Geschichten rund um Draculas Erben erfreuen sich großer Beliebtheit. Was die Darstellung der Blutsauger mit Kapitalismus zu tun hat, erklärt Helen Scott.
Seit jeher faszinieren Vampirgeschichten die Menschen. Nach Dracula, Nosferatu, Lestat und der Vampir-Jägerin Buffy feiert jetzt die Autorin Stephenie Meyer mit ihren »Bis(s)«-Büchern große Erfolge. Gleich vier ihrer Vampirbücher sind derzeit in der Bestsellerliste des Spiegel platziert – zwei davon auf den ersten beiden Plätzen.
Die immer wieder erzählte Geschichte von den Blut saugenden »Untoten« ist zugleich eine Metapher für die Widersprüchlichkeit unserer Welt. Das macht schon die Figur des wohl berühmtesten Vampirs der Literaturgeschichte deutlich: Graf Dracula. Geschaffen wurde er von Bram Stoker im Jahre 1897. Geprägt vom britischen Imperialismus, spiegelt der Roman die Faszination seiner Zeit für die Mystik des Ostens wider. Zugleich ist die weibliche Sexualität Quelle der Angst in Stokers Roman. Graf Dracula vergiftet weibliche Jungfrauen, um sie zu Monstern zu machen. Die drei »lüsternen, lasziven« weiblichen Vampire in Draculas Schloss rufen bei dem »anständigen« Bürger Jonathan Harker ein »verderbtes, brennendes Verlangen« hervor. Von Anfang an standen Vampire mit verbotener Begierde in Verbindung.
Andererseits drückt die Figur des Jahrhunderte alten Grafen, der ein Schloss in Transsilvanien bewohnt und sich von der örtlichen Bauernschaft ernährt, die bürgerliche Verachtung für aristokratische Dekadenz und eine parasitäre Lebensweise aus. Ebenso stellt er eine glaubhafte Allegorie des Kapitalismus und des seelenlosen Chefs dar, der seine Beschäftigten bis aufs Blut ausquetscht.
Paradoxerweise symbolisiert der Vampir gleichzeitig den Außenseiter, den unberechenbaren Anderen, der sich außerhalb der normalen Gesellschaft befindet und für diese eine Bedrohung darstellt. Dracula ist ein verführerischer Graf, aber er wird immer wieder auch als Nagetier, Reptil oder Insekt beschrieben. Selbst in seiner menschlichen Form wirkt er mit seiner weißen Haut, seinen roten Augen und seinem geschwollenen, aufgeschwemmten Fleisch abstoßend.
Francis Ford Coppolas großartige Verfilmung von 1992 fängt beide Seiten ein: Dracula ist in einem Moment der gefühlvolle Liebhaber und im nächsten ein grotesker Kadaver oder ein Fluss aus Ratten.
Im Gegensatz dazu sind die Vampire des 21. Jahrhunderts zahm und ähneln mehr romantischen Schmachtbildern als Furcht erregenden Monstern. In einer Kultur, die Jugend verehrt und den Tod fürchtet, wirkt eine solche Verkörperung von Unsterblichkeit fesselnd. Abgesehen von dieser Gemeinsamkeit repräsentieren die verschiedenen Vampire unserer Zeit jedoch sehr unterschiedliche ideologische Ansichten. Stephenie Meyers »Bis(s)«-Serie ist offen konservativ. Ein Leitmotiv in ihren Romanen ist Abstinenz: Keine Drogen, kein Alkohol und kein »Beißen« vor der Hochzeit. Die »guten« Vampire sind »Vegetarier« und ernähren sich ausschließlich von Tieren.
Meyers Heldin Bella Swan ist schmerzhaft selbstkritisch und sieht sich selbst als gewöhnlichen, uninteressanten Menschen. Sie verehrt den Vampir Edward Cullen, weil er reich, erfahren und gut aussehend ist. Einfallsreich schildert die Autorin die Entwicklung der Gefühle ihrer verunsicherten Heldin. Aber die Popularität ihrer Bücher scheint symptomatisch für eine Zeit, in der Frauenrechte heftige Rückschläge erlitten haben. Eine ganze Generation von heranwachsenden Mädchen kann sich mit einer Heldin identifizieren, die sich selbst erniedrigt und bereit ist, alles für ihren Freund zu opfern.
Es ist vielsagend, dass Bellas schlimmster Alptraum nicht darin besteht, durch einen Vampir umgebracht zu werden, sondern alt und hässlich zu werden, während ihr Liebhaber ewig jung und schön bleibt. Der Vampirbiss sticht Anti-Aging-Kosmetik und plastische Chirurgie aus.
Einige Feministen meinen in der Beliebtheit von Meyers »Bis(s)-Serie« die Sehnsucht junger Frauen nach »traditioneller Romantik« zu erkennen. Doch das erklärt nicht die vergleichbare Popularität anderer Vampirserien wie etwa »Haus der Nacht« (»House of Nights«). Die englischsprachige Romanserie von Kirstin und P.C. Cast erzählt von einer Vampirsschule für Mädchen. Von üblichen Handlungsmustern abweichend wird die jugendliche Heldin Zoey selbst zu einer Vampirin – anstatt sich in einen zu verlieben. Zoey verabscheut ihren christlich-fundamentalistischen Stiefvater und ergreift die Gelegenheit, ihrer klaustrophobischen Familie zu entkommen. Ihre neuen Freunde sind schwul und heterosexuell, schwarz und weiß, sie benutzen Handys und sind sexuell selbst bestimmt. Bemerkte schon eine Figur aus »Haus der Nacht« über den Dracula-Erfinder: »Stoker würdigte Vampirinnen herab«, so ist die Serie selber eine feministische Revision des Klassikers.
Von allen aktuellen Vampirgeschichten drückt die US-amerikanische Fernsehserie »True Blood« von Alan Ball (»Six Feet Under«) am deutlichsten die Zeitenwende der Nach-Bush-Ära aus. Die Serie beruht auf den »Sookie Stackhouse«-Romanen von Charlaine Harris. Anders als die moralisierend-selbstgerechten »Bis(s)-Serien« und das ernste »House of Nights« ist »True Blood« lustig und respektlos. Die Geschichte: Seit japanische Wissenschaftler synthetisches Blut erfunden haben, wagen Vampire ihr »Coming Out« aus dem Sarg und mischen sich unter die Bevölkerung. Anna Paquin spielt die Kellnerin Sookie Stackhouse. Sie lebt im tiefsten Süden der USA, in einem Provinzstädtchen in Louisiana. Frustriert von den engstirnigen Ansichten der Stadtbewohner und genervt von den Vorurteilen ihrer Vorgesetzten und Kollegen, nimmt sie den ersten bekennenden Vampir in der Stadt bei sich auf.
Nach einer Serie brutaler Morde fällt der Verdacht unweigerlich auf die Vampire. Sie werden bald Opfer von Diskriminierung. Entgegen der sonstigen TV-Darstellung sind die Polizisten in »True Blood« eindimensional denkende, unfähige und selbstgerechte Spießer. Die vielschichtigen Charaktere sind hingegen die einfachen Menschen dieser kleinen Stadt.
Dass sich die Fernsehserie gelegentlich in Stereotypen zu verlieren droht, steht in scharfem Kontrast zu den hervorragenden Romanen, die den Stoff für das Drehbuch lieferten. In der ersten Staffel haben die beiden schwarzen Charaktere, Sookies Freundin Tara und der schwule Fast-Food-Koch Lafayette, die besten Dialoge. In einer Episode schmeißt Tara, nachdem sie Naomi Kleins Buch »Schockstrategie« gelesen hat, ihren Job in einem Discounter. Sie erklärt: »Ich kann nicht für Arschlöcher arbeiten«, worauf Sookie antwortet: »Seit wann bist du so wählerisch?«
In einer anderen Folge wird ein Mitglied der »American Vampires League« während eines Fernsehinterviews auf die Gewaltbereitschaft von Vampiren angesprochen. Er erwidert: »Hat Ihre Art nicht auch eine brutale Geschichte der Ausbeutung? Vampire haben wenigstens nie Sklaven besessen oder Atomwaffen gezündet.«
»True Blood« macht deutlich, dass sich der Vampir-Mythos im Lauf der Zeit gewandelt hat: Einst stellte er die Bedrohung der bürgerlichen Gesellschaft durch Unterdrückte dar. Jetzt hingegen helfen die Vampire den Unterdrückten gegen die Monstrosität der kapitalistischen Gesellschaft.
Zur Autorin:
Helen Scott lehrt an der Universität von Vermont in Burlington im Nordwesten der USA. Sie schreibt regelmäßig über Literatur und Film auf www.socialistworker.org
- Eine der spannendsten neueren Vampirgeschichten ist »True Blood«. Die Serie läuft im deutschen Fernsehen, allerdings nur auf dem Pay-TV-Sender »13th Street«.
- Das neueste Buch der »True Blood«-Autorin Charlaine Harris »Ein Vampir für alle Fälle« ist auf Deutsch kürzlich erschienen.
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