Opfer Kind, Tatort Kirche. Aber warum? Die Häufung von Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche geht auf deren Umgang mit Sexualität zurück. Von Maya Mosler
Seit mehreren Jahrzehnten werden immer wieder Missbrauchsskandale in der katholischen Kirche aufgedeckt – in den USA, in Irland, Frankreich, Belgien, Chile und Australien. Ebenso in Deutschland. In der jüngst von der katholischen Kirche veröffentlichten »Missbrauchsstudie« werden für Deutschland 3677 Fälle von sexuellem Missbrauch an meist männlichen Minderjährigen genannt. Mindestens 1670 Kleriker sollen sich in den letzten 70 Jahren an Kindern und Jugendlichen vergangen haben. 4,4 Prozent aller Kleriker waren demnach mutmaßliche Missbrauchstäter.
Kritik an der »Missbrauchsstudie«
Allerdings gibt es massive Kritik von fachlicher Seite, die den Bericht und sein Zustandekommen scharf kritisieren. Die Akten seien manipuliert worden: In zwei von 24 Diözesen Deutschlands wurden sie ganz vernichtet. Die Autoren der Studie hatten selbst keinen Zugriff auf die Originalakten. Alle Archive und Dateien wurden von Kirchenpersonal selbst durchgesehen und erst dann den Autorinnen und Autoren zugänglich gemacht. Nicht in den Bericht aufgenommen wurden Sexualstraftaten, die in Ordensgemeinschaften verübt wurden (z.B. Benediktinergymnasium Ettal), Vorfälle in katholischen Kinderheimen, auch nicht die 500 Opfer von körperlicher und sexueller Gewalt bei den Regensburger Domspatzen und ebenso wenig Sexualstraftaten in deutschen Diözesen, die direkt an die obersten Kirchenbehörden in Rom gemeldet worden waren. Der Kriminologe Christian Pfeiffer urteilt über die Studie: »Der Täterseite die Datenanalyse zu übertragen, geht gar nicht.« Damit mache sich die Kirche unglaubwürdig. Pfeiffer war ursprünglich mit der Durchführung der Studie beauftragt worden, aber später von der Aufgabe entbunden worden, nachdem er sich über Zensur durch die Kirche und Intransparenz beschwert hatte.
Sexueller Missbrauch von Kindern in Deutschland
Natürlich findet sexueller Missbrauch von Kindern nicht nur bei der Katholischen Kirche statt. Die 2006 von der Bundesregierung gegründete unabhängige Kommission »Hilfe für Opfer sexuellen Missbrauchs« ermittelte, dass in mehr als 70 Prozent der bei ihr gemeldeten Fälle (über 1000 im ersten Jahr) der Missbrauch in der Familie oder im sozialen Umfeld der Familie stattgefunden hatte. Nach Angaben des Regierungsbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs fanden 25 Prozent aller Missbrauchsfälle im engsten Familienkreis statt, 50 Prozent im »Sozialen Nahraum beziehungsweise im weiteren Familien- und Bekanntenkreis«. Also beispielsweise Nachbarn oder Personen aus Einrichtungen oder Vereinen, die die Kinder und Jugendlichen gut kennen. Missbrauch findet zu 80 bis 90 Prozent durch Männer und männliche Jugendliche statt, zu etwa 10 bis 20 Prozent durch Frauen und weibliche Jugendliche.
Hat die katholische Kirche eine besondere Schuld?
Trotzdem bestätigen die jüngere Berichte aus Irland, Australien, USA und jetzt eben auch aus Deutschland das Bild einer weit verbreiteten Missbrauchspraxis in der katholischen Kirche, ebenso eine Praxis der Verschleierung und Leugnung dieser Praxis durch höchste Kirchenstellen. Wieso findet der Missbrauch von Kindern in pädagogischen Einrichtungen der katholischen Kirche im Vergleich zu anderen Einrichtungen überproportional häufig statt? Die katholische Kirche weist eine besondere Schuld der Kirche aufgrund ihrer repressiven Sexualmoral und dem Zölibat energisch von sich. Der Zölibat ist die von der katholischen Kirche erzwungene Verpflichtung für Priester, ein Leben ohne Ehe, Sex und Kinder zu führen.
Zölibat und Missbrauchspraxis
Dabei kommt die Missbrauchsstudie selbst zu einer interessanten Aufdeckung des Zusammenhangs von Zölibat und Missbrauchspraxis. Von den nicht unter dem Zölibatsgebot stehenden hauptamtlichen Diakonen waren nur 1,0 Prozent Sexualstraftäter, von den Priestern mit Zölibatsverpflichtung waren es 5,1 Prozent. Schon bald nach der Aufdeckung der besonderen Verwicklung der Kirche in den sexuellen Missbrauch von Kindern gab es bei den obersten »Würdenträgern« Versuche, die Verantwortung auf andere gesellschaftliche Entwicklungen und Institutionen abzuwälzen.
Ist die »sexuelle Revolution« Schuld?
So machte der langjährige Militärbischof Walter Mixa 2010 auch die »sexuelle Revolution« der 1960er und 1970er Jahre für einen zunehmenden Missbrauch von Minderjährigen auch in kirchlichen Einrichtungen verantwortlich. Ähnlich äußerte sich Kardinal Bertone, der ehemalige politische Chef des Vatikans und die rechte Hand von Papst Benedikt, der nicht namentlich genannte Psychologen »zitierte«, die einen Zusammenhang zwischen Pädophilie und Homosexualität festgestellt haben wollen. Diese Äußerungen haben zu Recht einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, nicht nur unter Schwulen- und Lesbenverbänden. Ein »Argument« Bertones ist, dass laut Untersuchungen des Vatikans 60 Prozent der Missbrauchsopfer das gleiche Geschlecht wie die Täter hatten. Doch mit der gleichen »Berechtigung« könnte man behaupten, Heterosexualität sei an den restlichen 40 Prozent der Missbrauchsfälle schuldig. Da bei den Missbrauchsfällen in den Familien die Mehrheit der Opfer Mädchen und die Mehrheit der Täter Männer sind, könnte man umgekehrt auch behaupten, Heterosexualität sei dort die Ursache für den Missbrauch.
Was sind die Ursachen von Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche?
Aber was ist dann eine schlüssige Erklärung? Eine gängige These besagt, dass die pädagogischen Berufe Menschen anziehen, die sexuelle Vorlieben zu Kindern haben. Pädagogische Berufe gibt es aber viele – das erklärt die Häufung bei der katholischen Kirche nicht. Andere sagen, dass der autoritäre Charakter der kirchlichen Institutionen, das extreme Machtgefälle zwischen Priestern beziehungsweise Erziehern und Kindern sexuellen Missbrauch begünstigt, der ja auch ein Machtmissbrauch ist. Da ist sicher auch etwas Wahres dran, doch auch so erklärt sich die Häufung nicht: Abhängigkeit und Unterordnung kennzeichnen die zwischenmenschlichen Beziehungen in den meisten Institutionen der bürgerlichen Klassengesellschaft. Eine Rolle spielt sicher, dass Klosterschulen und kirchliche Heime geschlossene Räume sind, die keiner öffentlichen Kontrolle unterliegen. Die Kinder sind dem Aufsichtspersonal ausgeliefert.
Der repressive Umgang mit Sexualität
Aber der Schlüssel zum Verständnis der Problematik ist der repressive Umgang mit Sexualität. Die katholische Kirche pflegt ein völlig eindimensionales Bild von Sexualität – sie ist Mittel zur Fortpflanzung, alles andere ist Sünde, die über das Ventil der Beichte wieder erlassen wird. Der Zölibat ist Ausdruck dieser repressiven Sexualmoral – und Kern des Problems. Die Priester werden mit ihren sexuellen Problemen und Fantasien alleingelassen, übrigens auch schon während ihrer Ausbildung. So ist eine reife sexuelle Befriedigung mit anderen Erwachsenen quasi gar nicht erfahrbar. Die Autorinnen und Autoren des Buchs »Das Spektrum der Sexualstörungen und ihre Klassifizierbarkeit« gehen davon aus, dass nur 10 Prozent derjenigen, die Kinder als Sexualobjekt begehren, tatsächlich pädophil sind. Nach Schätzungen der Wissenschaftler sind 80-90 Prozent derjenigen, die sexuellen Missbrauch an Kindern begehen, dem so genannten »regressiven Tätertypus« zuzuordnen: Seine primäre sexuelle Orientierung ist auf Erwachsene gerichtet. Aufgrund der leichten Verfügbarkeit von Kindern, sowie wegen Problemen mit erwachsenen Sexualpartnern greift er zur sexuellen Befriedigung auf Kinder zurück. Man spricht deshalb auch von einem Ersatzobjekttäter. Diese Tätertypologie gibt uns einen Hinweis darauf, warum katholische Priester häufiger Täter werden.
Was ist eine »reife sexuelle Entwicklung«?
In diesem Kontext ist es wichtig zu verstehen, was eine »reife sexuelle Entwicklung« bedeutet. Denn die Sexualität beim Menschen unterscheidet sich vom Tier. Nach Sigmund Freud ist der Sexualtrieb zwar eine biologische Größe, die Formen seiner Befriedigung unterliegen aber gesellschaftlichen, historischen Normen, die ihrerseits einem ständigen Wandel unterworfen sind. Bekannter Weise galt im antiken Griechenland die Knabenliebe, also männliche Homosexualität mit Heranwachsenden, als höchste Form der Liebe – die Kehrseite davon war, dass die Frau als minderwertig und »schmutzig« angesehen wurde. Den größten Teil seiner Kulturgeschichte hat der Mensch in polygamen Beziehungen zusammengelebt. In unseren Gesellschaften gilt die Monogamie, die Einehe, als »normal«. Die hohe Scheidungsquote und die weite Verbreitung von Prostitution zeigen jedoch, wie brüchig diese »Normalität« ist.
Ein freiwilliges intimes Verhältnis unter Gleichen
Unabhängig von den gerade gängigen Normen definiere ich »reife Sexualität« als ein freiwilliges intimes Verhältnis unter Gleichen. Sado-Maso-Spiele, die auf gegenseitigen Absprachen beruhen, sind für mich auch eine Form reifer Sexualität, »normaler« Beischlaf gegen den erklärten Willen eines Beteiligten hingegen nicht – insbesondere, wenn derjenige, der diese Grenze überschreitet, genau dadurch einen Lustgewinn erzielt. Kinder als Objekt sexueller Befriedigung zu betrachten ist eine Form misslungener sexueller Reifung, die Ausprägung einer Perversion.
Zwar hat auch Sigmund Freud Freud jede sexuelle Befriedigung als pervers (widernatürlich oder krankhaft) bezeichnet, die von den zu seiner Zeit geltenden sexuellen Normen abgewichen sind. Als pervers galten damals alle Formen der Sexualität, außer der zwischen Mann und Frau. Die 68er-Bewegung hat jedoch zu einer Liberalisierung dieser Ansichten geführt. Heute ist klar: Keine sexuelle Beziehung, auch gleichgeschlechtliche, die auf Freiwilligkeit unter Gleichen beruht, ist pervers.
Die Linke und das Thema Kindesmissbrauch
Wie soll sich aber die Linke heute zum Thema Kindesmissbrauch positionieren? Ich finde, wir müssen deutlich machen: Wir sind gegen Sexualität von Erwachsenen mit Kindern, weil dies keine Sexualität unter Gleichen darstellt und bei den Opfern schwere seelische Schäden hinterlässt. Gleichzeitig sollten wir aber für einen freien Umgang mit Sexualität eintreten. In der Debatte um Kindesmissbrauch wird von manchen auch der liberale Umgang der 68er-Bewegung mit Sexualität als Grund genannt. In einem Interview mit der »Augsburger Allgemeinen« meinte der ehemalige Augsburger Bischof Mixa: »Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig. Wir haben in den letzten Jahrzehnten gerade in den Medien eine zunehmende Sexualisierung der Öffentlichkeit erlebt, die auch abnorme sexuelle Neigungen eher fördert als begrenzt.«
Solche Aussagen sind meines Erachtens ein Ablenkungsmanöver von der Verantwortung der Katholischen Kirche. Denn es ist gerade die Tabuisierung des Sexuellen, die es Kindern erschwert, sich zu verweigern und sich nach sexuellen Übergriffen erwachsenen Vertrauenspersonen anzuvertrauen. Kinder haben ein Recht darauf, ihre eigene Sexualität zu entdecken und ein Recht auf Neugier in Bezug auf Sexualität zwischen Erwachsenen. Erwachsene sollten ihnen Fragen dazu in kindgerechter Sprache beantworten. Dazu bedarf es einer feinen Balance von Distanz und Nähe. Ich sehe die nötige sexuelle Distanz zwischen Kindern und Erwachsenen nicht mehr gewahrt, wenn Erwachsene Kinder nötigen, sie anzufassen. Anders sieht es aus, wenn Kinder miteinander durch »Doktorspiele« oder allein durch Selbstbefriedung ihre Sexualität entdecken. Das zu unterbinden und den Kindern ein schlechtes Gewissen zu machen, hemmt die Entwicklung.
Was soll mit den Täterinnen und Tätern und der Bedrohung, die von ihnen ausgeht, geschehen?
Eine Frage bleibt natürlich: Was soll mit den Täterinnen und Tätern und der Bedrohung, die von ihnen ausgeht, geschehen? Der Sozialdemokrat und Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder empfahl einst: »Wegsperren, und zwar für immer!« Auch viele Medien sprechen immer wieder von hohen Rückfallquoten. Doch diese sind ein Mythos. In dem Buch »Dissexualität im Lebenslängsschnitt« werden unterschiedliche Studien zitiert, die zeigen, dass die Rückfallquote bei unbehandelten Straftätern bei 18 Prozent liegt.
Durch eine Therapie kann die Quote auf 9 Prozent halbiert werden. Therapie ist also durchaus nicht vergebene Mühe, sondern sinnvoll. Die Wirksamkeit von Therapien hängt stark vom Tätertypus ab. Beim »pädophilen Täter«, der ausschließlich durch Kinder erregt wird, ist die Therapie schwieriger. Auch der so genannte »soziopathische Täter«, dem das Quälen von Menschen Spaß macht, ist nur sehr schwer therapierbar. Diese Tätergruppen machen zusammen aber nur rund 10 Prozent der Sexualstraftäter aus. Vor ihnen muss die Gesellschaft geschützt werden. Entscheidend ist natürlich die Verfügbarkeit von qualifizierter Betreuung. Die Linke sollte sich dafür einsetzen, dass es genügend qualifizierte Therapieplätze für Sexualstraftäter gibt.
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