Vor sechzig Jahren weigert sich eine Frau, ihren Sitzplatz im Bus herzugeben. Der Kampf gegen die Rassentrennung in den USA nimmt daraufhin an Fahrt auf. Doch die Bürgerrechtsbewegung hat keine Antwort auf die soziale Diskriminierung der Schwarzen. Von Michael Ferschke
Ein Bus in Montgomery, Alabama am 1. Dezember 1955. Die vorderen vier Reihen sind für Weiße reserviert – afroamerikanische Passagiere dürfen sie nicht benutzen, selbst wenn sie leer bleiben. Der hintere Teil, der ihnen vorbehalten ist, ist meist überfüllt. Außerdem gibt es einen mittleren Abschnitt, den schwarze Personen benutzen dürfen. Allerdings ist eine komplette Reihe zu räumen, sobald auch nur ein weißer Passagier in dieser Reihe sitzen will (um die Trennung aufrechtzuerhalten).
Heute tritt genau dieser Fall ein. Ein weißer Fahrgast verlangt die Räumung der reservierten Sitzreihe. Einige Personen machen den Platz frei, doch die damals 42-jährige Näherin und Bürgerrechtsaktivistin Rosa Parks weigert sich, da sie nicht die übrige Fahrt hindurch stehen will. Der Busfahrer ruft daraufhin die Polizei und Rosa Parks wird wegen Störung der öffentlichen Ruhe verhaftet, angeklagt und zu einer Strafe verurteilt.
Dieser Busboykott – ein bewusster Akt des zivilen Ungehorsams, der von Martin Luther King und anderen öffentlichkeitswirksam skandalisiert wurde, gilt als einer der Auslöser für die amerikanische Bürgerrechtsbewegung, die in den Folgejahren wichtige Erfolge im Kampf gegen den Rassismus erzielte.
Die Bürgerrechtsbewegung begann als Kampf gegen den institutionalisierten Rassismus in den früheren Sklavenhaltergesellschaften des Südens der USA. Dort wurde schon wenige Jahre nach der Niederlage im Bürgerkrieg (1865) alles darangesetzt, den Schwarzen die errungenen Freiheiten zu nehmen, um die Herrschaft der weißen Großgrundbesitzer wieder herzustellen. In einigen Südstaaten stellten die Schwarzen die Bevölkerungsmehrheit und drohten, mit dem gewonnenen Wahlrecht politisch die Oberhand zu gewinnen.
Überall im Süden entstanden rassistische Terrororganisationen wie der Ku-Klux-Klan, um die Schwarzen aus dem öffentlichen Leben zu drängen und sie davon abzuhalten, ihr Wahlrecht auszuüben. Sie peitschten »aufmüpfige« Schwarze aus, verstümmelten sie und hängten sie auf. Die Rassisten verwüsteten Felder und setzten Häuser in Brand. Schon bald wurden »Mischehen« verboten und ab 1875 wurde durch die »Jim Crow«-Sondergesetze die Rassentrennung verordnet. Mit diesen Gesetzen wurden unter anderem getrennte Räume, Toiletten und Sitzplätze auf Schiffen, Bahnen sowie auf öffentlichen Plätzen vorgeschrieben. Die privilegierten Plätze waren den Schwarzen verwehrt. Die Schulen wurden nach Hautfarbe getrennt. Schwarze durften Hotels, Restaurants und Theater, in denen Weiße verkehrten, nicht mehr besuchen. Auch das Wahlrecht wurde den Schwarzen schrittweise wieder entzogen.
Die Bürgerrechtsbewegung bekämpft strukturellen Rassismus
Die lange Expansions- und Wachstumsphase des Kapitalismus seit Ende der 1930er Jahre veränderte die Lebenssituation der Schwarzen in den USA nachhaltig. Angetrieben von technologischen Fortschritten in der Landwirtschaft und der Konzentration von industrieller Produktion und Verwaltung fand eine massive demographische Verschiebung statt. Alleine in den Jahren von 1956 bis 1967 stieg die Arbeitsnachfrage außerhalb des Agrarsektors in den Vereinigten Staaten um 25 Prozent – das entspricht einem Zuwachs um 13 Millionen Jobs. Mehr und mehr Schwarze verließen das Land, wo sie als Farmarbeiter oder Hausangestellte gearbeitet hatten, und zogen in die Städte, um dort neue Jobs in der Industrie zu übernehmen. In den 1960er Jahren lebte erstmals auch im Süden die Mehrheit der Schwarzen in städtischen Gebieten, im Norden waren es bereits über 90 Prozent.
Aus diesen sozialen Veränderungen speiste sich die Dynamik der Bürgerrechtsbewegung der 1950er und 1960er Jahre – sie verbesserten die Ausgangsbedingungen für einen kollektiven Kampf der Schwarzen gegen den Rassismus. Im Süden forderte die Bürgerrechtsbewegung zunächst die formale Gleichstellung durch die Abschaffung der Rassentrennung und die Wiedereinführung des Wahlrechts. Die Welle von Gettoaufständen in den amerikanischen Großstädten warf schließlich auch ein Schlaglicht auf die drastische soziale Diskriminierung der Schwarzen in ganz Amerika.
In den 1950er Jahren bauten schwarze Aktivisten und liberale Weiße unter Führung des Predigers Martin Luther King ein Bürgerrechtsbündnis gegen die eklatante Unterdrückung der Schwarzen auf. Kings Strategie zielte auf ein Zusammenspiel von schwarzem Mittelstand und Demokratischer Partei ab. Mittels spektakulärer gewaltfreier Aktionen sollte die Unterstützung der demokratisch geführten Bundesregierung erwirkt werden, damit diese sowohl die rassistische Gesetzgebung als auch die dazugehörige Alltagspraxis von Behörden und Bewohnern der Südstaaten zu Fall bringen würde.
In der Tat war der Kampf für Gleichberechtigung im Süden mit unerbittlichen physischen Auseinandersetzungen verbunden. Die Kombination aus dem Prinzip der Gewaltlosigkeit und der Hoffnung auf die Unterstützung durch die Staatsmacht des Nordens war dabei eine zentrale Schwäche von Kings Strategie. Denn wo diese Unterstützung durch die Bundesregierung ausblieb, riskierten die Bürgerrechtsaktivisten Leib und Leben. Ein Beispiel hierfür stellte die 1961 gestartete Kampagne zur Desegregation der Buslinien in den Südstaaten der USA, die »Freedom Rides« (Freiheitsfahrten), dar. Schwarze und weiße, vorwiegend studentische Aktivisten fuhren mit den Greyhound-Linienbussen durch die Südstaaten, um dort ein Zeichen gegen die Rassendiskriminierung zu setzen. Die teilnehmenden Aktivistinnen und Aktivisten stießen jedoch im Mai 1961 in Alabama auf wütende Mobs weißer Rassisten und wurden brutal zusammengeschlagen.
Noch drastischere Ausschreitungen gab es bei den groß angelegten Aktionen zur Registrierung der Schwarzen als Wähler in Mississippi im Jahr 1964 – dem »Mississippi Freedom Summer«. Etwa eintausend vorwiegend weiße Aktivistinnen und Aktivisten waren aus dem Norden angereist – unter ihnen viele der späteren führenden Figuren der Studentenbewegung. Doch gleich zu Beginn der Kampagne ermordeten Rassisten drei von ihnen in der Nähe von Philadelphia. Während der folgenden zwei Monate töteten Gegner der Bürgerrechtsbewegung drei weitere Menschen, verprügelten etwa achtzig und verübten Brandanschläge auf 53 Kirchen und 30 andere Gebäude.
Meist kamen nach solchen Gewalttaten die Rassisten ungeschoren davon, während die Polizei die Bürgerrechtler kriminalisierte. Dies führte in den Reihen der Aktivsten zu Enttäuschung und Verbitterung gegenüber der Demokratischen Regierung – gerade weil der Justizminister Robert F. Kennedy für die Wahlregistrierungsaktivitäten Unterstützung durch die Bundesbehörden zugesagt hatte. Diese schauten jedoch häufig nur tatenlos zu, wenn örtliche Polizeikräfte gegen die Bürgerrechtler vorgingen. Angesichts solcher Erfahrungen stellten viele Aktivisten auch das von Martin Luther King erhobene Prinzip der Gewaltlosigkeit in Frage.
Massive rassistische Ausschreitungen im Süden
Dennoch übten die entschiedenen Mobilisierungen der Bürgerrechtsbewegung einen solchen Druck auf die amerikanische Regierung aus, dass bis Mitte der 1960er Jahre die formale Rassentrennung in den Südstaaten durch diverse Gleichstellungsgesetze beendet wurde.
Durch die formalrechtliche Gleichstellung verbesserte sich jedoch nur für einen Teil der schwarzen Bevölkerung die Lebenssituation ausreichend. Am meisten profitierte die schwarze Mittel- und Oberschicht, weil sich für sie nun Wege zur politischen Integration eröffneten – unter anderem in der Demokratischen Partei. Die Probleme der schwarzen Arbeiterklasse, der Niedrigverdienerinnen und der Arbeitslosen waren allerdings weniger in der fehlenden juristischen Gleichstellung als vielmehr in der dramatischen sozialen Ungleichheit verwurzelt.
Im Jahr 1966 betrug das Durchschnittseinkommen einer schwarzen Familie nur 58 Prozent des durchschnittlichen Familieneinkommens einer weißen. Das zeigte sich besonders in Großstädten wie Detroit, Los Angeles, New York oder Washington. Die Mehrheit der Schwarzen lebte dort weiterhin de facto in Segregation: in vorwiegend von Schwarzen bewohnten ärmlichen Wohngegenden, mit vorwiegend von Schwarzen besuchten schlecht ausgestatteten Schulen. Bestenfalls bekamen sie schlecht bezahlte Jobs mit lausigen Arbeitsbedingungen. Über 25 Prozent der schwarzen Jugendlichen waren Arbeitslos. Diese Jugendlichen waren zudem ständig Schikanen durch die weiße Polizei ausgesetzt. Die Wut über diese Zustände entlud sich ab 1964 jährlich in einer Welle von Gettoaufständen. Die konkreten Auslöser waren zumeist brutale Polizeiübergriffe auf schwarze Jugendliche.
Die heftigsten Auseinandersetzungen fanden im Sommer 1967 in Detroit statt: ganze Häuserblocks standen in Flammen und die Armee marschierte mit Panzern und Hubschraubern ein. Vierzig Menschen wurden getötet – hauptsächlich durch die Armee. Es gab 2250 Verletzte, 4000 Menschen wurden verhaftet.
Trotz gesetzlicher Gleichstellung bleibt die soziale Ungleichheit gravierend
Die von Martin Luther King geschmiedete Koalition zerbrach an der Frage der sozialen Diskriminierung der Schwarzen. Ein Teil der schwarzen Mittelschicht zeigte sich mit den erreichten Erfolgen zufrieden und hatte kein Interesse an weiteren Mobilisierungen. Die weißen Liberalen aus der Demokratischen Partei wandten sich ebenso ab, weil sie nicht bereit waren, dem Kapital die Reichtümer abzutrotzen, die für die Herstellung von sozialer Gerechtigkeit nötig gewesen wären.
Eine von der Regierung in Auftrag gegebene Analyse der Gettoaufstände von 1968 schlug als Konsequenz Investitionen in Höhe von 30 Milliarden Dollar vor: für Sozialprogramme, Wohnungen und Schulen. Der demokratische Präsident Lyndon B. Johnson erklärte daraufhin, dass der Kongress Mittel in solcher Höhe nicht bewilligen würde.
Gleichzeitig ließ Johnson den Krieg in Vietnam immer weiter eskalieren. King sprach sich erstmals 1967 öffentlich gegen diesen Krieg aus. Er verknüpfte diese Position mit der sozialen Frage, indem er thematisierte, dass Milliarden Dollar in einen unsinnigen Militäreinsatz verheizt würden, während zu Hause das Geld für nötige Sozialprogramme fehle. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Schwergewichts-Boxweltmeister Muhammad Ali die Verbindung zwischen dem Krieg und der Unterdrückung der schwarzen Bevölkerung in den USA gezogen, als er die Einberufung zur Armee mit den Worten verweigerte: »Kein Vietnamese hat mich je ›Nigger‹ genannt«.
Als deutlich wurde, dass die Demokraten Martin Luther King weder in seiner Ablehnung des Vietnamkriegs noch im Kampf für soziale Gleichheit unterstützen würden, versuchte dieser, eine neue Bewegung von unten aufzubauen. Nun wurde er zu einer Bedrohung für die Herrschenden, weshalb diese das FBI auf ihn ansetzten.
Die Suche nach Bündnispartnern führte King im April 1968 nach Memphis, wo 1300 schwarze Müllarbeiter für die Anerkennung ihrer Gewerkschaft kämpften. Zu seiner Rede versammelten sich 15.000 Menschen. King machte zuerst klar, dass der Kampf um Gleichberechtigung mit der Umverteilung des Reichtums verbunden sei. Dann empfahl er den Zuhörern, dass sie in einem gemeinsamen Streik ganz Memphis lahm legen sollten. Die Aktion wurde für den 8. April geplant. Am 4. April wurde King in Memphis auf dem Balkon seines Hotels erschossen.
Nach der Ermordung Kings kam es zu den schwersten Gettorevolten der US-Geschichte, mit Aufständen in über einhundert amerikanischen Städten. Leider hatte King keine politische Partei im Rücken, die den Kampf für soziale Gleichheit auch nach seiner Ermordung organisiert weiter führen konnte.
Bis heute gibt es keine grundlegende Besserung
Dieser Kampf ist heute nicht weniger aktuell oder notwendig als Ende der 1960er Jahre. Die Situation der Schwarzen in den USA hat sich, auch unter einem schwarzen Präsidenten, nicht grundlegend verbessert. Nach wie vor leidet die schwarze Bevölkerung unter eklatanter Unterdrückung und wird sozial gegenüber Weißen benachteiligt: durch deutlich geringere Einkommen, durch eine doppelt so hohe Arbeitslosigkeits- und eine fast dreimal höhere Armutsrate. Die Gettoisierung in heruntergekommenen Wohnvierteln mit schlechten Schulen, hohen Verbrechensraten und Drogenproblemen ist die Folge. Die Unterdrückung der Schwarzen verdeutlicht sich auch in dem Fakt, dass in US-amerikanischen Gefängniszellen mehr junge Schwarze leben als in Wohnheimen der Colleges. Die Zahl der Schwarzen in den Gefängnissen hat sich im letzten Vierteljahrhundert vervierfacht. Gut vierzig Prozent der Häftlinge sind Schwarze, der Bevölkerungsanteil der Schwarzen liegt aber nur bei dreizehn Prozent.
Der brutalste Ausdruck des weiterhin vorherrschenden Rassismus: Schwarze in den USA sterben einundzwanzigmal häufiger durch Polizeikugeln als Weiße. Die zumeist weißen Täter werden dafür jedoch so gut wie nie bestraft. Gegen diese Polizeigewalt formiert sich unter der Losung #Black Lives Matter seit fast einem Jahr eine neue Bewegung. Sie steht vor der Aufgabe, das zu vollenden, wofür Rosa Parks und viele andere vor und nach ihr gekämpft haben.
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Foto: Thomas Hawk