Rede von Karl Liebknecht (SPD) auf einer Friedenskundgebung am 14. Juli 1914. Erschienen im »Volksfreund« (Karlsruhe), Nr. 164, 18. Juli 1914.
Bei herrlichem Sonnenschein fand gestern in Condé sur l’Escaut (Nordfrankreich) eine Friedensversammlung statt, der mehr als 20.000 Arbeiter aus der ganzen Umgegend mit zahlreichen roten Fahnen und Musikkorps beiwohnten. Karl Liebknecht hatte seine Anwesenheit zugesagt, und das genügte, um dieses sonst so ruhige Plätzchen Condé sur l’Escaut, das kaum 4.000 Einwohner zählt, in einen Wallfahrtsort zu verwandeln, der – wie mir von verschiedenen Seiten versichert wurde – noch nie so viele Menschen zu sehen bekam. Außer Liebknecht waren auch der französische sozialdemokratische Abgeordnete Jean Longuet aus Paris – bekanntlich ein naher Verwandter zu Karl Marx -, ferner Maxence Roldes, Vertreter des Nationalrats der französischen Arbeiterpartei, und Vandersmissen, Generalsekretär der belgischen Arbeiterpartei, anwesend. Vormittags hatten sich die Vorstandsmitglieder der verschiedenen Arbeitersyndikate im kleinen Maison du Peuple (Volkshaus) zu einem Willkomm zusammengefunden, um dem Vertreter der deutschen Brüder für sein Erscheinen herzlichst zu danken. Liebknecht erwiderte mit einigen Worten und forderte zur immer mächtigeren Organisation auf, denn wenn auch die Kapitalisten für den Krieg, den sie allein wollen, verantwortlich sind – meinte Liebknecht -, dann dürften aber die Arbeiter nicht denken, es träfe sie keine Verantwortung, denn die Arbeiter haben die Pflicht, sich immer stärker zu organisieren und dann durch ihre Macht – denn sie sind die Macht, wenn sie es nur wollen – jede kriegerische Freveltat der heutigen militaristischen Parteien zu verhindern.
Nachmittags fand dann, nach einem wohlgelungenen Umzug, die Versammlung unter freiem Himmel auf einer großen Wiese statt. Maxence Roldes machte den Arbeitern verständlich, wie nötig es sei, sich gegen den Militarismus und gegen die industrielle Feudalität – hüben und drüben – zusammenzuschließen. Er zeigte, welch schmutzige, infame Mittel die Waffenindustrie beider Länder benutzte, um auf dieser und jener Seite zu schüren. Er erinnerte daran, wie man von Berlin aus in dem so patriotischen »Figaro« Scharfmacherartikel erscheinen ließ und wie diese Artikel dann wieder von den deutschen Kriegsparteien, die mit schwerem Gold diese Artikel selbst inserieren ließen, in Deutschland zu Rüstungszwecken ausgebeutet wurden. Wenn Deutschland seinen Krupp hat, so habe Frankreich seinen Creusot, und die Skandale, die in Deutschland mit der Krupp-Affäre enthüllt wurden, hat Frankreich genauso mit dem Creusot, und Morizet hat in der »Humanité« nachgewiesen, daß sogar kein Geringerer als der General W… in den Creusot-Skandal verwickelt ist.
Jean Longuet drückte seine Freude darüber aus, daß er heute auf französischem Boden Seite an Seite mit Karl Liebknecht sitze, um gegen den Krieg zu protestieren; mit Karl Liebknecht, dem Sohne des unvergeßlichen Wilhelm Liebknecht, der mit Bebel zusammen Begründer der großen deutschen sozialdemokratischen Partei ist. – Er erinnerte daran, wie Bebel und Liebknecht am 27. März 1872 durch das Reichsgericht zu Leipzig wegen Hochverrats zu 2 Jahren Festung verurteilt wurden wegen ihres mannhaften Betragens im Reichstage, wo sie zwei allein als Sozialisten und als Republikaner, als Mitglieder der Internationale erklärten, gegen jede Unterdrückung irgendeiner Nationalität zu protestieren, und durch brüderliche Bande alle Unterdrückten zu vereinigen suchten. Berauscht von Patriotismus, ließ der damalige Reichstag diese Helden festnehmen. Hüben und drüben der Vogesen dauern die Hetzereien einer gewissenlosen Chauvinistenbande fort. Aber warum sollen denn wir Arbeiter uns gegenseitig töten? Wir kennen uns ja nicht und haben uns nie was zuleide getan, und wir wünschen doch auf beiden Seiten nur Friede miteinander. Wenn unsere Chauvinisten und die Pangermanisten (Alldeutschen) es so nötig haben, sich zu prügeln, meint Longuet, ei, da stelle man ihnen doch schnell ein großes abgeschlossenes Feld zur Verfügung, und da sollen sie sich niedermetzeln, bis kein einziger mehr davon übrigbleibt. Dann können wir in Ruhe unsere Wege weiterwandeln und bald die Vereinigten Staaten Europas gründen, wo Gerechtigkeit, Brüderlichkeit und Gleichheit gelten.
Vandersmissen sagte, er sei der Vertreter eines kleinen Landes und könne nicht wie die Deutschen und Franzosen über Millionen Soldaten, Hunderte von Kriegsschiffen oder große Kolonialtruppen reden, aber wenn schon Belgien kaum sieben Millionen Einwohner zähle, so sei es doch auch schon von der militaristischen Verrücktheit angesteckt und habe ein Kriegsbudget von 160 Millionen. Vandersmissen schilderte die horrenden Ausgaben für Kriegszwecke, Ausgaben, die sich jährlich auf zwölf Milliarden belaufen. Was für eine immense Summe!! Zwölf Milliarden!! Und wie könnte man damit Schulen, Spitäler, Krankenheime bauen! Ist es nicht entsetzlich, daß es Arbeiter gibt, die sich und ihre Frau und Kinder hungern lassen müssen wegen Arbeitslosigkeit; es gibt Tausende und Tausende Mütter, die keine Milch haben für ihre neugeborenen armen Geschöpfe, es gibt Greise, die ihr Leben lang schwer gearbeitet haben und betteln müssen, es gibt Millionen Menschen, Männer, Frauen, Kinder und Greise, die im Winter keine Kleider haben, keine Kohlen, um sich zu erwärmen, kein Licht, um die langen Winternächte zu verkürzen, und für Mordwaffen, für Kanonen, Gewehre, Säbel, Pulver gibt man jährlich zwölf Milliarden aus! Das muß aufhören. Die Arbeiterorganisationen aller Länder müssen verstärkt werden, um diesen namenlosen Treibereien endlich ein Ende zu bereiten.
Nun kam Genosse Liebknecht, von unaufhörlichen Rufen empfangen: »Vive Liebknecht!« »Vive Bebel!« »Vive Karl Marx!« »Vive l’Internationale!« »à bas la guerre!« »Vive l’Allemagne!« Ja, aus Tausenden und Tausenden Kehlen erscholl auf französischem Boden der Ruf: »Vive l’Allemagne!« als Liebknecht aufstand, um das Wort zu ergreifen. Dieses »Vive l’Allemagne!« hatte in dem Munde der Tausenden französischen Arbeiter auf französischem Boden, hundert Meter von einer Infanteriekaserne entfernt, etwas recht Ergreifendes für sich. Als die Ovationen für Liebknecht immer nicht enden wollten, erhob sich der Vorsitzende der Versammlung und drückte seine Freude darüber aus, daß die französischen Arbeiter »Es lebe Deutschland!« rufen, damit sei aber nicht das Deutschland der Hohenzollern, der Krupp, der deutschen Waffen- und Munitionsfabriken, der Liebert oder der ganzen militaristischen Clique gemeint, sondern das Deutschland der Goethe und Schiller, das Deutschland der Kunst, der Wissenschaft, der Literatur und hauptsächlich das sozialdemokratische Deutschland.
Gen. Liebknecht machte hierauf den Zuhörern verständlich, wie lächerlich die Grenzen sind. Was bedeuten Grenzen? Was sind Grenzen? Was bezwecken Grenzen? Vorgestern in Berlin, gestern über Rheinland und Westfalen in Belgien, in Lüttich und Charleroi, heute im großen industriellen Viertel bei Valenciennes; überall und überall arme Arbeiter, die mühsam um ihr tägliches Brot kämpfen gegenüber einer Handvoll reicher Ausbeuter, die über Millionen und Millionen verfügen. Wir Arbeiter haben keine Grenzen nötig; diese dienen nur gewissen Schichten jedes Landes, denen alle Mittel gut genug sind, die Völker zu verhetzen. Wenn wir dem Chauvinismus erfolgreich entgegentreten wollen, dann gibt’s vor allen Dingen das eine Mittel: die Arbeiterorganisation. Es muß dahin gearbeitet werden, daß die Arbeiter aller Länder ihren Willen dank ihrer Einigkeit durchsetzen und durch ihre Macht, die sie in der Tat besitzen, alles niederwerfen, was sich der Emanzipation der Arbeiterklasse und dem Vormarsch zur Gründung der Vereinigten Staaten Europas widersetzt. Liebknechts Aufruf zur Sammlung aller Kräfte der Internationale gegen den Militarismus, zur Sicherung des Friedens fand stürmischen Beifall. Eine junge Arbeiterin trug dann La Marseillaise de la Paix von Lamartine vor. Eine Resolution, worin die zu vielen Tausenden versammelten Arbeiter dem Genossen Liebknecht Für sein Erscheinen dankten, sich verpflichteten, alles, was in ihren Kräften steht, gegen den Krieg zu tun, wurde einstimmig und begeistert mit den Rufen: »Nieder mit dem Krieg!« »Es lebe der Friede!« »Es lebe Deutschland!« »Es lebe die Internationale!« angenommen, und unter Absingen sozialistischer Lieder zogen alle – die roten Fahnen weit aufgerollt – ins ruhige Städtchen und nach ihren Orten zurück, ohne daß die schöne Versammlung irgendwie gestört wurde.
N. B. Es läge nach meiner Ansicht sehr im Interesse der heiligen Sache des Friedens, wenn derartige internationale Versammlungen viel öfter stattfinden würden und wo auch Arbeiter neben bekannten Abgeordneten das Wort ergreifen würden, auch wenn es eine noch so kurze Ansprache wäre. Die Arbeiter müssen sich kennenlernen, wenn sie international denken lernen sollen. Scheidemann, Frank, Liebknecht waren in Frankreich; das genügt nicht; sie und andere, von Arbeitern begleitet, müssen wiederkommen, oft kommen, und französische Abgeordnete, von französischen Arbeitern begleitet, müssen Deutschland bereisen. Bülow hat zwar seinerzeit Jaures ausgewiesen, aber das hat der sozialdemokratischen Sache nichts geschadet. Ob Bethmann Hollweg wie sein Vorgänger handeln würde? Wenn die kaiserlichen und königlichen staatserhaltenden Elemente heute in Straßburg, morgen in Mannheim, bald in Frankfurt, bald in Leipzig, in Hamburg oder München gezwungen sind, derartige vexatorische Maßnahmen gegen die Friedenskämpfer zu ergreifen, so kommen diese Maßnahmen ja doch wieder der Friedensidee zugute, und um so heftiger, energischer würden dann in den Städten, wo man gegen französische Redner vorgegangen ist, die Ansprachen der anwesenden deutschen Redner ausfallen. Das Volk muß aufgeklärt werden, und der Kampf gegen den Militarismus darf keine Minute unterbrochen werden, wenn wir ernstlich auf einen Sieg unserer Sache rechnen wollen.
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