Sie läuft und läuft und läuft… Deutschlands älteste Fernseh-Soap wird 25. Sara Turchetto ist seit zwölf Jahren dabei und sprach mit marx21 über schlecht bezahlte Schauspieler und schwule Fernsehküsse.
marx21: Sara, warum sollte man sich am Sonntagabend ausgerechnet eine Seifenoper anschauen?
Sara Turchetto: Weil es nicht irgendeine Seifenoper ist, sondern die »Lindenstraße«. Die Figuren sind Menschen wie du und ich. Glamouröse, makellose Charaktere wird man dort nicht finden. Die Macher beweisen den Mut, gesellschaftlich brisante Themen wie Rassismus, Homosexualität oder den Klimawandel aufzugreifen. Außerdem wird die »Lindenstraße« nicht nur für die marktrelevante Zielgruppe der Teenager bis Mittdreißiger gemacht, sondern ist generationsübergreifend angelegt.
Als wir unser zwanzigstes Jubiläum hatten, sind wir beim Kölner Rosenmontagszug mitgelaufen und wurden von einem Moderator mit den Worten angekündigt: »Jetzt kommt die Serie ›Lindenstraße‹. Das ist wie ›Gute Zeiten, Schlechte Zeiten‹ – nur ohne ›gute Zeiten‹.« Ich fand das ganz schön, denn eine Flucht in märchenhafte Fiktion – wie in vielen Telenovelas – gibt es mit der »Lindenstraße« nicht.
Darüber hinaus versuchen wir, eine gewisse Realitätsnähe zu erzeugen – zum Beispiel durch die sogenannten Aktualisierungen. Die »Lindenstraße« wird sonntags gesendet und spielt in der Regel am vorangegangenen Donnerstag. Häufig wird eine Sequenz noch kurz vor dem Ausstrahlungstermin nachgedreht, um aktuelle Geschehnisse einfließen zu lassen. Im vergangenen Jahr saßen in der Folge, die am Abend der Bundestagswahl ausgestrahlt wurde, die Bewohner einer Wohngemeinschaft vor dem Fernseher und haben die erste Hochrechnung kommentiert, die in der Realität erst wenige Minuten vorher bekannt geworden ist.
Was heißt Realitätsnähe? Nehmen wir die Figur Tanja Schildknecht: Sie hat ihre gesamte Familie verloren, später brannte ihre Wohnung aus, und dann wurde sie auch noch von ihrer Freundin wegen eines Mannes verlassen. Ein anderes Beispiel: Alle Figuren treffen sich immer im selben Café. Sie haben keine Freunde außerhalb der Straße, in der sie leben. Wie realistisch ist das denn?
»Lindenstraße« ist eine realitätsnahe Sendung, was natürlich nicht heißt, dass sie komplett der Realität entspricht – dafür ist sie eben doch noch Fiktion. Selbstverständlich haben die meisten Lindensträßler unglaubliche Schicksale, wie zum Beispiel die Rolle des Momo: Er war Stricher, hat seinen Vater umgebracht und hatte mit Anfang dreißig einen Schlaganfall.
Aber wenn man Geschichten vermitteln will, die tatsächlich so in dieser Welt stattfinden, dann finde ich es schon in Ordnung, dies innerhalb einer Rollenbiografie so enorm zu verdichten. Das Erschreckende ist ja, dass diese Schicksale Menschen wirklich widerfahren.
Worum geht es euch denn? Wollt ihr unterhalten oder politisch sein?
Gegenfrage: Wann ist denn etwas nicht politisch? Wenn Stefan Raab bei »TV Total« Jugendliche verarscht, dann ist das auch politisch. Neulich habe ich eine Sendung von ihm gesehen, da wurden ein türkischstämmiger Junge und eine Deutsche gebeten, »ich schwimme« zu konjugieren. Und wer hat die Fehler gemacht? Möglicherweise war es eine konstruierte Situation, aber der Türke hat alles richtig gemacht und die andere hat völlig versagt. Auch wenn ich Stefan Raab normalerweise nicht mag: Die Signale, die mit so etwas gesendet werden sollen, finde ich nicht falsch.
Ein anderes Beispiel: Wenn ich bei RTL2 »Engel im Einsatz« anschaue und Verona Pooth dort einer total runtergerockten Hartz-IV-Familie hilft und deren Leben wieder richtet, dann ist das auch politisch. Genauso läuft es ja auch mit den Telenovelas: Es gibt soziologische Studien darüber, dass solche Serien, die die Flucht in eine andere, sanftere Realität ermöglichen, gerade dort Konjunktur haben, wo es den Menschen schlecht geht. Nicht von ungefähr stammt dieses Format aus den ärmeren Ländern Lateinamerikas. Seit einigen Jahren erhält es auch im deutschen Fernsehen Einzug – und zwar gerade seit jener Zeit, in der die soziale Lücke zwischen Arm und Reich immer spürbarer wurde. Zurück zum politischen Anspruch der »Lindenstraße«: Es gab oftmals Beschwerden von unserer Fangemeinde. Die sagten, die sympathischen Charaktere seien immer ein bisschen mehr links orientiert, während die Unsympathischeren eher rechts seien. Man sollte denen doch bitte sehr auch mal eine nette Partei geben und umgekehrt.
Im Jahr 1987 wurde in der »Lindenstraße« ein Kuss zweier schwuler Männer gezeigt – zum ersten Mal in einer deutschen Fernsehserie. Nach Ausstrahlung einer weiteren Folge mit einer Kuss-Szene erhielten die beiden Schauspieler Martin Armknecht und Georg Uecker mehrere anonyme Morddrohungen. War es falsch, das Thema aufzunehmen?
Offensichtlich nicht. Die Reaktionen haben doch nur die Notwendigkeit unterstrichen, dass da etwas getan werden muss. Die »Lindenstraße« hat immer Tabuthemen aufgegriffen – sei es der schwule Kuss, sei es ein Kind mit Downsyndrom, das bei uns mitspielt, oder sei es das Thema Nationalsozialismus – Klausi Beimer ist ja fast auf die schiefe Bahn gekommen.
Ich glaube, es war richtig, dass es so früh ein schwules Pärchen in der »Lindenstraße« gab. Mittlerweile ist Homosexualität ja zu einer notwendigen Zutat für jede Serie geworden. Ich finde, das ist eine positive Entwicklung.
Vor einiger Zeit hat mir der Freund meines Kollegen Gunnar Solka eine wunderschöne kleine Geschichte erzählt. Als er sich vor seiner Familie outete, hat seine Großmutter lediglich gesagt: »Na ja, das ist nicht so schlimm. Das gibt es ja auch in der ›Lindenstraße‹.« Ein schöneres Kompliment kann man nicht bekommen.
Ich erinnere mich daran, dass man sich bei euch vor einigen Jahren Plakate gegen den Irakkrieg bestellen konnte. Macht ihr als Team öfter solche Aktionen?
Ja, wir engagieren uns auch heute noch – vor allem in sozialen Fragen. Es gibt ein Sozialkomitee des Ensembles, das geleitet wird von Birgitta Weizenegger, der Ines-Kling-Darstellerin. Dort planen wir Schauspieler, wie wir soziale Projekte unterstützen können. Gegenwärtig engagieren wir uns für den Paritätischen Wohlfahrtsverband.
Davor haben wir lange Zeit die »Lobby für Mädchen« in Köln gefördert. Aber wir machen auch Aktionen auf der Straße oder bei Veranstaltungen.
Wie sieht es denn mit den Arbeitsbedingungen von euch Schauspielerinnen und Schauspielern aus?
Hmm, jetzt muss ich aufpassen, was ich sage. Ich bin ja dazu angehalten, nichts über unsere Vertragsbedingungen in der Öffentlichkeit auszuplaudern. Aber grundsätzlich kann man schon sagen, dass wir uns als Schauspieler, die bei einer Serie angestellt sind, in einer halbwegs privilegierten Situation befinden. Immerhin haben wir Planungssicherheit. Wir wissen, wie viele Folgen wir pro Jahr drehen, und können uns dementsprechend ausrechnen, wie viel Geld am Ende rauskommt. Das ist etwas, was es in dem Beruf der Schauspielerei eigentlich gar nicht gibt.
Darüber hinaus geht es bei uns wirklich sehr sozial zu. Es gibt zum Beispiel einen Lindenstraßen-eigenen Kindergarten. Das heißt, Mitarbeiter mit kleinen Kindern können weiter bei uns arbeiten – sofern sie es wollen. Auch Schwangerschaften von Darstellerinnen haben keine negativen Folgen – etwa, dass die Stelle anderweitig besetzt wird. Stattdessen wird die Schwangerschaft entweder in die Geschichte eingebaut oder es wird so gedreht, dass man den Bauch nicht erkennen kann.
Bei uns gibt es außerdem keine Hierarchien. Es ist den Machern wichtig, dass sich keine Stars herausbilden. Natürlich gibt es die Mutter Beimer oder Kultfiguren wie Klausi und Momo. Aber normalerweise sagt keiner, der mich im Café sieht: Das ist doch die Schauspielerin Sara Turchetto. Sondern die Leute sagen: Das ist doch die aus der »Lindenstraße«. Wir sind also weniger autonome Künstler als Teil eines Kollektivs, der »Lindenstraße« – was natürlich auch nachteilig für uns Schauspieler sein kann. Andere Produktionen überlegen sich gut, ob sie nicht Gefahr laufen, ein bereits »belegtes« Gesicht zu engagieren.
Wie geht es Schauspielern, die nicht bei einer Serie angestellt sind?
Deren Situation ist in der Tat nicht besonders rosig. Ich bin Mitglied des Bundesverbands der Film- und Fernsehschauspieler (BFFS), der ersten Gewerkschaft in unserem Bereich. Wir haben uns erst 2006 formiert. Und dort geht es genau um soziale Themen: Wie sind Schauspieler abgesichert? Wie soll man abgerechnet werden? Wie ist es mit Reisekostenpauschalen? Viele Schauspieler sind ja häufig auf Tournee oder drehen in anderen Städten.
Die Wirtschaftskrise hat auch vor dem Fernsehen nicht halt gemacht. Immer mehr Kollegen müssen zu schlechten Konditionen arbeiten. Manche erhalten nur noch 350 Euro Tagesgage – so viel verdient normalerweise ein Schauspielhund am Tag. Das mag im ersten Moment viel klingen, doch sollte man bedenken, dass es einem Schauspieler durchaus passieren kann, dass er auch in einem Monat nur drei bis vier Drehtage hat. Und dann ist das eben nicht viel Geld, was da zusammenkommt. Vor allem weißt du nie: Wann kann ich wieder drehen? Werde ich das nächste Casting schaffen?
Und das gilt nicht nur für Schauspieler: Ich finde es wichtig, auch das restliche Team zu erwähnen. Film und Fernsehen sind immer Gemeinschaftsarbeiten. Man denke nur an die Fahrer: Die werden morgens als Erste aus dem Bett geklingelt und kommen abends als Letzte wieder nach Hause. Auch bei den Maskenbildnern sieht es nicht anders aus. Deren Arbeitsbedingungen haben nichts mit »9 to 5«, von 9 bis 17 Uhr, zu tun. Überstunden sind an der Tagesordnung. Manchmal bekommen die gar kein Tageslicht zu sehen. Bei manchen Produktionen sind die Bedingungen richtig schlimm, da werden Dumpinglöhne oder dergleichen gezahlt. Nicht wenige Maskenbildner überlegen daher, aus dem Beruf auszusteigen.
Zurück zur »Lindenstraße«: Deine Serienfigur Marcella hatte in den vergangenen Jahren näheren Kontakt zu zwei Männern muslimischen Glaubens. Wie wird deiner Ansicht nach der Islam in der »Lindenstraße« dargestellt?
Zunächst einmal finde ich, dass der Islam erst sehr spät bei uns eine Rolle gespielt hat… Es gibt natürlich schon seit einigen Jahren die Figur Murat. Aber seine Religion ist erst durch Lisa, seine deutsche Frau, thematisiert worden. Sie ist konvertiert, hat zeitweilig ein Kopftuch getragen und die Sache insgesamt viel ernster genommen als er.
Das finde ich eigentlich einen geschickten Schachzug: Nicht der Klischeetürke, sondern die Deutsche ist die streng religiöse Muslima. Außerdem hat die »Lindenstraße« gezeigt, wofür der Islam steht – dass er auch mit Poesie und Kultur zu tun hat; dass es um Menschenrechte geht.
Dann gab es noch die Geschichte von Timo Zenker – auch ein Konvertit. Jedoch hatte er sich im Lauf der Zeit radikalisiert und wurde zum Terroristen.
Als unser Produzent Hans W. Geißendörfer mich sehr früh darauf hinwies, dass wir diese Geschichte machen würden, da habe ich erst gedacht: Oh, hoffentlich wird das gut… Ein terroristischer Anschlag in der »Lindenstraße« – lass es bitte nicht »gewollt, aber nicht gekonnt« wirken. Doch das Ergebnis fand ich dann eigentlich ganz gut. Die Drehbuchautoren haben versucht zu erklären, wie es zu der Radikalisierung kam. Zum Beispiel hat Timos Kumpan immer wieder gesagt: »Jede Sekunde stirbt gerade ein Mensch auf der Welt – und der Westen ist schuld.«
Ich hätte mir allerdings gewünscht, dass die Geschichte etwas länger erzählt wird, weil sich in so einer Geschwindigkeit vielleicht Sachen nicht beim Zuschauer so manifestieren können, wie es wünschenswert wäre.
Aber das Thema Islam insgesamt ist nicht gestorben. Die feste Rolle des Murat bleibt ja. Und natürlich werden die jüngsten Diskussionen – der Protagonisten Sarrazin, Seehofer und Wulff – auch bei uns eingeflochten werden.
Wie siehst du denn die gegenwärtige Debatte?
Ich war entsetzt, es hat mich sehr provoziert – gerade weil ich selbst auch aus einer Migrantenfamilie stamme. Meine Mutter ist Serbin, mein Vater Italiener.
Seitdem mache ich Straßenkabarett: Ich sage Deutschen beispielsweise, ich könne Ihnen meine Hand nicht reichen – schließlich habe ich Migrationshintergrund und das könnte ansteckend sein. Dunkelhäutige fordere ich auf, zu gehen, weil man hiesig Angst vor dem Schwarzen Mann habe. Was ich sehr verletzend finde, ist nicht ein einzelner Sarrazin, sondern dass so viele Leute denken: Endlich traut sich mal jemand, die Wahrheit zu sagen.
Glaubst du, dass es ein Format wie die »Lindenstraße« auch noch in 25 Jahren im deutschen Fernsehen geben wird?
Na klar! Vor allem: Es wird nicht so eine Sendung geben, sondern es wird hoffentlich die »Lindenstraße« noch geben. Sie gehört zur ARD wie die »Sendung mit der Maus« und die »Tagesschau«. Ich glaube, dass wir uns treu bleiben werden. Außerdem finde ich, dass wir uns stetig verbessern. Daher würde ich mir wünschen, dass auch diejenigen, die »Lindenstraße« nicht kennen – oder nur von damals, als Mama und Oma sie geschaut haben – sich einmal ein paar Folgen hintereinander anschauen. Und dann entscheiden, ob sie ihnen etwas gibt, oder auch nicht.
(Die Fragen stellte Marcel Bois)
Zur Serie:
»Lindenstraße« wurde zum ersten Mal am 8. Dezember 1985 ausgestrahlt. Seither läuft die Serie jeden Sonntagabend um 18:50 Uhr in der ARD. Derzeit besteht das Team aus etwa 40 Hauptdarstellern, von denen zehn von Anfang an dabei sind. Als Vorbild diente »Lindenstraßen«-Erfinder Hans W. Geißendörfer das Mehrfamilienhaus seiner Kindheit und die britische Serie »Coronation Street«.
Sara Turchetto spielt seit 1998 die Rolle der Marcella Varese in der »Lindenstraße«. Daneben betreibt sie das Projekt »Elektronische Lesung«. Mit ihrem »Lindenstraßen«-Kollegen Philipp Sonntag entwickelt sie derzeit das Bühnenprogramm »Poetenplaneten«. Sie studiert Soziologie und Philosophie.
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