Dieser ständige Wunsch nach Neuem: Ob als Knarf Rellöm Trinity, Knarf Rellöm With the Shi Sha Shellöm oder aktuell als A Tribe Called Knarf, das Trio regt zum Tanzen und Nachdenken an. Von David Jeikowski
Unter Tränen beschrieb die 15-jährige Nayirah im Oktober 1990 die Gräueltaten irakischer Soldaten in Kuwait. Sie habe miterlebt, wie diese Frühgeborene aus ihren Brutkästen nahmen, um sie dann auf dem kalten Boden sterben zu lassen. Der US-amerikanische Präsident George Bush wiederholte die Geschichte in den folgenden Wochen mehrmals, Amnesty International übernahm sie in ihrem Bericht über Menschenrechtsverletzungen in Kuwait. Im Januar des darauffolgenden Jahres stimmte der US-Senat für eine Intervention im Zweiten Golfkrieg.
Im Jahr 1999 präsentierten Außenminister Joschka Fischer und Verteidigungsminister Rudolf Scharping den sogenannten Hufeisenplan der jugoslawischen Regierung zur systematischen Vertreibung der Kosovoalbaner – und legitimierten so ihre Beteiligung am Kosovokrieg. 2003 begründete US-Außenminister Colin Powell den Irakkrieg mit Bildern, die belegen sollten, dass im Land Massenvernichtungswaffen hergestellt würden. Was diesen drei Geschichten gemein ist: Sie sind frei erfunden. Nayirah stellte sich als Tochter des kuwaitischen Botschafters und ihre Rede als Werk einer PR-Agentur heraus. Die Existenz eines Hufeisenplanes konnte genauso wenig bewiesen werden wie Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen.
Lügen, die die Welt prägten
Und doch haben diese Lügen die Welt so maßgeblich geprägt, dass sie zu ganz eigenen Realitäten wurden. Nach eben solchen, mal großen, mal kleinen gemachten Wahrheiten hat die Band »A Tribe Called Knarf« nun ihr neues Album benannt: »Es ist die Wahrheit obwohl es nie passierte«. Über allem schwebt hier immer wieder die Frage nach der Deutungshoheit: Wer schafft diese »Wahrheiten« eigentlich und sind sie wirklich so in Stein gemeißelt?
Dabei muss es ja nicht immer um die große Politik gehen. Wer schreibt beispielsweise vor, dass die Liebe »the greatest thing« wäre, »a force from above« wie Frankie goes to Hollywood singen und auf die sich hier textlich und melodiös bezogen wird? Macht sie nicht eher unglücklich, diese in Musik und Fernsehen hartnäckig propagierte »Praxis of Love« (so der schöne Liedtitel)? Knarf dazu: »Vergesellschaftet die Liebe!«. Auch mal ’ne Idee.
Geschlechter hinterfragt
Und welche Debatte eignet sich besser zur Hinterfragung gesellschaftlicher Pseudoweisheit als die über Geschlechternormativität? »You think I’m a woman/ ’cause I talk like I woman/ But I’m a man/« heißt es da im Song »Gender be Good« beispielsweise ganz unprätentiös von einer tatsächlich schwer einem Geschlecht zuzuordnenden Stimme. Eine unaufwendige Kombination aus klatschender Computerdrum und NDW-artigem Sprach-Loop (»Do, do, dododo, do«) ist schön eingängig, der später einsetzende Bass und die Funk-Gitarre bringen noch ein bisschen Groove rein.
Dann heißt es: »You think I’m an animal/ […] But I’m an alien/«. Was zunächst konterkarierend wirkt, bringt die Problematik ironisch auf den Punkt: Stereotype müssen nichts mit der Realität zu tun haben. Manchmal ist es nicht einmal nötig, einer Gruppe je begegnet zu sein, um sie mit Attributen aufzuladen. Ausländer klauen in Sachsen-Anhalt Arbeitsplätze und Aliens sind grün und kommen in fliegenden Untertassen. Muss man wissen.
A Tribe Called Knarf erfindet sich neu
Nach einem kurzen, Studio-Braun-artigen Abstecher in die Welt der Hörspiele (Motto: »Keine Musik ist illegal«) geht es mit »Die Nacht« weiter Richtung Electro. Eine dumpfe Bassline lässt im Kopf nächtliche Großstadtstraßenzüge entstehen, ein satter Stampfer-Beat treibt uns den harten Asphalt herunter. Links und rechts blitzen Klang-Fragmente auf, die sich immer weiter zu einer Melodie verdichten. Wenn die Dunkelheit weicht und Synthie-Gezwitscher endlich einen neuen Tag ankündigt, erwacht mit ihm auch die Zuversicht: »Immer wenn es aussieht/ wie das Ende der Menschheit/ dann kommt etwas Neues/«.
Erneuerung und Veränderung scheinen zentrales Moment des Hamburger Trios um Knarf Rellöm zu sein. »Always different, always the same« heißt es dazu im Pressetext. Dieser ständige Wunsch nach Neuem drückt sich neben ständig wechselnden Bandnamen – dieses Mal eine Hommage an die Hip-Hop-Band A Tribe Called Quest – am deutlichsten im Song »Über 20 Geschichten« aus. In einem Affenzahn werden Biographien und Anekdoten (kultur-)historischer Persönlichkeiten angeschnitten, die jeweils eines ganz eigenen Songs würdig wären. Hier folgt Gene Simmons auf Walter Benjamin, Trotzki auf Homer Simpson.
Am Ende des Albums bleiben diverse Fragezeichen. Wenn man so will, sind es die großen Fragen der Philosophie, die hier aufgeworfen werden: Was kann ich wissen, was soll ich tun? Doch eben das ist ja die Krux emanzipatorischer Praxis – wir müssen es selbst herausfinden.
Angaben zur CD:
A Tribe Called Knarf
Es ist die Wahrheit obwohl es nie passierte
Staatsakt (Universal Music) 2015
Foto: Rasande Tyskar
Schlagwörter: Kultur, Musik