Viele, die sich eine radikale linke Regierung wünschen, beziehen sich auf den marxistischen Staatstheoretiker Nicos Poulantzas. Wir stellen seine Ideen vor und werfen einen Blick auf ihre praktische Umsetzung. Von Yaak Pabst
Wer wissen will, ob »Rebellisches Regieren« funktionieren kann, muss sich mit den Ideen von Nicos Poulantzas und den Erfahrungen des Eurokommunismus auseinandersetzen. Der griechische Politologe und Philosoph Poulantzas hatte sich in den 1970er Jahren im Anschluss an den französischen Theoretiker Louis Althusser eine Erneuerung der marxistischen Staatstheorie vorgenommen. Mit seiner Kritik am Stalinismus und der Vorstellung eines neuen »demokratischen Sozialismus« avancierte er zu einem wichtigen Vordenker des Eurokommunismus.
Der Eurokommunismus oder auch »Reformkommunismus« entstand Mitte der 1970er Jahre als Strömung innerhalb der kommunistischen Parteien, vor allem in jenen, die sich ab 1968 zunehmend vom Stalinismus distanzierten. Es war das Jahr, in dem die UdSSR die Bewegung des »Prager Frühlings« brutal unterdrückte. Damals verurteilten eine Reihe kommunistischer Parteien im Westen die russische Invasion und kritisierten die Menschenrechtsverletzungen auf der anderen Seite des »Eisernen Vorhangs«.
Poulantzas‘ Blick auf den Staat
Nicos Poulantzas lebte zu einer Zeit, als sowohl die Sozialdemokratie als auch die stalinistisch geprägten kommunistischen Parteien in den westeuropäischen Staaten viele Anhänger hatten. In seinen Analysen kritisierte er die Sichtweisen beider Strömungen auf den kapitalistischen Staat.
Dieser war für ihn weder eine neutrale, dem »Gemeinwohl« aller verpflichtete Instanz noch ein bloßes Instrument oder Werkzeug in der Hand der herrschenden Klasse. Dementsprechend könnten linke Parteien und soziale Bewegungen nicht darauf setzen, dass staatliche Akteure Politik im Sinne der Allgemeinheit betreiben.
Ebenso wenig könnte die Linke den Staat einfach »übernehmen« und in ein Instrument emanzipatorischer Politik verwandeln, wie das der traditionelle Reformismus der Sozialdemokratie seit Eduard Bernstein vertrat. In seinen Arbeiten bezeichnete Poulantzas den kapitalistischen Staat als eine »materielle Verdichtung von Kräfteverhältnissen«.
Kein Zerschlagen des Staatsapparats
Doch seine Analysen lassen die Interpretation zu, die kapitalistische Gesellschaft sei mit Hilfe des bürgerlichen Staates reformierbar. Das liegt unter anderem daran, dass er mit einem Kernanliegen des revolutionären Marxismus brach: der Zerschlagung des kapitalistischen Staatsapparats.
Er schrieb: »Die radikale Transformation des Staatsapparats in einem demokratischen Weg zum Sozialismus impliziert, dass es nun nicht mehr um das gehen kann, was man traditionellerweise als Zerschlagung oder Zerstören dieses Apparats bezeichnet.«
Die Frage der Doppelherrschaft
Poulantzas kritisierte den klassischen marxistischen Ansatz, der von einer dynamischen und durch tiefe Brüche im existierenden Machtgefüge gekennzeichneten Revolutionsphase ausgeht. Einer Phase, in der sich der Klassenkampf, durch den Widerstand der herrschenden Klasse in Form einer gewalttätigen Konterrevolution bis zum Bürgerkrieg zuspitzt.
Er behauptete, die klassische marxistische Vorstellung von der sozialistischen Revolution – der Zerschlagung des Staatsapparats und seine Ersetzung durch eine Form direkter Arbeiterdemokratie – führe unmittelbar zu »Dirigismus«, also zum Stalinismus.
Die Annahme, dass in einer revolutionären Phase Situationen der Doppelherrschaft entstehen, in denen die Macht des kapitalistischen Staates durch die Macht einer neuen Demokratie von unten (Rätedemokratie) herausgefordert würde, lehnte Poulantzas ab. Das brachte ihn allerdings nicht dazu, den Weg der Sozialdemokratie zu gehen.
Transformation des Staates
Er schrieb: »Das Dilemma, das man umgehen muss, ist also im Grunde folgendes: Entweder behält man den gegenwärtigen Staat bei und verlässt sich nur auf die repräsentative Demokratie, an der man einige zweitrangige Korrekturen anbringt – dies führt zum sozialdemokratischen Etatismus und zum angeblich liberalen Parlamentarismus. Oder aber man verlässt sich allein auf die direkte Rätedemokratie und die Selbstverwaltungsbewegung. Dies führt über kurz oder lang unvermeidlich zum etatistischen Despotismus oder einer Diktatur der Experten.«
»Das Grundproblem eines demokratischen Wegs zum Sozialismus und eines demokratischen Sozialismus ist die Frage, wie man eine radikale Transformation des Staates in Gang setzen kann, wenn man die Ausweitung und Vertiefung der Freiheiten und der Institutionen der repräsentativen Demokratie (die auch eine Errungenschaft der Volksmassen waren) mit der Entfaltung von Formen der direkten Demokratie und von Selbstverwaltungszentren verbindet.«
Wandel als Prozess
Poulantzas wollte also durchaus einen radikalen gesellschaftlichen Wandel. Er stellte sich diesen allerdings als langen Prozess vor – ohne, wenngleich er das so offen nicht formulierte, dynamische Brüche (beispielsweise die Ersetzung des bürgerlichen Parlaments durch eine Rätedemokratie von unten).
Auf einem langen Weg sollten demnach die »Massen die Macht erringen« und die Staatsapparate zu ihrem eigenen Vorteil umbauen: »Der demokratische Weg zum Sozialismus ist ein langer Prozess, in dem der Kampf der Volksmassen nicht auf die Errichtung der Doppelherrschaft zielt, die parallel zum Staat und außerhalb von ihm verläuft, sondern sich auf die inneren Widersprüche des Staates richtet. (…)«
»Die Staatsmacht zu ergreifen bedeutet, den Massenkampf so zu entfalten, dass er das innere Kräfteverhältnis der Staatsapparate verändert (…). Der lange Prozess der Machtergreifung in einem demokratischen Weg zum Sozialismus besteht im Wesentlichen darin, die innerhalb der staatlichen Netzwerke verstreuten Widerstandszentren der Massen zu entfalten, verstärken, koordinieren und zu leiten, sowie neue Zentren zu schaffen und zu entwickeln.«
Kampf innerhalb des Staates
In diesem Sinne war er ein Verfechter eines »Kampfes innerhalb des Staats«. Auf die beschriebene Weise würden die »inneren Widersprüche des Staats zugespitzt und zu einer tiefgreifenden Transformation des Staats führen, unterstützt durch Strukturen direkter Basisdemokratie«. So würde der »demokratische Sozialismus« eine innere Verwandlung des bürgerlichen Staates in eine »echte Demokratie« bewirken.
In den eurokommunistischen Parteien betonten diesen Ansatz von Poulantzas vor allem diejenigen, die damit ihre Orientierung auf Regierungsbeteiligungen begründen wollten. Sah der klassische Marxismus seine Aufgabe im Kampf gegen den bürgerlichen Staat, so wollten die Vertreter des Eurokommunismus nun den Kampf um diesen Staat führen.
Kein neutraler Kampfplatz
Allerdings haben wir es aber, wie auch Poulantzas in seinen Werken ausführte, nicht mit einem so neutralen Kampfplatz zu tun. Selbstverständlich ist die konkrete Ausgestaltung des Staates ein umkämpftes Terrain. Dies bleibt jedoch eine recht einseitige Feststellung, wenn man nicht auch die strukturellen Voraussetzungen betrachtet, unter denen diese Auseinandersetzungen stattfinden.
Der Staat spiegelt nicht einfach die Summe der gesellschaftlichen Kräfte wider, denen er ausgesetzt ist. Vielmehr führt seine strukturelle Abhängigkeit tendenziell dazu, dass er zugunsten des Kapitals in die Auseinandersetzungen eingreift.
Opposition oder Regierung
Den Staat als Gegner wahrzunehmen, hieß für den klassischen Marxismus jedoch nicht darauf zu verzichten, ihm gewisse Zugeständnisse abtrotzen zu wollen. Jedoch ist es ein großer Unterschied, ob die Linke als Opposition im Parlament und auf der Straße Druck auf eine kapitalistische Regierung ausübt oder ob sie selbst staatliche Funktionen ausübt.
Denn der Spielraum der Staatsbürokratie besteht nicht darin, ob sie den Bedürfnissen der Kapitalakkumulation gerecht wird, sondern lediglich darin, wie sie dies tut. Regierungsbeteiligungen werden deswegen leicht zu Fallen. Selbst wenn eine linke Regierung unter günstigen Kräfteverhältnissen einige Reformen durchsetzen sollte, werden diese nicht dauerhaft bestehen.
Kapital und Staatsapparat
Der kapitalistische Staat ist keineswegs die Verkörperung des Allgemeinwohls. Er ist eine Formation von bürokratisch und hierarchisch organisierten Apparaten, die unter der Leitung von »Politikmanagern« stehen, deren Interessen eng verwoben sind mit denen des Kapitals. Sollten linke Politiker es wagen, den Interessen der Konzerne etwas entgegenzusetzen, so können Kapital und Staatsapparat ein schlagkräftiges Duo bilden.
Das eindringlichste Beispiel hierfür ist der Sturz des Sozialisten Salvador Allende, der 1970 zum Präsidenten von Chile gewählt wurde. Aufgrund seiner radikalen Sozialreformen boykottierten ihn die Unternehmer. Schließlich wurde er 1973 vom Militär durch einen Putsch gestürzt und ermordet.
Probleme des Eurokommunismus
Auch die Erfahrung der eurokommunistischen Parteien verdeutlicht die Probleme dieser Strategie. Fast alle Parteien, die sich am Eurokommunismus orientierten, erlebten Mitte der 1970er Jahre einen beeindruckenden Aufschwung. Sie gewannen neue Mitglieder und ihre Umfragewerte schossen in die Höhe.
Am spektakulärsten war vielleicht der Aufstieg der Kommunistischen Partei Italiens (PCI). Während sie in den 1950er und 1960er Jahren beständig Mitglieder verlor, gelang es ihr ab 1972 rasant zu wachsen. Fast 60.000 neue Mitglieder schlossen sich ihr jährlich an, so dass sie im Jahr 1976 mit rund 1,7 Millionen Mitgliedern die stärkste kommunistische Partei im Westen darstellte. Auch die Wahlerfolge der Partei waren beeindruckend. Bei der Parlamentswahl 1976 erhielt die PCI zehn Millionen Stimmen, was einem Anteil von 34,4 Prozent entsprach. Damit wurde sie zur zweitstärksten politischen Kraft Italiens.
Der »historische Kompromiss«
Beflügelt von ihren Erfolgen strebten die eurokommunistischen Parteien in die Regierungen – mit katastrophalen Konsequenzen. Nach der Wahl von 1976 tolerierte die PCI eine christdemokratische Minderheitsregierung. Im Rahmen dieses »historischen Kompromisses« würgte die Partei Studierendenproteste und große Streikbewegungen ab, etwa bei Fiat im Jahr 1977.
Im Umgang mit der Welle von Klassenkämpfen, die Italien seit 1969 erschütterte, nahm sie also eine ähnliche Rolle ein wie die deutsche Sozialdemokratie in der Arbeiterrevolution der Jahre 1918 bis 1923. Tatsächlich hat sich die PCI dann in den 1980er Jahren schrittweise »sozialdemokratisiert«.
Kommunisten und Mitterand
Die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF) beteiligte sich ab 1981 an einer Regierung mit dem Sozialdemokraten François Mitterrand und trug später deren scharfen neoliberalen Kurs mit.
Mitte der 1980er Jahre standen die Eurokommunisten vor einem Trümmerfeld. Der Versuch, den Stalinismus abzuschütteln, endete für viele Parteien dieser Tendenz in der Regierungsverantwortung. Der Eurokommunismus war also weniger eine neue Verbindung von Sozialismus und Demokratie als die Sozialdemokratisierung von ehemals stalinistischen Parteien.
Nach dem Ende des »Ostblocks« zerfielen viele der Kommunistischen Parteien in ihre Einzelteile. Aus der PCI ging nach mehreren Umbenennungen die Demokratische Partei hervor, die von Februar 2014 bis Dezember 2016 den neoliberalen Ministerpräsidenten Matteo Renzi stellte. Die PCI-Linksabspaltung Rifondazione Comunista trat, von 1996 bis 1998 der Mitte-links-Regierung von Ministerpräsident Romano Prodi bei, um das »größere Übel« Berlusconi zu verhindern. Sie konnte nichts beeinflussen, stimmte, um die Rückkehr Silvio Berlusconis zu verhindern, allem zu, einschließlich dem Krieg in Afghanistan, Rentenkürzungen und Lohnsenkungen, und verschwand bei der darauffolgenden Wahl 2008 im Nichts.
Die griechische Erfahrung
Auch in Griechenland gibt es eine Geschichte der Regierungsbeteiligung durch kommunistische Parteien. Diese sammelten sich Ende der 1980er Jahre im linken Wahlbündnis Synaspismos. Ein Vorläufer davon war die eurokommunistische KKE-Inland, zu deren Mitgliedern auch Nicos Poulantzas gehörte. Bei der Wahl im Juni 1989 gewann Synaspismos 13,1 Prozent der Stimmen und ging daraufhin eine Koalition mit der konservativen Nea Dimokratia ein, zu der einige Monate später auch die sozialdemokratische Pasok hinzukam.
Diese Entscheidung enttäuschte viele Wählerinnen und Wähler. Als die Regierung 1991 zerbrach, verließen die orthodox-stalinistischen Teile das Bündnis. Die eurokommunistisch orientierten Akteure verwandelten Synaspismos daraufhin in eine Partei.
Tsipras und Syriza
Auch Alexis Tsipras wurde Mitte der 1990er Jahre Mitglied von Synaspismos, die später in Syriza aufging. Syriza wiederum setzte die Tradition des Eurokommunismus fort und stellte, nach einem kometenhaften Aufstieg durch die Unterstützung von hunderttausenden Arbeiterinnen und Arbeitern, von 2015 bis 2019 die Regierung.
Syriza versuchte in dieser Zeit, das griechische Kapital und die EU zu beschwichtigen, indem es das Verteidigungsministerium und Innenministerium an die nationalistische Anel oder Unabhängige Minister gab, die keine Bedrohung für die Repressionsorgane Militär und Polizei darstellten. Dieses Zugeständnis hat Syriza jedoch nicht geholfen. Vom Beamtenapparat sind die linken Minister ignoriert und sabotiert worden. Der Staatsapparat erwies sich nicht als Instrument von Syriza auf Seiten der Besitzlosen, um die finanzielle Erpressung der EU zu verhindern, die Kapitalflucht zu stoppen, die Banken zu verstaatlichen oder die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten. Die Führung von Syriza kapitulierte und unterzeichnete ein Abkommen, das Griechenland weiter unter die Aufsicht der Troika stellte und die Regierung auf Jahrzehnte zur Kürzungspolitik verpflichtete.
Syriza setzte dann die desaströse Politik vergangener Regierungen fort, erhöhte Mehrwertsteuern, kürzte Pensionen und privatisierte öffentliches Eigentum. Die Hoffnung, dass sich eine Linksregierung gestützt auf ein demokratisches Mandat durch Massenbewegungen gegen die Herrschenden durchsetzen oder zumindest aber wesentliche Kompromisse erreichen könnte, war abermals gescheitert.
Genau wie Sozialdemokraten
Alle eurokommunistischen Projekte verhielten sich, trotz anderslautender Rhetorik, an der Regierung nicht anders als die klassischen reformistischen Arbeiterparteien der Sozialdemokratie: Sie stützten überall die Kürzungspolitik der herrschenden Klasse und machten sich zum Mitverwalter der kapitalistischen Misere.
Letztlich mussten sich all diese Projekte dem kapitalistischen Sachzwang beugen. Nicos Poulantzas sah diese Gefahr. Allerdings scheute er sich davor, jene Schlussfolgerung zu ziehen, für die so viele revolutionäre Marxistinnen und Marxisten vor ihm eingetreten waren: den revolutionären Bruch mit dem bürgerlichen Staat.
Selbstorganisation der Arbeiterklasse
Die einzige Möglichkeit, dessen Zwangsinstitutionen etwas entgegenzusetzen, besteht darin, dass Arbeiter im Verlauf ihres eigenen Kampfs alternative Formen der Macht aufbauen. Ihre Grundlage wäre nicht die Herrschaft einer kleinen Elite über die Mehrheit, sondern die demokratische Selbstorganisation von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie anderen unterdrückten Teilen der Bevölkerung
Oder wie Rosa Luxemburg es in ihrer Schrift »Eine taktische Frage« ausdrückte: »In der bürgerlichen Gesellschaft ist der Sozialdemokratie dem Wesen nach die Rolle einer oppositionellen Partei vorgezeichnet, als regierende darf sie nur auf den Trümmern des bürgerlichen Staates auftreten.«
Poulantzas‘ Erbe
Nicos Poulatzas konnte sich an den weiteren Diskussionen über die Erfahrungen des Eurokommunismus an der Macht nicht mehr beteiligen. In Folge von Depressionen beging er am 3. Oktober 1979 Selbstmord. Er wurde nur 43 Jahre alt.
Die Erfahrungen des Eurokommunismus an der Macht zeigen die Grenzen und Gefahren der Strategie des »Kampfs innerhalb des Staats«. Jedes radikale Reformprogramm wird in Zeiten scharfer wirtschaftlicher Konkurrenz gesellschaftliche Kämpfe bis hin zur Machtfrage zuspitzen.
Das Kapital wird in einer solchen Situation alles ihm zur Verfügung Stehende in Bewegung setzen, um eine linke Regierung zu stürzen. Die Eurokommunistinnen und -kommunisten entschieden sich dagegen, diese Konfrontation auszufechten. Ein fataler Irrtum.
Schlagwörter: Macht, Poulantzas, Regierungsbeteiligung, Staat