Der zentrale Widerspruch besteht womöglich zwischen der Notwendigkeit, massenhaft zu mobilisieren, um der Unterdrückung durch das Regime standhalten und eine ernsthafte politische Alternative aufbauen zu können, und der Angst der Führung vor einer solchen Mobilisierung. Zu Recht geht sie davon aus, dass sie die elementare Klassengewalt, die eine solche Mobilisierung entfesseln könnte, nicht würde kontrollieren können. Daher ihre Wankelmütigkeit und ihre fortgesetzten Appelle an die Mitgliedschaft, sich zu gedulden und Verständnis für „die Komplexität der regionalen und internationalen Lage“ zu haben und so weiter.
Die Linke kann drei mögliche Antworten entwickeln:
Einmal könnten wir sagen, dass die Kämpfe zwischen der Muslimbruderschaft und dem Regime uns nichts angehen und wir uns darauf konzentrieren sollten, eine Alternative zu beiden aufzubauen. Das ist abstrakt gesehen auch richtig. Was bedeutet das aber in der Praxis? Eine Mehrheit der Arbeiter, Studenten und Freiberufler unterstützt die Muslimbruderschaft, in der sie den einzigen ernsthaften Herausforderer des Regimes und des Imperialismus sehen. Diese abstrakte Position kann daher die Linke nur in die Isolation und ins Sektierertum führen. Implizit bedeutete diese Haltung eine Unterstützung für das Regime gegen die Muslimbruderschaft, vor allem angesichts der gegenwärtigen Repressionswelle.
Oder aber wir steigen in ein umfassendes Bündnis mit der Muslimbruderschaft ein und verschließen die Augen vor ihren internen Widersprüchen und ihrer Unbeständigkeit , geben unsere eigene unabhängige Politik und unsere Prinzipien auf oder verbergen sie und verzichten auf Kritik an der Bruderschaft in Fragen wie Neoliberalismus, Frauen und Unterdrückung der christlichen Minderheit der Kopten im Lande. Das wäre ein besonders krasser Opportunismus, der schnell zum Zusammenbrechen jeder radikal linken Organisation führen würde.
Wir entschieden uns für eine dritte Alternative auf Grundlage der marxistischen Tradition der Einheitsfront. Sie beinhaltet die Aufnahme gemeinsamer Kämpfe mit reformistischen Organisationen wie der Muslimbruderschaft in bestimmten Fragen, auf bestimmten Gebieten, aber ohne Aufgabe unserer Unabhängigkeit und unserer offenen Kritik und Argumente.
Kannst du uns einige Beispiele nennen, was das in der Praxis bedeutet?
Während der Demonstrations- und Protestwelle um demokratische Forderungen herum – gegen die erneute Kandidatur Mubaraks und die Notstandsgesetze – gründete sich ein Komitee bestehend aus Führern der Muslimbruderschaft, Sozialisten, Nasseristen und weiteren Leuten. Das eröffnete uns die Möglichkeit, an Demonstrationen und Versammlungen teilzunehmen, die von tausenden jungen Aktivisten der Muslimbruderschaft aufgesucht wurden. Damit stießen wir eine Tür auf, um mit diesen Aktivisten zusammenzuarbeiten, ohne unsere revolutionär-sozialistischen Ideen zu verbergen. Unsere Mitglieder nahmen daran mit unseren roten Fahnen teil, sie verteilten Zeitungen und Flugblätter und stritten sich über alle möglichen politischen Fragen.
Ein zweites Beispiel war die Demonstrationsserie der Muslimbruderschaft gegen das Verbot des muslimischen Kopftuchs an öffentlichen Schulen in Frankreich. Unverschleierte sozialistische Frauen beteiligten sich an diesen Demonstrationen und verteilten eine Erklärung, dass sie das Recht von Frauen in Frankreich, das Kopftuch zu tragen, voll unterstützten, zugleich aber das Recht der ägyptischen Frauen, den Schleier abzulegen, verteidigten. Es schlossen sich viele Diskussionen und Fragen an.
Schließlich beteiligten wir uns an der gemeinsamen Organisation der Kairoer Konferenz gegen die Besatzung im Irak und in Palästina. Dazu gehörte, Aktivisten aus der ganzen Welt nach Kairo zu holen und die Frage des Imperialismus und wie er besiegt werden kann, ausführlich zu debattieren.
Du sagtest, die Muslimbruderschaft spielte keine aktive Rolle bei der Unterstützung der Streiks. Was ist mit der revolutionären Linken? Hattet ihr Einfluss auf die Arbeiter?
Die Arbeiter, mit denen wir gesprochen haben, die neue Führung der Arbeiterklasse, ist offen für viele neue Ideen. Sie sagen dir, dass sie die Muslimbruderschaft gewählt haben, dass sie aber nicht Mitglied sind. Sie stimmen für sie aus Hass auf die herrschende Partei, oder weil sie weniger korrupt zu sein scheint. Nur wenige sind ausgesprochene Anhänger der Muslimbruderschaft. Die revolutionäre Linke versucht, die verschiedenen Kämpfe miteinander zu koordinieren. Wir versuchen, die Arbeiter einer Industrie oder über Industriezweige hinweg zusammenzubringen, ihre Kämpfe zu vereinen. Dabei haben wir einigen Erfolg. Wir führen ernsthafte Gespräche unter Arbeitern verschiedener Industrien, was die nächsten Schritte sein sollen. Aber noch sind wir am Anfang.
Man hört allerseits, dass Arbeiter heutzutage nicht in der Lage seien, sich zu wehren, weil sie beispielsweise befristete Arbeitsverträge haben und sofort entlassen werden können. In den großen ägyptischen Betrieben haben sie einige Rechte, aber in den kleineren sind sie vollends rechtlos. Dennoch beteiligten sich Arbeiterinnen und Arbeiter an den Kämpfen.
Ja, es gibt Arbeiter, die sich als „Praktikanten“ von einem Dreimonatsvertrag zum nächsten durchhangeln, und das zuweilen schon seit zehn Jahren. Aber auch diese Arbeiter sind mehrfach in den Streik getreten, haben ihre Betriebe besetzt und handfeste Ergebnisse erzielt.
In der Tabakfabrik, die ich vorhin erwähnt habe, haben die Arbeiterinnen alle keine Papiere. Als die Fabrikinspektoren den Betrieb besuchten, mussten die Frauen versteckt werden.
Ein weiterer interessanter Aspekt der Arbeiterbewegung ist, dass der erste Streik in der Mehalla-Textilfabrik von den Frauen ausging . Nur wenige von ihnen haben Arbeitsverträge, und ihre Arbeitsbedingungen sind schlechter als die der Männer. In den Bekleidungsbetrieben arbeiten zu 90 Prozent Frauen, und sie waren es, die andere Betriebe aufsuchten und die Männer zum Streik aufriefen. Die meisten Frauen sind vollverschleiert, aber außerordentlich kämpferisch und blieben die ganze Nacht Seite an Seite mit den Männern in der besetzten Fabrik. Und oft führen sie die Streiks der Männer an. Wenn du den Schleier einmal ausblendest, denkst du, sie sind militante Sozialistinnen.
In welchem Tempo entwickeln sich die Kämpfe gegenwärtig? Und wie wirken sich die Streiks auf die ägyptische Gesellschaft, auf die Bauern, die Studenten beispielsweise, aus?
Alle reden von den Streiks. Vier Monate lang mindestens berichteten die bedeutendsten Zeitungen täglich darüber. Auf dem Land sind keine direkten Auswirkungen zu verzeichnen, aber es ist schwierig, das im Detail zu wissen.
Die Studenten der Muslimbruderschaft übten zeitweilig Druck auf ihre Führung aus, etwas zu unternehmen. Linke Studenten beteiligten sich sofort, oft ganz spontan, an den Kämpfen. Es gibt jetzt Anläufe, Komitees von Studenten und Arbeitern zu gründen, um die Solidarität zu koordinieren. Diese Tradition geht zurück auf die 1940er Jahre.
Gegenwärtig gibt es weniger Streiks. Aber manche Streiks, wie der der Arbeiter vom Suezkanal, sind sehr bedeutsam. Es finden nicht so viele Streiks statt, aber es ist eine neue Schicht militanter Arbeiter entstanden, ohne gewerkschaftliche Vertretung, die nun auf Neuwahl der Gewerkschaftsrepräsentanten in den Großbetrieben drängen.
Sie haben den staatlichen Gewerkschaften ein Ultimatum gesetzt: Entweder haltet ihr freie und faire Wahlen ab, oder wir spalten uns ab und gründen unsere eigene Gewerkschaft. Das hat es in Ägypten noch nie gegeben. In Mehalla al- Kubra unterzeichneten 12.000 von insgesamt 27.000 Arbeitern eine Erklärung, dass sie die Beitragszahlung an die staatliche Gewerkschaft einstellen wollen.
Die Bewegung hat ihre Höhen und Tiefen, aber es hat eindeutig eine qualitative Veränderung in der Arbeiterklasse gegeben. Jahrelang mühten sich kleine Netzwerke von Aktivisten, ohne viel zu bewegen. Dann erleben wir plötzlich diese Bewegung von zehntausenden Menschen, die ihre Forderungen durchsetzen.
Das Interview erschien zuerst in International Socialism 116. Aus dem englischen von David Paenson und Rosemarie
Nuenning.