Als die ersten Gewerkschaften entstanden, lehnten viele Linke sie ab. Nicht so Karl Marx – in "Lohn, Preis und Profit" diskutiert er Schlüsselfragen gewerkschaftlicher Strategie und Taktik. Win Windisch stellt die Broschüre vor.
Mitte des 19. Jahrhunderts betrat ein neuer Akteur die Arena der Geschichte: die europäische Gewerkschaftsbewegung. Ihr Erscheinen warf auch neue Fragen auf. Unter Sozialisten und Anarchisten war es umstritten, ob gewerkschaftliche Lohnkämpfe emanzipativ und unterstützenswert seien. Die Internationale Arbeiterassoziation, das erste internationale Bündnis linker Organisationen, organisierte daher – als die Zahl gewerkschaftlicher Streiks stieg – eine Debatte zu dieser Frage.
Im Mai 1865 hielt der britische Sozialist John Weston in London einen Vortrag, der die damals unter linken Kräften weit verbreitete Position wiedergab, wonach gewerkschaftliche Kämpfe lediglich eine Ablenkung vom eigentlichen Kampf für die Revolution seien und sich sogar schädlich auf die Warenpreise auswirken können. Karl Marx antwortete einen Monat später, ebenfalls in London, mit einer eigenen Vorlesung. Seine Aufzeichnungen von damals liegen uns heute in Form der Broschüre „Lohn, Preis und Profit" vor.
John Weston begründete seine Ansichten mit der ökonomischen Theorie, dass die wirtschaftliche Produktivität eines Landes eine natürlich feste Größe sei, die in direktem Verhältnis zur Bevölkerungsgröße stünde. Je mehr die Bevölkerung wachse desto mehr steige die Produktivtät einer Volkswirtschaft. Analog falle sie bei schrumpfender Bevölkerung. Daraus folgte für Weston, dass auch die Löhne nur eine bestimmte festgelegte Höhe haben können, die sie nicht überschreiten dürften. Würden die Löhne steigen, dann müssten auch die Preise steigen, weil es ja nur eine bestimmte Menge an Gütern zu verteilen gäbe. Daher argumentierte Weston, dass Gewerkschaften und ihre Forderungen nach höheren Löhnen kontraproduktiv für alle seien.
Für uns ist heute offensichtlich, dass Weston nicht Recht hatte, da wir die immense und auch schwankende Produktivität der kapitalistischen Gesellschaften vor Augen haben. Für Marx hingegen war es notwendig, im ersten Teil seines Vortrags auf die Fehler in Westons Theorie hinzuweisen und zu zeigen, dass man so weder die Höhe des Lohns noch die Entwicklung der Warenpreise erklären könne. So belegte er mit Beispielen, dass beide sich ständig ändern – und das auch unabhängig voneinander.
„Lohn, Preis und Profit" wird heute nicht wegen der Kritik an Weston gelesen, sondern vielmehr aufgrund der dann folgenden 30 Seiten (ab dem sechsten Abschnitt). Hier stellt Marx schrittweise seinen eigenen Ansatz vor und erklärt, warum es möglich und nötig ist, dass Gewerkschaften für bessere Löhne kämpfen beziehungsweise sich gegen Lohnsenkungen zur Wehr zu setzen.
Mehr Lohn im Aufschwung
Er hält es beispielsweise gerade wegen der ständigen Zyklen von Konjunktur und Rezession für notwendig, dass sich Beschäftigte in guten Zeiten für die Krise wappnen und Lohnsteigerungen erkämpfen. Damit widerspricht er den Unternehmen und der Regierungen seiner Zeit. Von diesen war zu hören, die Gewerkschaften dürften nicht durch zu hohe Lohnforderungen den Aufschwung gefährden. Tatsächlich kam es oft zu Einigungen über „moderate Lohnzuwächse". Marx entgegnete dem: „Es ist der Gipfel des Widersinns, zu verlangen, er (der Arbeiter, Anm. d. Red.) solle, während sein Arbeitslohn notwendigerweise durch die ungünstigen Phasen des Zyklus beeinträchtigt wird, darauf verzichten, sich während der Prosperitätphase schadlos zu halten."
Trotz dessen bewege sich der Spielraum der Arbeiter in relativ engen Grenzen. Marx erklärt, dass die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und die Steigerung der Produktivität dazu führen, dass der Anteil der Maschinen am Arbeitsprozess stetig zunimmt und der Anteil der menschlichen Arbeit abnimmt. Somit verschöben sich die Kräfteverhältnisse immer mehr zu Gunsten des Kapitals.
Auf die Analyse folgt aber der Einwand: „Da nun die Tendenz der Dinge in diesem System solcher Natur ist, besagt das etwa, dass die Arbeiterklasse auf ihren Widerstand gegen die Gewalttaten des Kapitals verzichten und ihre Versuche aufgeben soll, die gelegentlichen Chancen zur vorübergehenden Besserung ihrer Lage auf die bestmögliche Weise auszunutzen? Täte sie das, sie würde degradiert zu einer unterschiedslosen Masse ruinierter, armer Teufel, denen keine Erlösung mehr hilft."
Marx betont hier, wie wichtig der Kampf um einzelne Verbesserungen ist. Nur so könnten Arbeiterinnen und Arbeiter überhaupt das Selbstbewusstsein und die Methoden erwerben, die sie für eine revolutionäre Veränderung der gesamten Gesellschaft bräuchten. „Würden sie in ihren tagtäglichen Zusammenstößen mit dem Kapital feige nachgeben, sie würden sich selbst unweigerlich der Fähigkeit berauben, irgendeine umfassendere Bewegung ins Werk zu setzen."
„Sammelpunkte des Widerstands"
Für Marx stellen die Gewerkschaften den organisatorischen Kern dar, der notwendig ist, einzelne Kämpfe in eine umfassendere Bewegung zu überführen. Sie seinen „Sammelpunkte des Widerstands". Sie würden jedoch ihren Zweck verfehlen, „sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu verändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur Befreiung der Arbeiterklasse, d.h. zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems."
Nur so könnte es gelingen, dass die Arbeiterklasse sich ein revolutionäres Bewusstsein aneignet. Das heißt, sie würde zum einen erkennen, „dass das gegenwärtige System bei all dem Elend, dass es über sie verhängt, zugleich schwanger geht mit den materiellen Bedingungen und den gesellschaftlichen Formen, die für eine ökonomische Umgestaltung der Gesellschaft notwendig sind." Und zum anderen würde es bedeuten, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter verstehen, dass Ausbeutung nicht erst dann beginnt, wenn die Arbeitsbedingungen oder die Bezahlung besonders schlecht sind, sondern dass jede Form von Lohnarbeit Ausbeutung ist. Will sich die Arbeiterklasse davon befreien, so empfiehlt ihr Marx: „Statt des konservativen Mottos: ‚Ein gerechter Tagelohn für ein gerechtes Tagwerk!', sollte sie auf ihr Banner die revolutionäre Losung schreiben. ‚Nieder mit dem Lohnsystem!'"
Zum Autor:
Win Windisch studiert politische Philosophie in Berlin und ist aktiv in der Kapital-Lesen-AG von Die Linke.SDS.