Zum Artikel »Was uns zu Menschen macht« von Frank Eßers (Heft 12)
Frank Eßers' ansonsten hervorragender Artikel lässt eine zentrale Frage offen: Was ist eigentlich Bewusstsein?
Er weist implizit nach, dass es nicht ein direkter Ausfluss unserer Gene sein kann und führt uns in die Welt der Epigenetik ein. Allerdings hilft uns dies nur bedingt weiter, denn die Epigenetik hat letztlich einen biologistischen, zuweilen fatalistischen Ansatz, auch wenn sie Umwelteinflüssen eine große Rolle zugesteht.
Weiter könnte man meinen, Bewusstsein sei die Summe unserer Erfahrungen. Diese sind sicher eine wichtige Quelle. Aber auch diese Sichtweise behandelt das Individuum letztlich bloß als isoliertes Einzelwesen und nicht als gesellschaftliches Wesen. Marx hingegen sagte nicht, dass das »Sein« das Bewusstsein bestimmt, sondern das gesellschaftliche Sein.
Daran anknüpfend argumentierte der russische Marxist Valentin Vološinov 1929 in seinem Buch »Marxismus und Sprachphilosophie«, dass Bewusstsein ein gesellschaftliches und kein bloß individuelles Faktum sei. Individuen machen zwar ihre eigenen Erfahrungen. Wenn sie sich diese aber bewusst machen, können sie das nur in Gestalt der Sprache tun, genauer einer Ansprache, die an ein konkretes Publikum außerhalb ihrer selbst gerichtet ist. Bewusstsein gibt es daher nur in Gestalt des Dialogs.
Diese Sichtweise, die der Individualpsychologie diametral entgegenläuft, liefert den Schlüssel für das Verständnis dafür, wie revolutionäre Situationen plötzlich und unerwartet entstehen können. Es sind eben nicht die »Individuen«, die sich dann verändert haben. Sie sind vielmehr die gleichen Individuen wie zuvor, die – vor dem Hintergrund besonderer, teils durch die eigene Aktivität hervorgerufener Umstände – einen neuen Dialog auf Massenebene aufnehmen. Revolutionen bedürfen nicht einer vorangehenden »Umerziehung«.
Ein revolutionärer Dialog, oder auch nur der Dialog, der eine Streiksituation begleitet und zugleich formt, ist der Stoff jeder gesellschaftlichen Umwälzung. Aufgabe einer revolutionären Partei ist es, diesen Dialog konsequent zu Ende zu denken und ihm zur gesellschaftlichen Wirkung zu verhelfen. Der Dialog als Ausdruck des Bewusstseins unterliegt jeder kooperativen Arbeit, überhaupt jeder menschlichen Tätigkeit, auch im Alltag. Der revolutionäre Dialog schlummert sozusagen im Schoß des Kapitalismus, noch lange bevor er zum Durchbruch kommt.
David Paenson, Frankfurt/M.
Antwort des Autors auf den Leserbrief
Hallo David,
ich teile Deine Anmerkungen. Vielen Dank für die Ergänzung meines Artikels.
Frank Eßers