugänglich sind. Sie bestätigen und bereichern das Gesamtbild des 17. Juni, das die Journalisten Klaus Harpprecht und Klaus Bölling schon 1954 in »Der Aufstand« sehr anschaulich beschrieben und das der Historiker Arnulf Baring 1957 innerhalb der akademischen Zunft zuerst analysiert hatte.
Politischer Massenstreik
Magdeburg, Halle, Merseburg, Bitterfeld, Wolfen, Leipzig, Dresden und Görlitz bildeten diese Zentren. In vier Städten (Halle, Merseburg, Bitterfeld und Görlitz) hatten überbetriebliche Streikräte und Volkskomitees bereits die Macht übernommen. Hinsichtlich der Streik- und Aufstandsbeteiligung unterschieden sich die alten Hochburgen von KPD oder SPD nicht. Die Bewegung des 17. Juni war nicht nur eine Streikbewegung für wirtschaftliche und soziale Ziele, sie war ein politischer Massenstreik, der sich zu einem regulären Aufstand auswuchs, welcher zur Erstürmung von Gefängnissen, MfS-Einrichtungen, Partei- und FDJ-Gebäuden und Rathäusern führte.
Sowohl zeitlich als auch räumlich war der Aufstand breiter als dies vor der Öffnung der DDR-Archive in der wissenschaftlichen Literatur bekannt war: Am 17. Juni selbst streikten knapp 500.000 Arbeiterinnen und Arbeiter. Trotz des noch am selben Tag verhängten Ausnahmezustands und der militärischen Besetzung der Städte und Großbetriebe sowie der Verhaftung von Streikleitungen dehnte sich der Ausstand am 18. Juni weiter aus. Nur unter Androhung von Erschießungen und militärisch durchgesetzter Aussperrungen konnte die Streikbewegung in den Zentren bis zum 19. Juni gebrochen werden, während sie in etlichen Betrieben noch bis zum 22. Juni anhielt.
Nach letztem Forschungsstand haben zwischen dem 12. und 22. Juni rund eine Million Menschen in 702 Städten und Gemeinden an Streiks, Demonstrationen oder der Erstürmung von Gebäuden teilgenommen. Sechzig Haftorte wurden gestürmt und 1400 Häftlinge befreit. Allein durch diese Zahlen wird schon deutlich, dass in jeder Gesellschaft, in der die Arbeiterklasse die Mehrheit der Gesellschaft bildet, eine umfassende proletarische Erhebung immer auch den Charakter eines Volksaufstandes besitzt.
Arbeiteraufstand vs. Volksaufstand
Diese veröffentlichten und unbestrittenen Fakten kontrastieren jedoch mit einer lange nur von westdeutschen Konservativen, seit dem 50. Jahrestag 2003 jedoch in der akademischen Zunft weithin gängigen Interpretation des Aufstandes, in der das spezifische Gewicht der Arbeiterklasse relativiert wird. In den Massenmedien ist diese Praxis ohnehin üblich.
Unter dem Eindruck der Größe der Teilnehmerzahlen, der Anzahl der Ortschaften und im Detail bekannt gewordener Beteiligung von nichtproletarischen Schichten hat sich nunmehr auch bei Historikern der Begriff »Volksaufstand« mit der Konnotation eines »nationalen Volksaufstandes« anstelle des jahrzehntelang gepflegten Begriffs »Arbeiteraufstand« durchgesetzt.
Die gesellschaftspolitische Implikation dieser Begriffsverschiebung ist leicht durchschaubar und läuft darauf hinaus, die Arbeiterklasse und ihre spezifischen Interessen begrifflich zu tilgen und die Rolle anderer sozialer Schichten aufzuwerten. Damit verbindet sich auch die unschwer erkennbare Absicht, die Ziele und Forderungen des Aufstands in sozialökonomischer Hinsicht im Sinne einer prokapitalistischen Restauration zugunsten des Adenauer-Staates umzudeuten.
Die Diskussion über den politischen und sozialen Charakter des 17. Juni ist eng mit der von Baring entwickelten »Stufentheorie« verbunden, welche besagt, dass der in den Betrieben zunächst gut organisierte Streik der Belegschaften gegen die Normenerhöhung und für betriebliche und soziale Ziele später, während der Straßendemonstrationen, der Kontrolle der Streikleitungen entglitt und in einen allgemeinen, unkontrollierten Aufstand für freie Wahlen und Wiedervereinigung überging.
Jetzt erst habe sich der Aufstand in einen politischen verwandelt, der sich auch in Randale, Gewalt und Zerstörungen entlud. Die »Stufentheorie« wird in etwas anderer Weise auch von jenen benutzt, die aktuell wieder mit der alten stalinistischen These aufwarten, die berechtigte soziale Unzufriedenheit der Arbeiter sei erst durch die Intervention des Westens, vor allem der Rundfunkanstalt RIAS, in eine gesteuerte politische Konterrevolution umgeschlagen.
Arbeiteranteil 88 Prozent
Beiden Interpretationen ist gemeinsam, dass sie den politischen Aufstand gegen die SED-Diktatur als restaurativ und pro-kapitalistisch identifizieren.
Der Versuch, den »Arbeiteraufstand« in einem »allgemeinen Volksaufstand« aufzulösen, wird unter anderem damit begründet, dass sich den demonstrierenden Arbeitern die Angestellten der am Rande des Zuges gelegenen Geschäfte angeschlossen hätten, ebenso Hausfrauen und Jugendliche. Dabei wird außer Acht gelassen, dass sowohl die Hausfrauen als auch die Jugendlichen vor allem die Angehörige der marschierenden Arbeiter waren. Und obwohl bereits in den ersten Schilderungen des Aufstandes durch Harpprecht und Bölling auch die (periphere) Revolte von Bauern und einigen Akademikern erwähnt wird, geraten diese anderen Gruppen nun ins Zentrum der Argumentation gegen den »Arbeiteraufstand«. Auf diese Weise bleibt letztlich unerwähnt, dass der »allgemeine Volksaufstand« eben zu drei Vierteln ein Aufstand des Proletariats in der DDR war, zu dem eben auch die Familienangehörigen und große Teile der Angestellten gehörten. In Leipzig beispielsweise hatte die SED – nach Augenschein! – die demonstrierenden Massen wie folgt eingeschätzt: etwa 20.000 Arbeiter, 10.000 Hausfrauen, 10.000 Kleinbürger (wahrscheinlich viele Angestellte) und 2000 bis 3000 Jugendliche. Die Anzahl der am 17. Juni Verhafteten und dann verurteilten Personen bestätigt den sozialen Charakter des Aufstands eindeutig: Der Arbeiteranteil bei den von Gerichten später verurteilten Personen betrug 88 Prozent.
Ein zentrales Element der auf Baring zurückgehenden und weit verbreiteten »Stufentheorie« ist die These, dass es einen Übergang vom sozialen Streik der Arbeiter zu einem nationalen Volksaufstand gegeben habe. Doch die Darstellungen der regionalen Abläufe, vor allem in den Zentren Sachsen-Anhalts und Sachsens, widerlegen eine »Stufentheorie«. Selbst in Berlin hatte der Bauarbeiterstreik bereits am Nachmittag des 16. Juni während der Demonstration vor dem Haus der Ministerien keinen ausschließlich sozialen Charakter. Als am Morgen des 17. Juni die Mehrzahl der Betriebe Ostberlins die Arbeit niederlegte, standen die Forderungen nach Rücktritt der Regierung und freien Wahlen gleichberechtigt neben denen nach der Aufhebung der Normen oder der Senkung der Preise der HO (Handelsorganisation, staatliches Einzelhandelsunternehmen). In den Betrieben von Halle, in Leuna, Bitterfeld, Leipzig, Dresden und den Buna-Werken in Schkopau waren die politischen Forderungen ebenfalls zu Streikbeginn am Morgen des 17. Juni aufgestellt worden. Durch die Rekonstruktion der lokalen Abläufe kann nunmehr auch ausgeschlossen werden, was der 17. Juni nicht war: ein faschistischer Putsch oder der berühmte, von westlichen Agenten oder dem RIAS organisierte »Tag X.« Die Spontaneität der Abläufe, die Ungleichzeitigkeit der Aktionen in den einzelnen Betrieben, die dazu führte, dass zahlreiche Betriebe erst am 18. Juni in den Streik traten, führen eine solche Annahme ad absurdum. Zudem konnte die Staatssicherheit diesen Zusammenhang nicht nachweisen, obwohl sie den Auftrag hatte, genau danach zu suchen,.
Einfluss auf die Planung
Die Losungen der aufständischen Arbeiterklasse bildeten von Anfang an eine untrennbare Einheit wirtschaftlich-sozialer und politischer Forderungen. Der Ausgangspunkt des sozialen Konfliktes war die Normenfrage. Durch die Einführung der gesetzlichen Erhöhung der Normen um zehn Prozent hätte ein großer Teil der Akkordarbeiter bis zu dreißig Prozent seines Lohnes verloren. Bei steigenden HO-Preisen und bei Abschaffung umfangreicher sozialer Leistungen wie der Fahrgeldzuschüsse war der Normenkampf vor allem ein Kampf für die Verteidigung eines Lebensstandards, der immer noch weit unter dem Vorkriegsniveau lag. Zugleich besaßen die Forderungen des 17. Juni auch einen dezidiert egalitären Charakter. Bereits auf der Kundgebung der Ostberliner Bauarbeiter vor dem Haus der Ministerien schleuderte ein Bauarbeiter Minister Fritz Selbmann entgegen, dass man nicht nur die Rücknahme der zehnprozentigen Normenerhöhung, sondern die Abschaffung aller Normen in ganz Deutschland wolle. Das war ein erster Hinweis darauf, dass die Aufständischen sich die Einheit Deutschlands etwas anders vorstellten als das Kapital.
Die Losung »Akkord ist Mord!« war außerordentlich populär und in ihrem Bezug auf die Auseinandersetzungen der Weimarer Republik gegenwärtig. Die Kritik am tayloristischen Normensystem zeigte sich auch im Hass auf die Arbeitsdirektoren und die bei ihnen angesiedelten »Arbeitsnormer«, deren Ablösung vielerorts gefordert wurde. Sie galten als Personifizierung der Wiederkehr alter Hierarchien in den DDR-Betrieb. Der egalitäre Charakter der Arbeitererhebung des 17. Juni zeigte sich aber auch in der massenhaften Kritik an den privilegierten Gehältern der betrieblichen Intelligenz, die mit Einzelverträgen zur Mitarbeit am »Aufbau des Sozialismus« gewonnen werden sollte, sowie an den im Verhältnis zu Arbeiterinnen und Arbeitern hohen Gehältern von Partei- und Staatsfunktionären und der Volkspolizei. Die Belegschaft der Elektroschmelze Zschornewitz forderte sogar die Abschaffung aller Gehälter, die über 1000 Mark lagen.
Im Forderungskatalog der Belegschaft des Kaliwerks »Deutschland«, wird auch der Versuch erkennbar, Einfluss auf die Planung der Betriebe zu bekommen. Trotz des fehlenden Diskussionsvorlaufes und des Ausbleibens einer breiten gesellschaftlichen Debatte ist eine Tendenz erkennbar, die in Richtung einer erhöhten Einflussnahme auf die wirtschaftlichen Entscheidungsprozesse des Betriebes weist. Die wirtschaftlich-sozialen Forderungen, die auch in einer zweiten Streikwelle im Juli 1953 noch einmal präzisiert wurden, enthalten immer wieder auch Forderungen nach einer Reorganisation der Machtstrukturen in den Betrieben:
1. Die Partei und/oder ihre hauptamtliche Struktur soll aus dem Betrieb verschwinden und ihre Kontrolle über die wirtschaftlichen Abläufe aufgeben,
2. Die Gewerkschaft soll der Kontrolle der Partei entzogen werden, damit sie eine Kampforganisation der Werktätigen wird. Auch wird die Wahl von neuen Betriebsgewerkschaftsleitungen gefordert. Der Ruf nach einer echten und unabhängigen Gewerkschaft erschallt allenthalben, manchmal werden auch Betriebsräte gefordert, nie jedoch die generelle Auflösung des FDGB.
Obwohl solche grundlegenden Fragen der wirtschaftlich-sozialen Machtstruktur im Betrieb thematisiert werden, findet sich jedoch nirgends die Forderung nach einer Reprivatisierung der verstaatlichten Großbetriebe! Es sind vor allem die heute sämtlich in den Akten nachzulesenden Forderungskataloge, die nur zu einem Schluss führen können: Der 17. Juni war keine Bewegung zur Restauration des Großkapitals und des Großgrundbesitzes in der DDR.
Gewehre zerstört
Doch der Aufstand der DDR-Arbeiterklasse war nicht nur nicht restaurativ, er war auch antimilitaristisch. Der Kampf gegen die Aufrüstung war ein zentrales Anliegen und »Butter statt Kanonen« eine der häufigsten Losungen. »Wir brauchen keine Nationalarmee!«, skandierten die Demonstranten, die die erbeuteten Waffen ähnlich wie 1918 nicht gegen ihre Feinde richteten, sondern zerstörten.
Erstaunliches sah der spätere SDS-Barde Bernd Rabehl, der den 17. Juni als Jugendlicher in Rathenow erlebte. Demonstranten trugen ein DDR-offizielles Plakat zum 1. Mai. Auf ihm stand: »Nie wieder SS-Europa – Nieder mit den Kriegsvorbereitungen in Westdeutschland!«
Was also wollten die Aufständischen erreichen? Gerade diese zuletzt zitierten Losungen machen deutlich, dass die oft gestellte Forderung nach »freien Wahlen in ganz Deutschland« etwas anderes meinen musste als eine Übernahme der DDR durch das Adenauer-Regime. Hier wurden Wahlen erhofft, die die Spaltungspolitik und die Hochrüstung beider Teile Deutschlands gegeneinander beenden und ein entmilitarisiertes Deutschland schaffen sollten. Dort würde es dann auch mehr Butter geben. Das war das einige Deutschland, welches die aufständische Arbeiterklasse erträumte.
Die Forderungen und die politische Kultur, die trotz der nur acht Jahre zurückliegenden Zeit des Faschismus eine erstaunliche Vitalität der Arbeiterbewegungskultur aufwiesen, machen deutlich, dass die Ziele des 17. Juni soziale und politische sowie arbeiterspezifische und allgemein-demokratische Forderungen untrennbar miteinander vereinten. Die Arbeiterklasse in der DDR hatte eine »Berliner Republik« vor Augen, die sie als Alternative zu den deutschen Teilstaaten verstand, nicht – wie 1989/90 – als die Überstülpung des einen über den anderen.
Die Arbeiterklasse von 1990 war immerhin 40 Jahre durch die Schule der SED-Diktatur gegangen, so hatte sie ihre sozialistischen Optionen verloren. Das war 1953 noch anders, als sich mit »Sozialismus« in Ost wie West eine Alternative zu Krieg und Faschismus verband. Die »Berliner Republik« des 17. Juni war also nicht die heutige, auf Sozialabbau und neue Kriege zielende. Sie war ihr Gegenteil. Sie war wohl am ehesten jene Republik, die der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher als »Staat des demokratischen Sozialismus« bezeichnet hatte und den er mit dem Staatskapitalismus in Ostdeutschland nicht verwechselt sehen wollte. Ob für eine Mehrheit der Arbeiterklasse galt, dass ihr Ziel am 17. Juni die Wiedergewinnung jener basisdemokratischen Freiheiten gewesen war, über die sie unmittelbar nach 1945 in den Betrieben verfügt hatte und von denen sie durch die SED seit 1948 enteignet worden war, wie Axel Bust-Bartel meint, darf bezweifelt werden (Vgl. Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953. Ursachen, Verlauf und gesellschaftspolitische Ziele, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 25/1980, S. 24-54).
Doch eine radikale soziale Demokratie, die sich aus sozialdemokratischer wie aus freiheitlich-sozialistischer und oppositionell-kommunistischer Tradition speiste, prägte das Antlitz des 17. Juni allemal. Sie ist es wert, dass auf sie zurückgekommen wird.
Zur Person:
Bernd Gehrke ist Politökonom. Aufgewachsen in Ostberlin war er seit den 1970er Jahren Linksoppositioneller in der DDR. Heute ist er freier Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.
Zum Artikel:
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung eines in »Express. Zeitung für sozialistische Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit« (Nr. 8 und 9/2003) erschienenen Textes. Er erschien in marx21 Nr. 3/2013.
Weiterlesen:
- Benno Sarel: Arbeiter gegen den »Kommunismus«. Zur Geschichte des proletarischen Widerstandes in der DDR 1945-1958 (Trikont Verlag 1975/ Neuausgabe: Schwarze Risse 1991).
- Roger Engelmann, Ilko-Sascha Kowalczuk (Hrsg.): Volkserhebung gegen den SED-Staat. Eine Bestandsaufnahme zum 17. Juni 1953 (Vandenhoeck & Ruprecht 2005).
- Ilse Spittmann und Karl-Wilhelm Fricke (Hrsg.): Der 17. Juni 1953. Arbeiteraufstand in der DDR. (Edition Deutschland Archiv 1988).
Foto: Bundesarchiv, B 285 Bild-14676 / Unknown / CC-BY-SA 3.0
Schlagwörter: DDR, SED, Stasi