Alexander Billet gräbt das umfassende musikalische Erbe von Michael Jackson aus, das von seinem oft bizarren Auftreten überschattet wurde
Die letzten 15 Jahre im Leben von Michael Jackson reichen fast, um die wahre Größe dieses Künstlers zu überdecken. Wir haben miterlebt, wie der gut aussehende, charmante Popstar so viele Schönheitsoperationen durchlief, dass er schließlich aussah wie ein moderner Peter Pan. Wir haben gesehen, wie die Fallen seines beispiellosen Ruhmes sich in Verhalten niederschlugen, das mehr als bizarr war und mit exzentrisch noch freundlich beschrieben ist.
Und obendrein gab es die Skandale wegen Kindesmissbrauchs. Die Medien waren bereit, seinen seltsamen Charakter irgendwie mit seinem angeblichen Missbrauch von Minderjährigen in Verbindung zu setzen – wenige waren bereit, auch die Verbindung zum Missbrauch durch seinen Vater zu ziehen. Das alles reicht fast, um sein Erbe unter sich zu begraben. Fast, aber nicht ganz. Darum geht es den Millionen nicht, die jetzt in der ganzen Welt seinen plötzlichen Tod betrauern. Diese Geschichten sind nicht der Grund, warum wir Filmaufnahmen von Menschen sehen, die auf die Nachricht von seinem Tod hin in Tränen ausbrechen. Mitleidsbekundungen kommen nicht nur von Musik-Ikonen wie Madonna oder Paul McCartney, sondern auch von Politikern wie Nelson Mandela und Hugo Chavez. Einen solchen Einfluss kann man nicht einfach dem Vergessen anheim geben.
Jackson setzte Standards
Über einen Zeitraum von 40 Jahren haben Michael Jacksons Tanz- und Singstil weltweit Standards gesetzt wie niemand, wirklich niemand sonst außer ihm. Es wäre schwer, auch nur einen Menschen zu finden, der nicht mit seiner Musik in Kontakt gekommen wäre. Die Tatsache, dass philippinische Gefängnisinsassen das Thriller-Video nachspielen und dies zu einem Ereignis im Internet werden konnte, ist ein Beleg von vielen hierfür.
Dreizehn seiner Single-Auskopplungen wurden zu Nummer Eins-Hits. Insgesamt wurden weltweit 750 Millionen seiner Alben verkauft. Und wer immer noch Zweifel an Jacksons Erfolg hat, sollte sich fragen, ob er jemanden kennt, der nicht schon einmal versucht hat, den Moonwalk zu imitieren. Mehr muss ich wohl nicht sagen. Soul, Disco, Rock, Pop, R&B und sogar Hip-Hop – Jackson hat alle diese Stilrichtungen beeinflusst. Im Laufe des Fortschritts und der Entwicklung seiner 40jährigen Karriere fand sich Jackson immer wieder in einer Position, wo er den Ton populärer Musik angab – weil er deren schlimmsten Widersprüche verkörperte.
Michael Jacksons Kindheit
1970 führte Motown Records die Musikindustrie an. Die ersten Singles der »Jackson 5« festigten diesen Status, indem sie es allesamt an die Spitze der Billboard Hitliste schafften. Während der Erfolg einer schwarzen amerikanischen Gruppe unter Zuhörern aller Hautfarben die wachsende Reife eines Landes unter Beweis stellte, das unter dem Einfluss der damals sehr lebhaften Black Panther Bewegung (und des beinharten Marketing des Motown-Vorstandsvorsitzenden Berry Gordy) stand, war es die jugendliche, fast kindliche Unschuld der Jackson 5, die Massen von Zuhörern begeisterte.
Im Zentrum dieses Sounds stand Michael. Obwohl er bereits elf Jahre alt war, gab die Plattenfirma sein Alter als 8 an, um den Kindchenfaktor zu verstärken. Michaels außergewöhnliches Talent wurde früh erkannt. Seine helle Stimme konnte irgendwie die gefühlsmäßigen Tiefen tragen, die in Songs wie »I want you back« oder »I‘ ll be there« steckten und sie von Allerweltsliebesliedern absetzten. Indem die Jackson 5 die Hitlisten eroberten und das Quintett mit plötzlichem Ruhm überrollten, bekam Michael seine ersten traumatischen Schläge in der Musikindustrie ab.
1993 berichtete er zum ersten Mal über den körperlichen und emotionalen Missbrauch durch seinen Vater Joe. Joe war selbst früher Musiker gewesen und hatte die Gruppe in ihren ersten Tagen gemanagt. Er war so versessen auf den Erfolg der Jungs, dass er die Proben mit einem Ledergürtel in der Hand in einem Sessel überwachte. Michael berichtete: »Wenn man es nicht richtig machte, zerriss er einen in der Luft, dann hat er sich uns wirklich vorgenommen.« Die vielen Aufnahmen und Touren bedeuteten, dass Michael im Grunde genommen keine eigene Kindheit erleben konnte. Jahre später beschrieb ihn Smokey Robinson als »eine alte Seele im Körper eines kleinen Jungen«. Wurde Michael Jackson seiner Kindheit beraubt? Oder ist er nur einfach nie erwachsen geworden? Vielleicht beides?
Steigender Stern
In jedem Fall ist klar, dass er zu einem kranken Mann wurde aufgrund der frühen Geschichte seines Aufstiegs zu einer Ikone der Musikwelt. Der Einfluss der Jackson 5 verging gegen Ende der 70er inmitten von Problemen ihres Labels und einer sich wandelnden Musikszene. Während die Gruppe ihren Abstieg antrat, stieg Michaels Stern jedoch weiter. Der Erfolg seines ersten Solo-Albums, Off the Wall, von 1979 bezeugte die außergewöhnliche Begabung von Jackson und seinem Team von Songwritern. Der glitzernde Disco-Sound war unterlegt mit der Nüchternheit des Pop und schien zu verstehen, dass der Sound der 70er ausgedient hatte. Off the Wall schrieb Geschichte, indem es als erstes Album überhaupt vier Top-Ten-Auskopplungen enthielt. Es verkaufte sich 20 Millionen mal.
In Jacksons Einschätzung jedoch hatte das Album nicht die Wirkung erzeugt, auf die er gehofft hatte. Er zielte deshalb darauf, es bei seinem nächsten Versuch noch zu übertreffen. Es kann nicht bezweifelt werden, dass das Folgealbum diesen Anspruch erfüllte. Bis heute hat sich Thriller mehr als 100 Millionen mal verkauft – eine Summe, die die Sprache verschlägt. Auch wenn man es heute hört, ist es ein hervorragendes Stück Arbeit, das Elemente des Rock, Soul, Funk und R&B in sich zu einem einheitlichen Werk musikalischer Perfektion vereint. Thriller hat bleibende Maßstäbe in populärer Musik gesetzt. Jeder Trend, der sich in den 80er Jahren durchsetzte, schuldet seine Existenz diesem Album. Der klassische Eddie-Van-Halen-Riff in »Beat it« ist zu einem der Gitarren-Akte mit dem größten Wiedererkennungswerte in der Welt geworden. Und während im Laufe der 80er Jahre Pop-Musik sich in synthetischen, klebrigen Wassern verlor, bewiesen Songs wie »Billie Jean«, dass die Musik noch immer bissig, kraftvoll, sogar anrüchig sein konnte.
Und dann gab es natürlich den Titelsong selbst. Das 14-minütige Video Thriller glich eher einem Kurzfilm als sonst irgendwas und half dabei, das Musikvideo als Kunstform zu etablieren. Auf seinem Höhepunkt strahlte MTV das Video zweimal pro Stunde aus, um dem Verlangen seiner Zuschauer nachzukommen, und so erstand der Kabelsender, der damals noch in seinen Kinderschuhen steckte, in einem ganz neuen Licht. Es muss keine Übertreibung sein, zu behaupten, dass MTV ohne Jackson vielleicht nicht überlebt hätte. Indem er den Rahmen des Musikvideos erweiterte, ebnete er anderen farbigen Künstlern den Weg. Vor der Veröffentlichung von Thriller hatte MTV unter öffentlicher Kritik gestanden, weil es nicht genügend Musik von schwarzen Künstlern gespielt hatte. Als Jackson sich dieser Kritik anschloss, sah sich der Präsident von CBS Records, Walter Yetnikoff, genötigt, die MTV-Manager persönlich vorzuladen und ihnen zu erklären: »Ich gebe euch keine weiteren Videos mehr, und ich werde an die Öffentlichkeit gehen und den Leuten ,Scheiße noch mal, berichten, dass ihr keine Musik von einem Schwarzen spielen wollt.« MTV gab nach, und der Rest ist Geschichte.
Dass ein schwarzer Künstler auf dem Höhepunkt der 80er unter Ronald Reagan zu einem der beliebtesten werden konnte, ist tatsächlich bemerkenswert. Reagan lud in einem der surrealistischsten Momente der Musikgeschichte Jackson 1984 sogar ins Weiße Haus ein.
Schleichender Realitätsverlust
Auf einer tieferen Ebene spielt jedoch noch ein weiterer Widerspruch eine Rolle. Während Jackson nämlich musikalisch und gesellschaftlich Breschen schlug, wurde er selbst in den ultimativen Goldesel verwandelt. Die Musikindustrie wuchs während der 80er Jahre gewaltig und während des größten Teils dieser Zeit war Jackson ihre Galionsfigur. Es ist daher kein Zufall, dass Jackson auch in den 80ern die ersten Anzeichen seines exzentrischen und seltsamen Verhaltens zeigte. Mit Thriller war er in den exklusiven Rang eines Superstars aufgestiegen. Sein Anwalt, John Branca, brüstete sich, für Jackson mit zwei Dollar pro verkauftem Album die höchsten Tantiemen aller Zeiten gesichert zu haben. Das bedeutete nicht nur, dass der Künstler nun ein Multimillionär war, sondern auch dass er in einer nicht zu zerstechenden Blase zu leben begann. Jackson begann, sich mit Menschen zu umgeben, die, wie manche sagten, ihm nie wiedersprachen. Er machte millionenschwere Anschaffungen. Er kaufte sich einen Schimpansen namens Bubbles. Gerüchten zufolge schlief er in einem Sauerstoffzelt und versuchte, die Knochen des Elefantenmannes zu erwerben. Beide Gerüchte stellten sich als unwahr heraus, aber die Tatsache, dass Jackson sie selber in die Welt setzte, zeigt, dass er sich schrittweise von jedem Realitätsbezug verabschiedete.
Ebenfalls zu jener Zeit begann seine Hautfarbe sich merklich aufzuhellen. Bis Mitte der 80er war seine Haut mittelbraun gewesen. Manche haben vermutet, dass er seine Haut als Ergebnis eines zutiefst verinnerlichten Rassismus bleichen ließ. Der eigentliche Grund, erklärten seine Sprecher, war, dass er mit Vitiligo, einer seltenen Hautkrankheit, diagnostiziert worden sei und deshalb die entstehenden weißen Flecke auf seiner Haut mit hellerem Make-up ausgleichen musste.
Erschöpfung und Abstieg
Wie dem auch sei, unbezweifelbar machte der Sänger in dieser Zeit einige wesentliche physische Veränderungen durch. Jackson brachte seinen Wunsch nach einem »Tänzerkörper« vor und fing an, merklich Gewicht zu verlieren. Mediziner erklärten öffentlich, dass er unter Magersucht und der Körperdysmorphen Störung (KDS), einer psychisch bedingten Unzufriedenheit mit dem eigenen Aussehen, leide. Als Pop Anfang der 90er durch Grunge und Hip-Hop verdrängt und Jacksons eigenes Leben von immer neuen Skandalen durcheinander gewirbelt wurde, musste er sich anstrengen, seinen Platz unter der musikalischen Avantgarde zu behaupten. Das hinderte ihn nicht daran, weiterhin Millionen Alben zu verkaufen und weltweit die größten Stadien zu füllen. Es brachte jedoch seine wachsende Zurückgezogenheit und Erschöpfung ans Licht der Öffentlichkeit.
Anfang des neuen Jahrtausends musste seine geschwächte Stimme immer stärker technisch unterstützt werden, und seine Auftritte wurden seltener, um seinen erschöpften Körper zu schonen. Zu der Zeit, als er sich 2003 zum zweiten Mal wegen Vorwürfen des Kindesmissbrauchs vor Gericht zu verantworten hatte, hatten viele frühere Fans ihn bereits aufgegeben. Es ist auf schauerliche Weise symbolträchtig, dass Jackson als tief verschuldeter Mann zu einem Zeitpunkt aus der Welt geht, als diese von der schlimmsten Wirtschaftskrise in mehreren Jahrzehnten heimgesucht wird. Es ist auch tragisch, wenn man bedenkt, dass Popmusik zum ersten Mal in einem Jahrzehnt wieder anfängt, interessant zu werden. Ob die lange Reihe von Konzerten, die Jackson gerade für London plante, ihn wieder an die Spitze katapultiert hätte, bleibt eine Frage, die nicht mehr zu beantworten ist.
Eines jedoch steht außer Frage: Es wird nie wieder einen Künstler geben, der die musikalische Entwicklung so wie Michael Jackson beeinflussen wird. Er hat die Horizonte populärer Musik unermesslich erweitert und ihre Richtung für immer verändert. Egal, was wir von ihm als Menschen halten, wir können ihn nicht getrennt von der kranken Welt betrachten, die ihn hervorgebracht hat. Wir können ebenso wenig vernachlässigen, dass er durch seine Musik diese Welt zum Besseren beeinflusst hat – wenn auch nur ein wenig.
Aus dem Englischen von David Meienreis.
Foto: Daniele Dalledonne