Film: Gomorrha, Regie: Matteo Garrone, Italien 2008, 137 Minuten
Von Marcel Bois
Matteo Garrone hat das Genre neu erfunden. Der italienische Regisseur bricht alle Regeln des klassischen Mafia-Films: kein Marlon Brando oder Robert de Niro, keine sympathischen Paten in dunklen Anzügen und Sonnenbrillen und keine Titelmelodie, die zum mitträllern einlädt. Stattdessen zeigt „Gomorrha« dickbäuchige Mafiosi in Badelatschen und Bermudashorts, die – ganz unehrenhaft – im Solarium hinterrücks erschossen werden. Er erzählt die Geschichte des kleinen Totò, der seine Nachbarin an Auftragsmörder verrät. Und er folgt den beiden Jugendlichen Ciro und Marco, die glauben, sich mit den mächtigen Mafiabossen anlegen zu können.
Garrones Werk spiegelt das alltägliche Leben von vielen Menschen in Neapel und Caserta wider. Die beiden süditalienischen Provinzen gehören zu den ärmsten Regionen Europas: In Neapel liegt die Jugendarbeitslosigkeit bei 50 Prozent. Hier befindet sich die Hochburg der Camorra. Ähnlich wie ihre berühmte Schwester, die sizilianische Mafia, ist sie tief in der lokalen Gesellschaft verankert. Schätzungen gehen davon aus, dass die Camorra in Neapel der größte Arbeitgeber ist.
„Gomorrha« beschönigt und verheimlicht nichts. Er erzählt nicht nur von Drogendealern und Schutzgelderpressungen, sondern auch von den Verstrickungen zwischen Camorra und Politik. Er zeigt, wie die Mafia mit Produktpiraterie, Erpressung und illegaler Müllentsorgung Millionengewinne macht.
Der Film basiert auf dem gleichnamigen Tatsachenroman von Roberto Saviano. Der Autor ist in der Gegend um Neapel aufgewachsen und hat während der Recherchen für sein Buch Undercover für die Camorra gearbeitet. Sein Detailwissen verleiht Buch und Film eine enorme Authentizität. Diese wird im Film noch dadurch verstärkt, dass Regisseur Garrone an Originalschauplätzen in Scampia drehen konnte. Der Vorort von Neapel gilt als größter Drogenfreiluftumschlagplatz der Welt; ein trister Ort, der nur aus heruntergekommenen Wohnsilos besteht.
Diese erschütternde Realitätsnähe ist die große Stärke des Films, dessen Titel sich nicht von ungefähr an das biblische Gomorrha anlehnt. Hierfür gewann der Film zu Recht zahlreiche Preise, wie etwa den Grand Prix des Filmfestivals von Cannes. In Italien war er ein großer Kinoerfolg.
Aber dies ist zugleich eine der Schwächen dieses fiktiven Dokudramas. Es ist von einem italienischen Regisseur für ein italienisches Publikum gedreht worden – ein Publikum, dem vermutlich viele der Hintergründe bekannt sind. Als „externer« Betrachter wird man jedoch so manches Mal allein gelassen. Beispielsweise werden die rivalisierenden Clans zwar immer wieder genannt, aber zu welchem dieser Clans die einzelnen Akteure des Films gehören, erschließt sich dem Zuschauer nicht. Auch die vielleicht interessanteste Frage wird nicht explizit beantwortet: Warum ist die Mafia in Süditalien so mächtig, warum schließen sich ihr so viele Menschen an? Zwar lassen die Bilder die katastrophale soziale Lage als Motiv erahnen, aber der Film bleibt leider bei der Darstellung des Ist-Zustandes stehen. Ein bisschen mehr Ursachenforschung hätte hier sicher gut getan.
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