»Whatever it takes«, so die Worte des Bundeskanzlers in spe. Aber geht es bei der geplanten gigantischen Aufrüstung in Deutschland und Europa wirklich um mehr Sicherheit? Von Martin Haller
Europa sei mit einer »klaren und gegenwärtigen Gefahr« konfrontiert, wie sie »keiner von uns in seinem Leben gesehen hat«, so EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen. 800 Milliarden Euro sollen die EU-Staaten daher in die »Wiederaufrüstung Europas« investieren. Es sei »nicht nötig, die ernsten Bedrohungen zu beschreiben«.
Tatsächlich wäre aber genau das sehr wohl nötig, denn was das konkrete Bedrohungsszenario eigentlich sein soll, das diese gigantische Aufrüstung und Militarisierung des Kontinents rechtfertigt, ist alles andere als klar.
Genauso vage wie von der Leyen bleibt Friedrich Merz: »Angesichts der Bedrohungen unserer Freiheit und des Friedens muss jetzt auch für unsere Verteidigung gelten: Whatever it takes.« Im Bundestagswahlkampf war von einer akuten Bedrohungslage noch keine Rede, wenngleich die Pläne der EU schon in den Schubladen lagen, wie Noch-Außenministerin Annalena Baerbock in einem Interview mit Bloomberg am Rande der Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar ausplauderte.
Die Gunst der Stunde
Der Zeitpunkt, den Merz und von der Leyen für die Ankündigung ihrer Aufrüstungspläne gewählt haben, ist kein Zufall. Das Thema sollte aus dem Wahlkampf in Deutschland herausgehalten werden. Trumps Anweisung, die US-Hilfen für die Ukraine zu stoppen, und seine öffentliche Vorführung von Selenskyj im Oval Office dienten dann als willkommener Anlass, um die Katze aus dem Sack zu lassen.
Warum der von Trump und Putin geplante Raubfrieden gegen die Ukraine für die EU-Staaten eine akute Bedrohung darstellt, ist jedoch, anders als von der Leyen meint, durchaus erklärungsbedürftig. Trump hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die Ukraine zu einem »Friedensschluss« mit Russland zwingen wird, in dem er die Bedingungen diktiert.
Der Ukrainekrieg war von Beginn an nicht nur ein nationaler Befreiungskrieg gegen die russische Invasion, sondern vor allem ein Stellvertreterkrieg zwischen imperialistischen Mächten – den USA, ihren europäischen Nato-Verbündeten und dem wesentlich schwächeren russischen Imperialismus. Dass dieser Krieg früher oder später mit einer Aufteilung der »Beute« enden würde, war absehbar. Brüskiert ist man in Brüssel und den europäischen Hauptstädten nun darüber, dass man selbst dabei außen vor zu bleiben scheint.
Das ist auch der eigentliche Grund, warum man in Europa immer unverhohlener auf militärische Stärke und schrankenlose Aufrüstung setzt. Deutsche, Briten und Franzosen wollen an möglichst vielen Orten mit am Tisch sitzen, wenn über Nachkriegsordnungen verhandelt wird.
Die EU ist ein Kartell mittlerer imperialistischer Mächte
Es geht dabei nicht um den Schutz vor einem äußeren Aggressor, sondern um die Sicherstellung des größtmöglichen Einflusses zur Wahrung und Durchsetzung der Interessen des jeweils eigenen Kapitals. Militärische Potenz schafft politischen Einfluss. Und das ist die Voraussetzung, um wirtschaftliche Interessen geltend zu machen.
Die EU ist ein Kartell mittlerer imperialistischer Mächte, die sich zusammengeschlossen haben, um mit ihrem gemeinsamen ökonomischen und politischen Gewicht im internationalen Machtgefüge eine größere Rolle zu spielen und ihre Interessen im Rahmen der globalen Staatenkonkurrenz durchzusetzen. Wie alle imperialistischen Mächte setzen insbesondere die dominanten Staaten der EU dabei seit jeher auch auf militärische Stärke.
Das Bild der Europäischen Union als »Friedensmacht«, die sich auf ihre »Soft Power« verlassen und sich unter den Fittichen ihrer Schutzmacht USA ausgeruht hätte, ist völlig verzerrt. Obgleich die EU selbst keine Militärmacht ist, ihre Mitgliedsstaaten sind es.
Militärischer Zwerg?
Die Staaten Europas mussten sich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwar von ihrer globalen Vormachtstellung verabschieden. An die Stelle einer multipolaren Weltordnung, mit mehreren rivalisierenden (europäischen) Großmächten, war eine bipolare Weltordnung getreten, mit den neuen Führungsmächten USA und Sowjetunion. Das änderte aber nichts an der imperialistischen Politik europäischer Staaten, die weiterhin mit ihrer ökonomischen Macht und mit militärischen Mitteln ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Bis in die 1970er Jahre wurden von Europa aus blutige Kolonialkriege in aller Welt geführt – ob in Indochina, Algerien, Kenia, Malaysia oder Angola.
Europa blieb als Hauptfront im Kalten Krieg eine der am stärksten militarisierten Zonen der Welt. Die Atommächte Frankreich und Großbritannien, wie auch das bereits 1955 wiederbewaffnete Deutschland, gehören bis heute zu den Ländern mit den höchsten Militärausgaben.
Nach dem Ende der Blockkonfrontation rüsteten sie ihr Militär zusehends zu »international einsatzfähigen Interventionsarmeen« um, um »den Herausforderungen unserer Zeit« gerecht zu werden, sprich sich an den Angriffskriegen der USA zu beteiligen.
Die Erzählung, dass die Staaten der EU ohne ihre Schutzmacht USA dem »russischen Expansionismus« zum Opfer fallen, entbehrt jeder Grundlage
Mit der Hinwendung der USA nach Asien, um dort den eigentlichen Hauptkonkurrenten China im imperialistischen Wettstreit um die Vormachtstellung auf der Welt in Schach zu halten, geht ein Bedeutungsverlust Europas als Austragungsort globaler Machtpolitik einher. Das heißt nicht, dass die USA kein Interesse mehr an der Nato hätten oder sich gänzlich aus Europa zurückziehen würden. Aber sie verschieben ihre Prioritäten – und das nicht erst seit Trump im Weißen Haus sitzt.
Für die europäischen Mächte bedeutet diese Verschiebung aber keineswegs, dass sie nun anderen Imperialisten schutzlos ausgeliefert wären. Die Erzählung, dass die Staaten der EU ohne ihre Schutzmacht USA dem »russischen Expansionismus« zum Opfer fallen, entbehrt jeder Grundlage. Russland ist weder in der Lage noch beabsichtigt es, EU- oder Nato-Mitglieder militärisch anzugreifen oder gar in sie einzumarschieren.
Der russische Imperialismus
Der russische Imperialismus ist nach dem totalen Kollaps im Zuge des Zerfalls der Sowjetunion unter Putin zwar wiedererstarkt, dennoch befindet er sich im relativen Niedergang. Er kämpft aggressiv um den Erhalt seiner letzten Pfründe. Damit stellt er eine akute Bedrohung dar. Das gilt in militärischer Hinsicht jedoch nur für die verbliebenen Länder innerhalb der unmittelbaren russischen Einflusszone, wie die Ukraine oder auch Georgien, die nach den Plänen von Nato und EU aus dieser herausgelöst werden sollten, um Russland weiter zu schwächen und den eigenen Einfluss weiter auszubauen.
Die Behauptung, ohne eine weitere massive Aufrüstung Europas würde Putin als nächstes im Baltikum oder in Polen einmarschieren – oder gar in Brandenburg, wie Annalena Baerbock von den Grünen warnt –, ist absurd.
Putin ist kein Wahnsinniger
Putin ist kein Wahnsinniger. Der Überfall auf die Ukraine ist ein Verbrechen, das Hunderttausende Menschenleben gekostet und unvorstellbares Leid über das Land gebracht hat. Dennoch verfolgt das Regime Putin mit seinem Krieg gegen die Ukraine rationale Ziele einer imperialistischen Regionalmacht, die in der stetigen Osterweiterung der Nato, eines feindlichen Militärbündnisses, bis an die russischen Grenzen eine existenzielle Bedrohung für ihre Machtausübung sieht.
Der Krieg gegen die Ukraine ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass Russland eine imperiale Macht auf dem absteigenden Ast ist. Zwar verfügt das Land über das weltweit zweitgrößte Arsenal an Atomwaffen – was eine konfrontative Politik vonseiten der EU-Staaten umso gefährlicher macht –, die russische Volkswirtschaft ist aber gerade einmal so groß wie die Italiens.
Dass Russland an einem direkten Krieg gegen die Staaten West- und Mitteleuropas oder gar an einem Einmarsch in diese interessiert ist oder dazu in der Lage wäre, ist eine völlige Verkennung der Kräfteverhältnisse. Tatsächlich war die russische Armee nicht einmal in der Lage, die Ukraine einzunehmen oder auch nur deren Regierung zu stürzen, wie der gescheiterte Vorstoß auf Kiew zu Beginn der Vollinvasion 2022 gezeigt hat.
Durchsetzung von Aufrüstung
Die Panikmache, Russland würde nach einem Teilsieg in der Ukraine, sich das nächste Land an seiner Westgrenze vornehmen und einen Angriff auf ein Mitglied von Nato und/oder EU wagen, dient einzig und allein der innenpolitischen Durchsetzung von Aufrüstung und Militarisierung durch die Staaten der EU, allen voran Deutschlands, das seit jeher die »Gefahr aus dem Osten« als Rechtfertigung für die eigenen imperialistischen Ambitionen genutzt hat.
All das bedeutet nicht, dass die militärische Zuspitzung in Europa nicht brandgefährlich ist. Das Aufeinandertreffen imperialistischer Expansionsinteressen ergibt eine explosive Mischung. Aufrüstung, Militarismus und außenpolitisches Säbelrasseln, egal von welcher Seite, sind ein Spiel mit dem Feuer.
Es braucht Widerstand gegen die Imperialisten und Kriegstreiber auf allen Seiten
Um die Gefahr einer weiteren militärischen Eskalation und neuer Kriege zu bannen, braucht es nicht mehr Waffen, sondern Widerstand gegen die Imperialisten und Kriegstreiber auf allen Seiten. Ein neuer Rüstungswettlauf in Europa wird den russischen Imperialismus nicht zur Aufgabe zwingen. Im Gegenteil: Er ist Wasser auf die Mühlen des Regimes unter Putin, weil es, wie jedes Regime eines imperialistischen Staates, den eigenen Militarismus nur durch die Beschwörung der Gefahr durch den äußeren Feind, also den anderen Imperialisten, rechtfertigen kann.
Was Putins Regime tatsächlich gefährlich werden kann, ist eine klassenkämpferische und antiimperialistische Bewegung in Russland selbst. Kriegsgegner:innen in Russland werden mundtot gemacht, sind aber nicht verschwunden. Wir stärken sie nicht durch Gefolgschaft gegenüber den Kriegstreiber:innen hierzulande, sondern durch den Aufbau von Widerstand gegen deren eigene imperialistische und militaristische Agenda.
Foto: Tobias Nordhausen / flickr.com / CC BY-NC-SA 2.0
Schlagwörter: Aufrüstung, Imperialismus, Krieg