Nikolai Bucharin war der Meinung, dass es keinen friedlichen Kapitalismus geben könne. In seinem Klassiker "Imperialismus und Weltwirtschaft" von 1915 erklärte er warum. Ein hochaktuelles Werk, findet Madlen Mühlpfordt.
Trotz vieler Prophezeiungen über den Aufbruch in eine neue friedliche Weltordnung nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Welt gefährlicher geworden. Georgien, Irak und Afghanistan sind nur die bekanntesten Schauplätze aktuell stattfindender kriegerischer Handlungen.
Die Rüstungsindustrie boomt und in fast allen Ländern sind die Militärausgaben erhöht worden, während für Soziales und Bildung Geld fehlt. Von den 900 Milliarden Euro an weltweiten Rüstungsausgaben entfallen 390 Milliarden allein auf die USA. Nur mit diesem Geld könnte man alle Hungernden Menschen ausreichend ernähren. Die Waffen werden nicht nur verkauft, sie kommen auch zum Einsatz und morden. 2.500 US-Soldaten sind seit dem Einmarsch in den Irak durch den irakischen Widerstand getötet worden. Die Sterblichkeitsrate der irakischen Bevölkerung ist seit dem US-Angriff um das 58-fache gestiegen – über 100.000 Iraker sind seit März 2003 ums Leben gekommen. Warum kommt es im Kapitalismus immer wieder zu Kriegen? Wieso kann es keinen dauerhaften Frieden geben?
Diese Frage stellte sich auch schon vor fast hundert Jahren der russische Sozialist Nikolai Bucharin. 1915, kurz nach Beginn des Ersten Weltkrieges, verfasste er seine Schrift „Imperialismus und Weltwirtschaft". Seine zentrale These: „Die Internationalisierung des Wirtschaftslebens führt (…) unvermeidlich zu einer Entscheidung der strittigen Fragen durch Feuer und Schwert."
Bucharin erklärt in seinem Buch, dass Krieg nichts anderes sei als die Fortführung der Konkurrenz auf einem bestimmten Stand der internationalen Entwicklung. Um das zu beweisen wendet er sich der Analyse der Weltwirtschaft zu. Er beschreibt, wie die individuellen Kapitalisten in einem System des Wettbewerbs um Rohstoffe, Märkte und Arbeitskräfte gefangen sind. In dieser nie endenden Konkurrenz schalten Firmen ihre Konkurrenten aus oder schlucken sie, um weiter zu wachsen. Aus dem Wettbewerb einer Vielzahl von Konkurrenten geht in einer Branche nach der anderen eine Handvoll monopolistischer Großunternehmen hervor. Die „Monopolisten" produzieren und vermarkten ihre Waren zunehmend global. Und so bleibt auch ihre Konkurrenz nicht mehr wie früher auf den nationalen Rahmen beschränkt, sondern findet im Weltmaßstab statt. Bucharin hierzu: „Nicht die Unmöglichkeit einer Betätigung innerhalb des Landes also, sondern die Jagd nach einer höheren Profitrate ist die Triebkraft des Weltkapitalismus. (…) Eine niedrigere Profitrate treibt die Waren und Kapitals immer weiter von ihrem ‚Vaterlande' weg. Aber dieser Prozess spielt sich gleichzeitig in verschiedenen Teilen der Weltwirtschaft ab. Die Kapitalisten der verschiedenen ‚nationalen Wirtschaften' stoßen hier als Konkurrenten aufeinander, und je größer das Wachstum der Produktivkräfte des Weltkapitalismus ist, je intensiver die Zunahme des Außenhandels, desto schärfer wird der Konkurrenzkampf."
Solange sich verschiedene nationale Kapitalisten innerhalb eines Landes gegenüberstanden, blieb es ein weitgehend „friedlicher" Prozess. Der Staat wachte darüber, dass die Regeln des Warentausches eingehalten wurden, aber er setzte nicht seine Armee in Bewegung, um diesen oder jenen Kapitalisten zu schützen oder zu begünstigen. Zwar wurden auch in der Epoche der freien Konkurrenz innerhalb eines Nationalstaates die kleineren von den größeren Fischen verschlungen. Freie Konkurrenz bedeutete auch hier Verdrängung, Vernichtung von Konkurrenten und Konzentration des Kapitals zu immer wenigeren und größeren Einheiten.
Aber erst, wenn dieser Prozess international wird, kommt es, so Bucharin, auch zum Umschlagen in der Form der Konkurrenz: Der internationale Preiskrieg der nationalen Monopole ist kein rein wirtschaftlicher Kampf mehr, die Nationalstaaten und die Politik werden in diesen Kampf hineingezogen. Es findet eine Verschmelzung von wirtschaftlichen (Preiswettbewerb) und politischen Maßnahmen (Einschalten der Diplomatie, Drohungen mit Wirtschaftssanktionen und sogar dem Einsatz militärischer Gewalt) des Konkurrenzkampfes statt. In der äußersten Zuspitzung geht dies bis hin zur zeitweiligen völligen Ersetzung der wirtschaftlichen durch politische Machtmittel – das heißt: zum Einsatz militärischer Gewalt im Interesse der nationalen Ökonomie.
„Die Fähigkeit zum Kampfe auf dem Weltmarkt hängt somit von der Macht und Geschlossenheit der ‚Nation‘, von ihren militärischen und finanziellen Hilfsmitteln ab", schrieb Bucharin. Die großen Konzerne und der Staat seien von einander abhängig. Dieses Band zwischen Kapitalisten und Staat mache Kriege unvermeidlich. Denn die Imperialisten müssten nicht nur ihren Zugriff auf wichtige Rohstoffe wie Öl sichern, sondern auch ihre strategische Position in der Welt ausbauen und verteidigen.
Diese Dynamik mündete mehrmals in Phasen weltumspannender Konflikte, in denen Friedenszeiten nur als Atempausen vor erneuten Zusammenstößen dienten. Kein Abkommen konnte weitere Kriege verhindern. Bucharin betonte, dass sich die Großmächte nur für kurze Zeit über eine Aufteilung der Welt verständigen könnten, weil einige von ihnen wirtschaftlich schneller wachsen als andere. Damit verändert sich auch das militärische Gleichgewicht zwischen ihnen, und die Stärkeren fordern einen größeren Anteil der Welt für sich. Die bisherige Aufteilung der Welt wird dann neu verhandelt und ausgefochten. Der Imperialismus ist also ein System der Konkurrenz zwischen einigen wenigen mächtigen Staaten um die wirtschaftliche, politische und militärische Herrschaft über den Rest der Welt.
Bei der Beschreibung des Imperialismus kritisiert Bucharin jene Theorien, die den Militarismus und die Aufrüstung als Ursache von Kriegen darstellen, als „vulgär". Er hält dem entgegen: „Eine kapitalistische Gesellschaft ist ohne Rüstungen ebenso undenkbar wie ohne Kriege. Und ebenso wie nicht die niedrigen Preise die Konkurrenz hervorrufen, sondern umgekehrt die Konkurrenz niedrige Preise erzeugt, so ist auch das Bestehen der Armeen nicht die Hauptursache und die Triebkraft der Kriege, (…) sondern umgekehrt: das Bestehen der Armeen ist dadurch bedingt, dass wirtschaftliche Konflikte unausbleiblich sind."
Als Beispiel für eine solche Anschauung, dass Aufrüstung zum Krieg führe, nennt Bucharin den führenden Theoretiker der damaligen SPD, Karl Kautsky. Dieser hatte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf die Mobilmachung zurückgeführt. Dies stelle aber, so Bucharin, „die Dinge auf den Kopf." Bucharin betonte dagegen, dass der Ausbruch des Weltkriegs 1914 ohne die ungeheure Verschärfung der ökonomischen Konkurrenz in den Jahren unmittelbar zuvor nicht zu erklären sei: „Aus diesem Grund erleben wir heute (1915), in einer Zeit, in der die wirtschaftlichen Konflikte einen Zustand der höchsten Spannungen erreicht haben, auch einen Hexensabbat der Rüstungen."
Die Imperialismustheorie von Bucharin ist alles andere als eine trockene Beschreibung der Kriege der Vergangenheit. Sie hilft jedem die wirklichen Triebkräfte hinter dem „Krieg gegen Terror" zu verstehen. Vor fast 100 Jahren geschrieben und trotzdem hochaktuell.
Zur Autorin:
Madlen Mühlpfordt ist Mitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Frieden und internationale Politik der LINKEN.
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