In der Nacht vom 12. Auf den 13. Juli hat die Eurogruppe unter Führung des deutschen Finanzministers der griechischen Regierung ein Abkommen aufgezwungen, das laut führenden Wirtschaftsexperten und Internationalem Währungsfonds (IWF) nicht dazu führen wird, dass Griechenland jemals seine Schulden wird zurückzahlen können. Warum haben trotzdem gerade die Vertreter der Kreditgeberländer so vehement auf diesem Programm bestanden, welche rationale Überlegung, welche Logik steht hinter dem Kürzungsprogramm für Griechenland? Von Christian Schröppel
Die Schärfe des Programms wird zuweilen als Folge neoliberalen Irrglaubens, manchmal auch als Resultat von Rachegelüsten gegenüber der von der linken Partei Syriza gestellten griechischen Regierung gedeutet. Es ist nicht auszuschließen, dass solche Motive bei einigen Politikern in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, eine Rolle gespielt haben. Und sicherlich hat bei Regierungsvertretern, besonders aus Spanien und Portugal, auch eine Rolle gespielt, dass sie linke Opposition zu ihrer neoliberalen Politik im eigenen Lande entmutigen wollten. Dennoch greifen diese Erklärungen zu kurz.
Das Programm wird unbestritten zu einer weiteren Vertiefung der Wirtschaftskrise in Griechenland, zu einem Anstieg der Schulden sowohl absolut als auch insbesondere im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung des Landes und zu einer massiven weiteren Verarmung weiter Teile der griechischen Bevölkerung führen. In der öffentlichen Debatte bestreitet das niemand, höchstens wird prognostiziert, dass dieses Programm irgendwann, in einer nicht absehbaren Zukunft, zur Grundlage für eine Erholung werden könnte.
Mit anderen Worten, Bundesfinanzminister Schäuble und seine Kollegen haben Griechenland geopfert, zum Wohle Europas, also der Europäischen Union und des Euros, wie sie behaupten. Was genau verstehen sie darunter?
»Europa der Stabilität«
In seiner Gründungsphase wurde die Europäische Union als Verkörperung eines Europas des Friedens, des Wohlstands und der Angleichung der Lebensverhältnisse in den verschiedenen Ländern der Europäischen Union beworben. Heute spricht Bundeskanzlerin Merkel von einem »Europa der Stabilität«, in dem verbindliche Regeln gelten müssen. Die Folgen der Austeritätspolitik in Griechenland, aber auch in den anderen von der Finanzkrise betroffenen Staaten, legen nahe, dass es hierbei nicht um Stabilität im Sinne sozialer Sicherheit, sozialen Zusammenhalts oder politischer Kontinuität geht.
Mit Stabilität ist gemeint: Die Grundlagen eines Europas der Konkurrenz, das sich in einen Unterbietungswettlauf mit anderen Regionen der Welt begibt, dürfen nicht angetastet werden. Zu diesen gehören: Ein einheitlicher Binnenmarkt, auf dem möglichst unbegrenzte Konkurrenz herrscht, eine zentralisierte Kartellpolitik und vereinheitlichte Produktstandards, freier Kapitalverkehr und eine gemeinsame Währung, die durch ihre monetäre Stabilität als zweite Weltwährung neben dem US-Dollar etabliert werden soll. Das Projekt der gemeinsamen Währung, des Euro, steht im Zentrum der aktuellen Kontroverse in der Eurozone und soll daher im Folgenden näher dargestellt werden.
Der Euro als Leitwährung
Für die Bedeutung einer Währung spielt die Größe des Wirtschaftsgebiets eine wesentliche Rolle. Denn nur, wenn eine Währung in einem großen Wirtschaftsraum als gesetzliches Zahlungsmittel etabliert ist, hat sie aufgrund ihrer Liquidität die Möglichkeit, zu einer weltweiten Schlüsselwährung zu werden. Liquidität bedeutet in diesem Zusammenhang, dass auch große Geldbeträge, bis in die Milliarden hinein, getauscht werden können, ohne dass dies zu größeren Schwankungen des Wechselkurses führt.
Um eine Währung als Leitwährung etablieren zu können, muss sie jedoch eine weitere Bedingung erfüllen. Sie muss als »ruhender Pol« eine möglichst risikofreie Basis für die Kapitalakkumulation bieten. Eine Währung, die einem sicher vorhersehbaren Pfad niedriger Inflation folgt, führt dazu, dass Kapitalbesitzer bereit sind, auch zu niedrigeren Zinssätzen Geld zu verleihen. Das Ergebnis ist, dass der Euro vor allem in den Ländern, deren Preisniveau aufgrund starker Handelsverflechtungen eng mit dem Euro verbunden ist, gegenüber anderen Währungen einen Konkurrenzvorteil genießt. Tatsächlich ist die Bedeutung des Euros insbesondere als Kredit- und Reservewährung gegenüber der Deutschen Mark deutlich gestiegen.
Der Euro war ein Resultat zweier Entwicklungen. Die Deregulierung internationaler Kapitalströme in den 80er Jahren warf die Frage auf, ob die damaligen europäischen Währungen, einschließlich der Deutschen Mark als europäischer Leitwährung, gegenüber dem US-Dollar an Einfluss verlieren würden. Andererseits führten der Zusammenbruch des Warschauer Pakts und die Vereinigung Deutschlands zu einer politischen Situation, in der sich Frankreich und Deutschland schließlich auf die Einführung der gemeinsamen Währung verständigten.
In der Debatte um die Einführung des Euros in den 90er Jahren wurde bereits argumentiert, man müsse schnell handeln und könne daher nicht die politische Union, also die Errichtung eines europäischen (Bundes-)Staates, abwarten. Insbesondere Frankreich, das seinen in Folge des gegenüber der Deutschen Mark schwächeren Franc schwindenden geldpolitischen Einfluss durch die quotierte Mitsprache bei der Ausgestaltung des Euros als gemeinsamer europäischer Währung retten wollte, drang vehement auf eine schnelle Umsetzung des Projekts der Wirtschafts- und Währungsunion. Innereuropäische Konkurrenzverhältnisse, aber auch die weltweite Konkurrenz waren wesentliche Triebkräfte für die Einführung des Euros. Frankreich sah in der gemeinsamen Währung zudem die Möglichkeit, das durch die Wiedervereinigung erstarkte Deutschland in Europa zu integrieren.
Die weltweite Wirtschaftskrise von 2008 zeigte auf, dass der Euro zwar an Gewicht gewonnen hatte, aber die Abhängigkeit vom US-Dollar weiterhin groß war. Obwohl die Krise im Finanzsektor der USA ihren Ausgang nahm, führte sie zu einer weltweiten verstärkten Nachfrage nach Dollar-Liquidität. Um die Schwankungen der anderen Währungen gegenüber dem Dollar zu begrenzen, richtete US-Notenbank schließlich für viele Zentralbanken, darunter die Europäische Zentralbank, besondere Kreditlinien ein, in deren Rahmen sie US-Dollar an Banken in ihren jeweiligen Wirtschaftsgebieten verleihen konnte. Diese Erfahrung war für das europäische Kapital ebenso lehrreich wie die Krise des europäischen Wechselkurssystems 1992/93, als der französische Franc nur durch eine Intervention der Deutschen Bundesbank im Umfang von mehr als 100 Mrd. Deutsche Mark vor dem Absturz bewahrt werden konnte.
Die Euro-Krise
Welche Folgen hat die Fixierung der Währungsunion auf monetäre Stabilität für die Reaktion der europäischen Institutionen auf die Finanzkrise in den südeuropäischen Staaten und insbesondere in Griechenland? Dies soll an Hand der Entwicklung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in Europa und des Verlaufs der Wirtschaftskrise seit 2008 aufgezeigt werden.
Wesentliche Ursachen für die Krise in Südeuropa liegen in einem nicht tragfähigen Investitionsboom begründet, der sich nach der Euro-Einführung in den Ländern der »Euro-Peripherie« ereignete. Der Übergang zu einer stabilen Währung und der Wegfall von Wechselkursrisiken führten zu einem starken Anstieg von Krediten und Kapitalanlagen in diesen Ländern – viele Kredite kamen aus dem »Zentrum« der Eurozone, also aus Deutschland, Frankreich, den Beneluxstaaten und Österreich. Stärker als andere Staaten war Griechenland von einer inflationären Entwicklung betroffen, die – in der Folge, jedoch nicht als deren Ursache – auch zu einem überdurchschnittlichen Anstieg der Nominallöhne führte. Da die Europäische Zentralbank ihre Politik an der Preisentwicklung in Europa insgesamt orientiert, und da Deutschland aufgrund des Abflusses von Investitionen und wegen einer stagnierenden Lohnentwicklung eher eine deflationäre Tendenz zeigte, konnte sie den labilen Boom in den peripheren Ländern geldpolitisch nicht wirksam dämpfen. Die Krise des US-Finanzsektors war schließlich der Auslöser für das Aufbrechen der über ein knappes Jahrzehnt angewachsenen finanziellen Ungleichgewichte in Europa.
In Griechenland, aber auch in anderen europäischen Ländern, sollen heute Menschen durch sinkende Löhne und Renten, durch ihre Entrechtung als Arbeitnehmer, durch die Zerstörung öffentlicher Daseinsvorsorge und sozialer Strukturen für eine Krise bezahlen, die sie in keiner Weise selbst verursacht haben.
Unter den Bedingungen veränderlicher Wechselkurse könnte die Rückführung der Ungleichgewichte im Preisniveau und im Außenhandel durch eine Währungsabwertung bewirkt werden. Diese Option steht im Rahmen des Euros nicht zur Verfügung. Dennoch wäre es möglich, durch die Anhebung des Preisniveaus in Europa mehr Nachfrage unter anderem für griechische Produkte zu generieren und den deflationären Druck auf Griechenland zu begrenzen. Eine Transferunion, wie sie zum Beispiel innerhalb Deutschlands durch den Länderfinanzausgleich gegeben ist, könnte viele negative Folgen der Krise mindern.
Diese alternativen Wege werden jedoch nicht beschritten. Eine Transferunion liefe dem Konzept einer Gemeinschaft des freien Wettbewerbs entgegen. Hier heißt »freier Wettbewerb« nicht nur Wettbewerb zwischen privaten Firmen, sondern auch Wettbewerb zwischen den EU-Staaten um die besten gesetzlichen und sonstigen Voraussetzungen für Profite und Kapitalakkumulation. Eine Steigerung des Inflationsziels in der Eurozone würde hingegen dem Ziel einer stabilen Währung als liquides Wertaufbewahrungsmittel, widersprechen.
Ein deflationäres Programm
Die deutsche Bundesregierung, vertreten durch Bundesfinanzminister Schäuble, hat in dieser Situation gefordert, ein deflationäres Programm für Griechenland zu beschließen und die Rückzahlung neuer Schulden durch einen Privatisierungsfonds zu sichern. Die Alternative für Schäuble: Griechenland tritt aus der Eurozone aus, ein Vorschlag, der mit der Formulierung eines »zeitlich begrenzten Ausscheidens« rhetorisch verbrämt vorgetragen wurde. Ein Programm der Belebung und Entwicklung der Wirtschaft Griechenlands ist nicht im Angebot.
Ein Ausscheiden Griechenlands aus dem Euro hätte noch verstärkt, was durch die öffentliche Diskussion der vergangenen Monate mehr und mehr ins Bewusstsein gerückt ist: die Interpretation des Euro als Verbund fester Wechselkurse mit einem besonders engen institutionellen Arrangement. Das bedeutet aber auch, dass Kapitalanleger grundsätzlich mit den Ausscheiden einzelner Länder aus dem Euro rechnen müssen. Die Folge: Investoren verlangen höhere Zinsen für Euro-Kredite in Italien als für Kredite in derselben Währung gegenüber in Deutschland ansässigen Schuldnern. Das verschlechtert die Finanzierungsbedingungen gerade in den Ländern, die Frankreich in die Währungsunion integrieren wollte, um ein Gegengewicht zu Deutschland zu bilden – Spanien, Portugal und auch Italien befinden sich auf dem Schleudersitz.
Yanis Varoufakis, der kürzlich von seinem Amt als Finanzminister in der griechischen Regierung zurücktrat, hat die Situation in der Wendung zusammengefasst, dass der deutsche Finanzminister Schäuble den Ausschluss Griechenlands aus dem Euro betreibe, um Frankreich »Ehrfurcht vor Gott« einzuflößen.
Zwei Konzepte für den Euro
Aus diesem Grund hat sich die französische Regierung am vehementesten für einen Verbleib Griechenlands im Euro eingesetzt, und es waren französische Experten, die die griechische Regierung bei der Formulierung des Programms »unterstützt« haben. So wurde die siebzehnstündige Nachtsitzung in Brüssel zu einem Showdown zwischen zwei unterschiedlichen Konzepten für die Entwicklung der Eurozone:
In dem einen, vor allem von deutscher Seite vertretenen Konzept steht die Stabilität der Währung im Mittelpunkt. Die Austeritätspolitik soll in diesem Konzept mit der stets im Raum stehenden Drohung eines Ausscheidens aus dem Euro in Europa durchgesetzt werden. Die monetäre Stabilität des Euro soll die gemeinsame Währung attraktiv für Kapitalanleger machen. Dabei wird in Kauf genommen, dass der Euro vor allem im Hinblick auf die südeuropäischen Staaten, aber in der Zukunft möglicherweise auch für Frankreich, wie ein System fester Wechselkurse wirkt. Weil die Zukunft der in diesen Staaten zirkulierenden Euro-Guthaben jedoch im Falle eines Ausscheidens aus der Währungsunion ungewiss ist, können diese Länder nicht mit voll zur Währungsunion beitragen, mit der Folge einer geringeren Liquidität des Euros. Es liegt auf der Hand, dass gerade deutsche Konzerne und Finanzinstitutionen von einer solchen Konzeption des Euros profitieren würden.
Frankreich, aber auch Italien, wollen eine Währungsunion, in der die Mitgliedschaft einzelner Länder weder politisch noch durch die Finanzmärkte infrage gestellt wird. Um die Eurozone als großen und weltweit einflussreichen Wirtschaftsraum zu sichern, müssen Regeln notfalls auf die spezifischen Situationen angepasst werden. Die Sicherung der Eurozone als einheitlichem Währungsgebiet steht somit gegenüber der monetären Stabilität im Vordergrund. In diesem Modell hätten französische, italienische oder spanische Finanzinstitute keinen Wettbewerbsvorteil gegenüber deutschen Banken.
Präzedenzfall Griechenland
Bereits in den bisherigen Verhandlungen in der Europäischen Union zu Griechenland wurde nie allein über die Krise in Griechenland verhandelt. Zunehmend wurde Griechenland zu einem Präzedenzfall, an dessen Verlauf deutlich werden würde, wie die Europäische Union in Zukunft mit Staaten verfährt, die in Schwierigkeiten geraten oder die den finanz- und wirtschaftspolitischen Vorgaben der Europäischen Union oder der Eurozone nicht folgen können oder wollen. Deshalb wurde Schäubles Vorschlag eines »Grexit auf Zeit« von anderen als Sprengsatz für die Eurozone insgesamt betrachtet.
Frankreich sprach sich gegen einen Ausschluss Griechenlands aus dem Euro aus. Der französische Wirtschaftsminister Macron sagte gegenüber der spanischen Zeitung »El País«: »Wenn wir nicht schnell handeln, wird die Eurozone aufgelöst werden« Es könne bereits in zehn Jahren so weit sein. Italien Premierminister Renzi wird von der Zeitung »Il Messaggero« mit den Worten zitiert: »Jetzt muss der gesunde Menschenverstand die Oberhand gewinnen und eine Vereinbarung gefunden werden. Italien will nicht, dass Griechenland den Euro verlässt, und zu Deutschland sage ich: Es reicht.«
Europa als Akteur in der weltweiten Konkurrenz
Aber: In beiden Konzepten geht es um die Fortentwicklung der europäischen Währungsunion zu einem durchsetzungsfähigen Akteur in der weltweiten Konkurrenz, nicht um die Menschen in Griechenland oder um die Bewahrung »europäischer Ideale«. Der ehemalige italienische Ministerpräsident und Präsident der EU-Kommission Romano Prodi, äußerte im Deutschlandfunk seine Sorge um die Entwicklung und bezieht sich dabei ausdrücklich auf die globale Position Europas: »Wir haben das Schlimmste verhindert, aber es entsteht ein tiefer Bruch zwischen Deutschland und vielen anderen Ländern. Und das besorgt mich, denn meine Idee ist die eines immer vereinteren, immer stärkeren Europa, gerüstet für die globalen Herausforderungen. Und ich frage die Politik und die Bürger in Deutschland, ob sie glauben, dass Deutschland die Herausforderungen der Globalisierung alleine schultern kann oder mit den Ländern, die ihm nahestehen.«
Nach zwei verheerenden Weltkriegen wollten die Menschen ein Europa des Friedens und der Völkerfreundschaft aufbauen. Die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist heute von diesen Zielen und Idealen weiter entfernt denn je. Ihr institutioneller Rahmen und ihre vertraglich festgelegten politischen Grundlagen sind auf ungebremste Konkurrenz nach innen und außen ausgelegt. Ein geeintes Europa, in dem die Bedürfnisse und Wünsche der Menschen im Mittelpunkt stehen, kann nur gegen diese Europäische Union und die in ihr konzentrierten – wenn auch zuweilen widerstreitenden – Interessen der nationalen Kapitale erkämpft werden.
Foto: World Bank Photo Collection
Schlagwörter: Austerität, Austeritätspolitik, Bundesregierung, EU, Euro, Eurokrise, Europäische Zentralbank, Finanzkrise, Finanzsektor, Griechenland, Inflation, Sozialabbau, Währungsunion, Wolfgang Schäuble