Mit »Deutscher Oktober« liefert der Hamburger Rapper Disarstar ein Album ab, das musikalisch und gesellschaftsanalytisch sitzt. Von Simo Dorn
Gerrit Falius alias Disarstar ist ein Hamburger Rapper, der in seinen Texten klar Stellung bezieht. Aufgewachsen in prekären Verhältnissen hat er das raue Gesicht »der Straße«, von denen die meisten deutschen Rapper erzählen, nicht nur gesehen, sondern früh im Leben am eigenen Leib gespürt. Heute ist er einer der wichtigsten Künstler im deutschen Rap. Doch anstatt seinen Werdegang zu einer neoliberalen Erfolgsgeschichte umzudeuten, ordnet er sich selbst und die eigene Rapszene in das gesellschaftliche und politische System ein und rechnet – ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen – mit beiden ab.
Die Antwort auf die liberale Arroganz heißt Klassenkampf
»Deutscher Oktober« behandelt Gewalt, Drogenmissbrauch, Rassismus, Populismus, die Akkumulation von Kapital durch Ausbeutung, Polizeigewalt, coming-of-age im Prekariat und die Gentrifizierung unserer Großstädte. Keines dieser Themen wird glorifiziert oder Teil einer Selbstinszenierung, sondern nüchtern und kritisch beschrieben. Disarstar stempelt Scheitern nicht als individuelles Versagen ab, sondern zeigt die Systematik und Notwendigkeit im Scheitern der Vielen auf: »Unser Zug fährt nicht los, es gibt nicht mal einen Bahnhof« (Großstadtfieber).
Alle Songs sind durch die Bank politisch. Jeder Vers und jedes Statement arbeiten sich stets an der Realität der deutschen Großstädte ab. Eine Realität, in der Leistung ausgebeutet wird ohne Aussicht auf Aufstieg. Eine Realität, in der Randgruppen die Mehrheit der Gesellschaft bilden und dennoch von den oberen 10 Prozent der Gesellschaft marginalisiert werden. Der Wunsch, die bestehenden Verhältnisse umzuwerfen, wird in diesen Milieus selten in akademischer Sprache und mit Marx-Zitaten formuliert. Er ist der stillschweigende Common-Sense aller, die sich einem alltäglichen Kampf der Lohnarbeit, unerfüllten Lebenswünschen und rassistischen Polizeikontrollen gegenübersehen. »Wir können uns nur selbst retten, hier wo Politiker Golf spielen und Geld fressen. Uns bleibt nur Rettungswege zu suchen. Die die uns in Ketten legen in Ketten legen. Ja wir wollen ein fettes Stück von dem Kuchen und nicht immer nur von den Resten leben« (Australien).
Auch wenn Disarstar über ein äußerst heterogenes Milieu rappt, begibt er sich anders als die meisten Medien nie in ein »Weißer Retter«-Narrativ. Im Gegenteil: Das Album kann mit insgesamt sieben Features von rassifizierten Rapper:innen aufwarten, die ihre Erfahrungen in einer bürgerlich-weißen Gesellschaft, die sich für sie nicht interessiert und ihre Ängste und Nöte nicht kennt, thematisieren. »Das Mädel ist schwer erziehbar, sie ist verloren, neben Junkies und Dealern ohne goldenen Löffel geboren« (Trauma).
Der Kampf beginnt im Klassenzimmer
Die Spaltung der Gesellschaft setzt für Disarstar nicht erst im Berufsleben ein, sondern wird bereits durch das Schulsystem gefördert. Ob man sich nach dem Abitur nach Australien aufmacht oder ob man in Nachtschichten hinter der Kasse zusehen muss, wie Freunde verhaftet und gedemütigt werden, zeigt jenen jungen Menschen, dass unser System ihnen nie zugestehen wird, wen oder was sie sich wünschen, im Leben zu erreichen.
Nicht allein die Texte, auch musikalisch ist das Album vielfältig und hebt sich vom Mainstream ab. »Deutscher Oktober« hat 12 Songs und eine Spielzeit von 36 Minuten. Die Musikvideos zu Intro (Balenciaga), Sick, Australien, Großstadtfieber und Nachbarschaft haben künstlerischen Wert und liefern eine bessere Milieu- und Gesellschaftsstudie ab als so manche studierte Soziolog:innen.
Das Album:
Disarstar
Deutscher Oktober
HAUS, März 2021
12 Tracks
als MP3 Download erhältlich
9,99 Euro
Schlagwörter: Rezension