Friedrich Engels’ nicht vollendetes Werk »Dialektik der Natur« ist heute angesichts des Anthropozäns aktueller denn je. Elmar Altvater stellt uns Marx‘ engsten Freund und Genossen vor und zeigt, warum für Engels die ökologische Frage untrennbarer Teil des Klassenkampfes ist
Friedrich Engels war es, der »den Marxismus erfand«. Das behauptet Tristram Hunt schon im Titel seiner beeindruckenden Engels-Biografie. Er liegt mit dieser Einschätzung richtig. Denn zweifellos hat sich Engels nicht nur um die posthume Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des Marx’schen »Kapital« große Verdienste erworben.
Wer war Friedrich Engels?
Er war ein Leben lang der engste Freund, hat mit seinen Erfahrungen aus dem praktischen Geschäftsleben in Manchester (dem Zentrum des kapitalistischen Weltgeschehens im viktorianischen Zeitalter) die Marx’sche Kritik der politischen Ökonomie mit empirisch-historischen Illustrationen bereichert und die theoretische Entfaltung des Kapitalbegriffs mit Kommentaren und Erläuterungen unterstützt. Er war jahrzehntelang Gesprächs- und Briefpartner von Marx. Er hat auch dazu beigetragen, die Marx’sche Theorie zu popularisieren, und er war sich nicht zu fein für wortgewaltige Polemiken gegen die Kritiker der dialektischen Methode und des Marx’schen Materialismus. Engels tat dies in aller Bescheidenheit, wie Tristram Hunt hervorhebt. Von Marx sagte Engels, er war ein Genie, »wir andern höchstens Talente«. Engels überließ »die erste Violine« Marx. Er begnügte sich mit der »zweiten Violine«, »schließlich bin ich ja großenteils doch nur derjenige, der den Ruhm von Marx einerntet«, schrieb er im November 1890 an Friedrich Adolph Sorge in New York.
Kein Engels ohne Marx und andersherum
Aber Genie und Talent haben auch viele Texte gemeinsam komponiert, von der »Heiligen Familie« bis zur »Deutschen Ideologie« – und bis zum berühmtesten und politisch wie wissenschaftlich wirksamsten Text, den nicht nur talentierten, sondern genialsten vielleicht, der daher die Welt veränderte, bis zum »kommunistischen Manifest« von 1848. Daher ist ein Buch wie das von Helmut Reichelt über die »Neue Marx-Lektüre« mehr als irritierend, weil darin Friedrich Engels noch nicht einmal mit eigenen Schriften in der Ausgabe der Marx-Engels-Werke und der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA) erwähnt wird.
Kann jemand seriös über die angemessene Lektüre der Marx’schen Theorie schreiben, ohne auf Engels’ Beiträge zu ihr und zu dem, was später Marxismus genannt worden ist, einzugehen? Kann es eine kritische Marx-Lektüre ohne Engels-Lektüre überhaupt geben? Wäre Marx authentischer, wenn er sich nicht hätte in vielen Fragen von Engels beraten lassen? War es ein Fehler von Marx, zum »Anti-Dühring« von Engels einige ökonomiekritische Passagen beizusteuern? Hat er sich auf eine falsche Spur setzen lassen? Hat Engels Marx verfälscht, wie manche Marx-Interpreten ihm vorwerfen? Hätte Marx seine Theorie entwickeln können, ohne Engels Hilfe zum Lebensunterhalt (»Inl. Cheque für Pfund Sterling 40, damit Du ihn einkassieren kannst, wann Du willst, auf den Rücken gedeckt hast«, Brief von Engels vom 19.12.1882 an Marx)?
Ungewöhnliches Interesse für die Beziehung zwischen Ökonomie und Ökologie
Was ein Autor schreibt, hängt auch von den Ideen seiner oder ihrer Partner und Partnerinnen ab, aber auch von so banalen und in manchen Situationen schmerzlich fehlenden Dingen wie ausreichendem und gutem Essen, wie einer Wohnung für die Familie und einem regelmäßigen Einkommen. »Erst kommt das Essen, dann die Moral« (Bertolt Brecht) – und wohl auch die Theorie. Das sind im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts in Mitteleuropa normalerweise keine Probleme für Wissenschaftler und deshalb auch kein Thema für sie. Es waren Probleme für Marx und Engels, die sie allerdings nur selten thematisierten. Engels entwickelte ein zu seiner Zeit ungewöhnliches Interesse für das Beziehungsgeflecht zwischen Ökonomie und Ökologie im Zusammenhang der kapitalistischen Produktionsweise und in den Wissenschaften, und zwar nicht nur in den Sozialwissenschaften und in der Philosophie, sondern auch in den Naturwissenschaften. Er hat bei der Herausgabe des zweiten und dritten Bandes des »Kapital« dem Werk seinen Stempel aufgedrückt. Das war angesichts des Zustands des Manuskripts beim Tod von Karl Marx unvermeidlich. Er hat dabei aber genügend Behutsamkeit walten lassen, um Fehldeutungen zu vermeiden.
Die Entwicklung der Naturwissenschaften
Die Naturwissenschaften machten im 19. Jahrhundert einen großen Sprung nach vorn, und zwar breitenwirksam in allen Disziplinen. Der Fortschritt in der Physik von der Mechanik zur Thermodynamik, in der Chemie zum Periodensystem der Elemente, in der Geologie und Astronomie in der Folge von neuen Entdeckungen und nicht zuletzt auch in der Mathematik und in der Biologie zur Darwin’schen Evolutionstheorie oder zum Verständnis der Zelle und des Stoffwechsels. Damit war ein Begriff geboren, der metaphorisch in der Beziehung zwischen Mensch und Natur Verwendung fand und findet. Auch die Entwicklungen in der Pharmazie, der Anatomie und angewandten Medizin, in der Agrikultur waren unvergleichbar mit dem, was große Geister in den Jahrhunderten zuvor hervorgebracht hatten.
Nicht nur die Wissenschaften – die Natur- ebenso wie die Geistes- und Sozialwissenschaften – wurden bereichert, sondern auch das praktische Ingenieurwissen. So kam es, dass neue, leistungsfähige, die Produktivität der Arbeit enorm steigernde Maschinen – vor allem Werkzeugmaschinen, von denen, wie Karl Marx festhält, die industrielle Revolution ausgeht – aber auch Produktionsverfahren in den neuen Fabriken des Industriesystems auftauchten. Das waren die materialen und organisatorisch-institutionellen Voraussetzungen für den Übergang zur »reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« (Marx). Der vom Kapital angeeignete Mehrwert war nicht mehr nur Überschuss, der mit tradierten Produktionsmethoden erzeugt wird, sondern Ergebnis einer grundlegend veränderten und daher produktiveren Produktionsweise als zuvor.
Engels im Laboratorium
Engels war in Manchester mittendrin in diesem Laboratorium neuer Technologien, Organisationsformen oder Management-Praktiken. Er war ein aufmerksamer Beobachter, wie seine Geschichte der arbeitenden Klasse in England und sehr viele zu seiner Zeit aktuelle Zeitungs- und Zeitschriftenartikel belegen. Er berichtet über die Folgen der Einführung des Industriesystems für die Arbeiterklasse immer engagiert und daher auch parteiisch, ohne den Abstand des Beobachters ungebührlich einzuschränken und das Blickfeld zu verengen. Er schreibt Sozialgeschichte, die Technikgeschichte haben andere verfasst. Parteiisch zu sein, muss der Wissenschaftlichkeit keinen Abbruch tun. Engels trägt viel zum besseren Verständnis des gesellschaftlichen Naturverhältnisses bei. Er setzt sich mit den Naturwissenschaften intensiver auseinander als es heute in den Sozialwissenschaften angesichts der professionellen Spezialisierung üblich ist. Er bereichert daher mit seinen naturwissenschaftlichen Studien die Kritik der politischen Ökonomie von Marx. Das weiß Marx und holt sich deshalb immer wieder Engels’ Rat ein.
»Dialektik der Natur«
Engels selbst gesteht ein, dass er sich auf dem Feld der Naturwissenschaften häufig nicht sicherer bewegt als ein informierter Laie, er weiß also, dass er für den wissenschaftlichen Fortschritt nur unzureichend gerüstet ist. Das hat, ich komme später darauf zurück, Albert Einstein nach Lektüre von Passagen der »Dialektik der Natur« an Engels Schrift auszusetzen. Auf einige Fragen, die dem informierten Laien heute sofort einfallen, wenn das gesellschaftliche Naturverhältnis thematisiert wird, geht Engels in der »Dialektik der Natur« überhaupt nicht ein, weil diese Fragen am Ende des 19. Jahrhunderts noch gar nicht auf der Agenda standen: die Energieversorgung im Allgemeinen oder der Wandel des Energiesystems im Verlauf der industriellen Revolution von der (nachhaltigen) solaren Energiequelle zu den (erschöpflichen) fossilen Energieträgern im Besonderen, die Eingriffe in die Evolution des Lebens infolge der katastrophalen Artenvernichtung, die mit der Industrialisierung von Land- und Forstwirtschaft einsetzt, oder der drohende Klimakollaps infolge der CO2-Emisionen in die Atmosphäre. Wenn man sich heute mit der »Dialektik der Natur« auseinandersetzt, 120 Jahre nach dem Tod Friedrich Engels, wird man auf diese Themen eingehen und prüfen müssen, ob Engels’ Schrift zu deren Analyse und zu den Lösungen der heutigen ökologischen Probleme – den Begriff hat zwar Ernst Häckel 1866 erstmals eingeführt, aber er war zu Engels’ Zeiten nicht verbreitet – einen Beitrag leisten kann.
Das planetarische Ökosystem
Damit wird auch die Frage nach dem Verhältnis der Kritik der politischen Ökonomie, wie Marx sie in den drei Bänden des »Kapital« entfaltete, und der Dialektik der Natur aufgeworfen. Das ist die Frage nach der Analyse des von Engels so bezeichneten »dialektischen Gesamtzusammenhangs«, der letztlich – heute wissen wir dies besser als vor mehr als 100 Jahren – das planetarische Ökosystem umfasst. Jedenfalls weisen Konzepte wie die des Anthropozän oder des Kapitalozän oder die Erweiterung der Weltsystemanalyse in der Tradition von Fernand Braudel, Immanuel Wallerstein und Giovanni Arrighi zum Konzept des »ökologischen Weltsystems«, wie es Jason Moore ausarbeitet, in diese Richtung.
Unzufriedenheit mit dem Konformismus
Zwar ist die Fülle des wissenschaftlichen Materials, die Anzahl der Jahresberichte oder speziellen Reports zu globalen Umwelt- und Wirtschaftsproblemen, der Umfang der wissenschaftlichen Publikationen zu den Folgen der Wirtschaftstätigkeiten für die planetarische Natur beeindruckend, ja überwältigend. Nach erster Prüfung aber kommt das schon von Sigmund Freud so genannte »Ungenüge« auf, eine Unzufriedenheit mit dem Konformismus, der sich trotz Ökokrise in der akademischen Welt breitmacht, mit dem Opportunismus, der verhindert, dass neue Gedanken frischen Wind in die Diskurse tragen, mit dem Mainstreaming, das interessante Nebenströmungen sehr schnell aufsaugt und die dann allenfalls als Unterströmungen für Wirbel sorgen. Sogar in der im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts aktuellen de-growth-Debatte werden die Fragen der Dialektik der Natur an den Rand des Interesses gedrängt bzw. ganz ausgeschlossen.
Dramatik der ökologischen Krise
Individuelles ökologisches Verhalten und Umweltpolitik im institutionellen Rahmen eines formal-demokratischen Kapitalismus und eines marktwirtschaftlichen Systems stehen im Vordergrund, die Widersprüche und Grenzen der Kapitalakkumulation und daher das sich immanent aufbauende oder das von außen intervenierende Transformationspotenzial befinden sich jenseits von theoretischem Horizont und politischem Interesse. Dem Erkenntnis-Zuwachs hat das nicht gedient und der Entwicklung politischer Strategien, die der Dramatik der ökologischen Krise angemessen wären, auch nicht. Engels thematisiert den Gesamtzusammenhang des Systems, und dies hat zur Folge, dass bei der Analyse von gesellschaftlichem Formwandel und von biophysischem Stoffwechsel die Systemfrage aufgeworfen werden muss.
Klassenauseinandersetzungen sind nicht nur Verteilungskämpfe
Dies umso mehr, als die Geschichte von Gesellschaft und Natur durch die industrielle Revolution nach Auffassung von Marx ebenso wie von Engels einen Bruch erfährt. Nach der industriellen Revolution ist die Geschichte der Menschheit mehr als die Geschichte der kapitalistischen Gesellschaftsformation und der Klassenkämpfe. Sie ist auch die Geschichte der Erdformationen und der Krisen der Erdsysteme, heute insbesondere des Klimasystems. Auch diese Geschichte löst Kämpfe, Klassenkämpfe aus.
Die Atmosphäre kann man nicht umverteilen
In denen geht es aber nicht vor allem um Löhne oder Arbeitsbedingungen, sondern um Lebensbedingungen in einem System, das diese mehr und mehr unterminiert. Marx und Engels haben immer erklärt, dass Klassenauseinandersetzungen nicht nur Verteilungskämpfe seien. Dies ist angesichts des drohenden Klimakollapses offensichtlich. Die Atmosphäre kann man nicht umverteilen, man muss die Produktionsweise und mit ihr den Stoffwechsel zwischen Mensch, Gesellschaft und Natur ändern.
Das Buch
A Rebel’s Guide: Wer war Friedrich Engels?
Camilla Royle, Elmar Altvater, Jürgen Ehlers
Edition Aurora
112 Seiten
6,50 Euro
ISBN 978-3-947240-31-9
2021
Das Buch
Engels neu entdecken
Elmar Altvater
VSA-Verlag
192 Seiten
12,00 Euro
ISBN 978-3-89965-643-5
2015
Zum Autor: Elmar Altvater war Sozialist, Autor und Professor für Politikwissenschaft am Otto-Suhr-Institut der FU Berlin. Er verstarb 2018.
Zum Text: Der Artikel ist ein Auszug aus dem Buch »Engels neu entdecken« von Elmar Altvater. Das Buch ist im VSA Verlag erschienen. Die Redaktion dankt für die Abdruckgenehmigung.
Bild: Dustan Woodhouse / Unsplash
Schlagwörter: Friedrich Engels