{nomultithumb}Jonathan Littell: »Die Wohlgesinnten«, Berlin Verlag, Berlin 2008, 1381 Seiten, 36,00 Euro
Von Michael Ferschke
In diesem Tatsachenroman lesen wir die fiktiven Lebenserinnerungen eines ehemaligen SS-Offiziers, der, ohne Reue, über seine Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg und über die eigene Beteiligung am Holocaust berichtet.
Das Buch war in Frankreich, wo es zuerst erschienen ist, mit 800.000 verkauften Exemplaren eine Sensation. In Deutschland wird es von vielen Literaturkritikern verrissen, weil sie die ungeschminkte Erzählweise des Täters, sowie die zum Teil klischeehaften und pornographischen Elemente, für unangemessen gegenüber dem geschichtlichen Bezugsrahmen des Holocaust halten.
Tatsächlich mischen sich Fiktion, Wahn und die sexuellen Fantasien des Erzählers mit den wahren historischen Ereignissen. Allerdings verleiht dies der Figur des intellektuellen SS-Obersturmbannführer Max Aue eine sehr realistische Gestalt, so dass sich die Erzählung über große Strecken wie eine tatsächliche Autobiographie liest.
Die Geschichte beginnt 1941. Max Aue folgt der 6. Armee auf ihrem Russlandfeldzug und beschreibt seine Arbeit bei den SS-Einsatzgruppen. In Polen und der Ukraine setzen sie das entsetzliche Programm der Judenvernichtung ins Werk und entwickeln dabei immer neue Methoden, um den Massenmord durchzuführen, der schließlich seinen Höhepunkt in den Gaskammern der Vernichtungslager findet. Die geschichtlichen Bezugspunkte der Erzählung sind sehr gut recherchiert: Die Namen der maßgeblichen Beteiligten sowie der Orte der Handlung sind real. Schauplätze des Buches sind Polen, die Ukraine, der Kaukasus, Stalingrad, Auschwitz sowie das kriegszerstörte Berlin. Der Erzähler trifft Adolf Eichmann, Heinrich Himmler und viele andere weniger bekannte Nazifunktionäre, erlebt sie teilweise von ihrer privaten Seite.
Schrecklich ist die detailgetreue Schilderung des Massakers von Babi Jar, bei dem über 33.000 Juden in einer systematisch durchgeplanten Aktion, wie auf einem über mehrere Tage laufenden Fließband, Dutzend um Dutzend, erschossen wurden. Der Erzähler beobachtet und ist beteiligt, klettert selbst über Leichenberge, um Überlebenden – darunter Frauen und Kinder – ins Genick zu schießen.
Max Aue tötet nicht gerne und das Grauen des Massenmordes setzt ihm psychisch und körperlich zu; dennoch versteht er es als seine Pflicht und bekämpft alle innerlichen Zweifel. Er hält die Vernichtung der Juden für eine notwendige Angelegenheit der nationalsozialistischen Idee.
Jonathan Littells Roman folgt dem Bild, das der Hitler-Biograph Ian Kershaw vom Nazistaat gezeichnet hat: Als ein System, das angetrieben wird von der Eigendynamik bürokratischer Apparate, die in gegenseitige Konkurrenz treten, um „dem Führerwillen« auf besonders ehrgeizige Weise zu entsprechen. In diesem Prozess findet eine umfassende Radikalisierung der Mittel zur „Endlösung der Judenfrage« in allen betroffenen Instanzen statt, die zur Triebkraft der bürokratisch-organisierten Monstrosität des Holocaust wird.
Littell wirft einen Blick auf Konflikte, die zwischen den Apparaten entstanden, wenn militärstrategische oder wirtschaftliche Aspekte mit dem Ziel der Judenvernichtung in Widerspruch gerieten. Die Erzählfigur, Max Aue, findet sich mit seinen Aufgabenbereichen häufig an genau diesen neuralgischen Punkten wieder – etwa beim Versuch, die Arbeitsproduktivität der KZ-Insassen für die Kriegsindustrie zu steigern.
Max Aue ist Getriebener – von der geschichtlichen Entwicklung, sowie, im Verlauf der Erzählung in zunehmendem Maße, von seinen eigenen Wahnvorstellungen. Als Kind hatte er eine inzestuöse Beziehung zu seiner Zwillingsschwester. Seit sie in der Jugend voneinander getrennt wurden, ist er erotisch auf sie fixiert und sucht Ersatzbefriedigung in flüchtigem Sex mit Männern. Die psychische Belastung als Täter im Holocaust spült immer wieder triebhafte und teilweise ekelhafte pornographische Fantasien aus dem Unterbewussten hoch.
Die Geister scheiden sich an der Frage, ob dies eine literarisch wertvolle Erzählweise ist. Das muss vermutlich jeder für sich selbst herausfinden. Was bleibt, ist ein gut recherchierter und recht spannender Roman, der versucht, den Wahnsinn der nationalsozialistischen Judenvernichtung durch die Augen eines Täters zu betrachten. Damit ist das Buch ein wichtiger Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Holocaust.