Georg Frankl über Rosa Luxemburgs Broschüre »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«
Unter dem Eindruck der Russischen Revolution von 1905 schrieb Rosa Luxemburg ein Jahr später »Massenstreik, Partei und Gewerkschaften«. Mit dieser Broschüre mischte sie sich in die zeitgenössische Debatte innerhalb der deutschen Sozialdemokratie über die Bedeutung des Massenstreiks ein.
Luxemburg bezog zum einen Stellung gegen die Anschauungen jener Gewerkschaftsführer, die den Massenstreik ablehnten, weil dieser Repressionen für ihre Organisation zur Folge haben könnte. Zum anderen wendete sie sich gegen die »Reformisten« innerhalb ihrer Partei und auch gegen die Anarchisten ihrer Zeit. Beide befürworteten zwar den Massenstreik, hatten jedoch ein sehr technisches Verhältnis zu ihm. Die Reformisten sahen in ihm lediglich ein Kampfmittel zur Flankierung der parlamentarischen Auseinandersetzung. Die Anarchisten hingegen vertraten die Hoffnung, man könne über einen Massenstreik gleich die ganze Revolution organisieren.
Kein technisches Kampfmittel
Luxemburg beschreibt hingegen sehr eindrücklich, dass der Massenstreik, wie er beispielsweise 1905 in Russland stattfand, kein technisches Kampfmittel sei, das bei Bedarf zur Durchsetzung politischer Ziele angewandt werden kann. Sondern er sei eine Kampfform, zu der die unterdrückten Massen in einer zugespitzten Situation des Klassenkonfliktes aus einer eigendynamischen und dialektischen Abfolge von immer häufigeren und immer heftigeren Streiks heraus gelängen. Die Ansicht, ein solcher Massenstreik könne von höchster Ebene aus beschlossen, geplant, propagiert und wieder beendet werden, widerlegt sie anschaulich: Der Massenstreik entsteht nach Luxemburg zu einer Zeit, in welcher die stetige Zuspitzung der kapitalistischen Widersprüche zu wachsendem Widerstand, zu verstärkten Lohnkämpfen und Kämpfen um politische Rechte führt.
Diese Entwicklung verlaufe allerdings nicht linear – vielmehr seien es viele kleine, lokale, spontane Streikaktionen, die in mehreren Wellen aufflackern und wieder abkühlen, in neue Kämpfe münden und sich gegenseitig anfeuern, bis sie schließlich in einem gewaltigen Massenstreik als dem Höhepunkt der Revolution aufgehen. Die aufgeladene »Gewitterluft« dieser revolutionären Periode, in der jeder kleine Konflikt zwischen Arbeit und Kapital explodieren kann, ist nach ihrer Ansicht die Grundlage für den Massenstreik – die Revolution findet im Massenstreik also ihren Ausdruck, nicht ihre Ursache.
Wesentlich ist nach Luxemburgs Ansicht, dass in der revolutionären Phase das ökonomische Moment der Bewegung zunehmend mit dem politischen Moment verschmilzt: Je massiver die Arbeitskämpfe werden, desto politischer werden die Konflikte – wenn beispielsweise Streiks von der Staatsgewalt niedergeschlagen werden oder wenn Organisationen der streikenden Arbeiter verboten und ihre Führungspersönlichkeiten verfolgt werden. Diese Politisierung heizt wiederum die ökonomischen Streiks an, entfacht neue und schließlich richtet sich der Kampf gegen das ganze Gesellschaftssystem, das für die politische Unterdrückung der Massen genauso verantwortlich ist wie für deren ökonomische Ausbeutung. Die Arbeiterklasse politisiert sich also in den anfangs scheinbar unpolitischen Auseinandersetzungen um Löhne und Arbeitszeit.
Der Massenstreik kann nicht vorausgesehen werden, nicht organisiert, und er kann schon gar nicht kontrolliert werden. Dennoch warnt Luxemburg vor einem fatalistischen Abwarten der Revolution: Vielmehr ist es die Aufgabe der Sozialisten, gerade in solchen revolutionären Perioden, die gegenwärtige Situation zu analysieren und mit ihren Erkenntnisse über soziale und politische Vorgänge in vergangenen Massenstreiks die Entwicklung voranzutreiben und die politische Führung der Bewegung zu übernehmen.
»Dolmetscher des Massenwillens«
Das wichtigste Erfordernis in der revolutionären Periode sieht Luxemburg in der »möglichsten Einheit« des führenden sozialistischen Teils der Arbeiterklasse, also vor allem in der Einheit von Partei und Gewerkschaften. Diese beiden Organisationen verkörpern für sie zwei Teile eines sozialistischen Ganzen. Schließlich sind die Gewerkschaften direkt das Produkt der Arbeiterbewegung. Ihre Attraktivität, das Wachstum und den Erfolg – im Gegensatz zu christlichen oder anderen Gewerkschaften – erklärt sie mit der sozialistischen Theorie und Praxis des Klassenkampfes. Entsprechend scharf wehrt sie sich gegen den Anspruch einiger Gewerkschaftsführer auf politische Neutralität – nicht der Schein von Neutralität, sondern ihr sozialistisches Wesen habe die Gewerkschaften so stark gemacht. An dieser Stelle kritisiert sie auch die wachsende Bürokratisierung des Gewerkschaftsapparates: Viele Funktionäre nähmen im Rausch ihrer Erfolge in Kämpfen um höhere Löhne und Arbeitszeitverkürzung die Gewerkschaften nicht mehr als Mittel zum Zweck wahr, sondern als Selbstzweck. Dabei ginge bei vielen Funktionären der Blick für die größeren Zusammenhänge verloren.
Ein weiteres Problem dieser Entwicklung sieht Luxemburg in der Entmündigung der Gewerkschaftsmitglieder durch ihre Funktionäre, die nun für sich die Urteilsfähigkeit und Initiative im Tarifkampf in Anspruch nehmen, während der Masse diese Urteilsfähigkeit und der Überblick abgesprochen werden, ihr im Arbeitskampf nur die passive Tugend der Disziplin zufällt. Luxemburg beschreibt das Verhältnis von Partei und Gewerkschaften mit dem Bild einer Doppelpyramide, deren Spitzen weit auseinander gehen, deren Basis jedoch dieselbe ist. Entsprechend diesem Bild könne die notwendige Einheit nur von unten hergestellt werden, wenn die Masse der handelnde Chorus ist und die Leitungen nur die sprechenden Personen, die »Dolmetscher des Massenwillens«.
Luxemburgs Aufsatz stammt aus einer Zeit vor der Spaltung der Arbeiterklasse, als die SPD noch ein revolutionäres Programm verfolgte. Dennoch thematisiert sie Tendenzen in der damaligen Sozialdemokratie, die heute wieder hoch aktuell sind: Wenn Oskar Lafontaine beispielsweise den Generalstreik als politisches Kampfinstrument in die Diskussion bringt, antwortet ihm Rosa, dass dessen Einsatz nicht die Lösung des Klassenkampfes bringen, dass er nur am Anfang der Bewegung stehen kann. Wenn ver.di und andere Gewerkschaften über ihre mangelnde Attraktivität und ihre sinkenden Mitgliederzahlen nachdenken, so würde sie antworten, dass diese zu ihrem Kerngeschäft, dem Klassenkampf, zurückkehren müssten. Die Beziehung der LINKEN zu den Gewerkschaften, die angebliche Unmöglichkeit von Revolutionen in der heutigen Zeit, all das sind Fragen, bei deren Beantwortung die Lektüre von „Massenstreik, Partei und Gewerkschaften« weiterhelfen kann.
Zur Person:
Georg Frankl ist Mitglied der Landeskoordination von DIE LINKE.SDS in Berlin.
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