Unerwartet hat in Venezuela eine knappe Mehrheit die Verfassungsreform des linken Präsidenten Chávez mit 50 bis 51 Prozent abgelehnt. Ben Stotz, Mitglied von Die Linke.SDS an der Freien Universität Berlin und zur Zeit in Caracas, beleuchtet die Hintergrunde dieser Wahlniederlage.
Die konservative Opposition jubelt in Venezuela. Das Lager des Nein hat das Referendum zur Reform der venezolanischen Verfassung mit einem minimalen Vorsprung von weniger als einem Prozentpunkt gewonnen.
Wenn auch knapp, so ist es der erste Sieg der »venezuelanischen Rechten« seit der Wahl von Chávez 1998. Mehrmals hatte diese mit Unterstützung einiger Generäle und der Unternehmerverbände versucht, den demokratische gewählten Präsidenten Chávez wegzuputschen und die Verfassung ausser Kraft zu setzen. Die Mehrheit der einfachen Bevölkerung verhinderte den Putsch des Präsidenten Chávez durch Massenprotesten.
Obwohl Chavez letztes Jahr fulminant zum wiederholten Male die Präsidentschaftswahlen gewann und gerade unter der arbeitenden Bevölkerung große Unterstützung genießt, konnte die konservative Opposition gewinnen. Warum konnte das passieren?
Linke Kommentatoren wie Gregory Wilpert von venezuelanalysis.com waren auch bei niedriger Wahlbeteiligung von einem Sieg der Linken ausgegangen. Dies stellte sich als fulminanter Irrtum und verfrühter Triumpfalismus im chavistischen Lager heraus: Es ist nicht gelungen, die Basis des bolivarianischen Prozesses in ausreichendem Maße an die Urnen zu bringen.
Der Vorschlag der Verfassungsreform wurde in Form von zwei Blöcken der Bevölkerung zur Abstimmung vorgelegt. Die Vorschläge des Präsidenten Chávez erhielten 49,29 Prozent, das sind ungefähr 4,4 Millionen Stimmen. Der Block B, der Vorschlag der Nationalversammlung erhielt 48,94 Prozent, das heißt 4,3 Millionen Stimmen. Bei beiden Blöcken erzielte die Opposition eine knappe Mehrheit mit 50 bis 51 Prozent.
Chávez erhielt bei der Präsidentschaftswahl vor einem Jahr noch über 7 Millionen Stimmen, konnte nun also ungefähr 3 Millionen weniger Menschen mobilisieren. Manuel Rosales, der damalige Präsidentschaftskandidat der konservativen Opposition und heute einer der wichtigsten Sprecher des Nein, erhielt schon damals 4 Millionen Stimmen. Die Opposition konnte also ihr Ergebnis vom Vorjahr halten beziehungsweise leicht ausbauen. Dies weist auf einen gewichtigen Faktor des Referendums hin, nämlich die niedrige Wahlbeteiligung von 55,89 Prozent.
Zwar war die Wahlbeteiligung auch in der Vergangenheit bei Abstimmungen über Verfassungstexte niedrig. Bei der Annahme der bolivarischen Verfassung 1999 lag sie bei etwa 35 Prozent. Diesmal machten die Kampagnenführung der Chavistas und der Präsident selbst die Verfassungsreform zu einer Personalentscheidung. Chávez sagte im Vorfeld: „Wer ja wählt ist für mich, wer nein wählt ist für Bush.« Die Wahlniederlage hat mehrere Gründe.
Probleme der Verfassungsreform
Präsident Chávez hatte nach seiner Wiederwahl im letzten Jahr die Reform der Verfassung als einer der fünf Motoren zur Vertiefung der bolivarianischen Revolution in Aussicht gestellt. Der konkrete Reformvorschlag wurde erst im August ins Parlament eingebracht und nach seiner Annahme durch die Nationalversammlung innerhalb von zweieinhalb Monaten als Referendum zur Abstimmung gestellt. Dies geschah anders als bei der 1999 angenommenen Verfassung ohne breite Befragung und Diskussion in der Bevölkerung und erfolgte dann sehr zielstrebig innerhalb von kurzer Zeit. Die Opposition wollte die Reform ins nächste Jahr beziehungsweise auf den Sankt-Nimmerleinstag verschieben.
Zudem kursierten mehrere Versionen des Vorschlags, so dass erst vier Wochen vor dem Referendum der eigentliche Reformtext erhältlich war. Einige Artikel waren so unklar formuliert, dass selbst bei gründlicher Lektüre viele nicht genau wussten, über was sie eigentlich bei diesen Artikeln abstimmten.
Auch die Form der Abstimmung als Blockwahl stieß auf Unmut, da nicht über einzelne Artikel abgestimmt werden konnte, sondern über die Reform als Gesamtprojekt. Dies kann auch daran liegen, dass viele populäre Artikel wie die Verkürzung der Arbeitszeit auf den Sechsstundentag und die 36-Stundenwoche und Sozialleistungen für informell Beschäftigte mit weniger populären und unverständlichen Artikeln kombiniert wurden wie die unbegrenzte Wiederwahl, die territorialen Neuaufteilung des Landes, die Möglichkeit der Verlängerung des Ausnahmezustandes auf unbegrenzte Zeit.
Zersplitterung im chavistischen Lager
Bisher gibt es keine große, demokratische Organisation des bolivarischen Prozesses. Dies soll mit der Gründung neuen Partei PSUV überwunden werden. Während sich 5,5 Millionen Frauen und Männer als zukünftige Mitglieder für die Partei eingeschrieben haben, stimmten nur 4,3 Millionen für die Verfassungsreform. Die Diskussion über Struktur, Zweck und Programm der Partei befindet sich erst im Anfang und wird noch über die eigentliche Parteigründung im Januar hinaus weitergeführt werden. Die Kampagne für das JA überlagerte diese notwendige Diskussion in den provisorischen Parteigliederungen der Basis. Es bestand keine massenwirksame Organisation mit dem Potential, die soziale Mehrheit hinter dem bolivarischen Reformprozess zum Referendum zu mobilisieren.
Auch sind hier verschiedene, wenn auch offiziell nicht vorhanden Flügel und Strömungen vertreten, von denen nicht alle an einer Radikalisierung und Vertiefung des Prozesses interessiert sind.
Des Weiteren teilen nicht alle Akteure des chavistischen Lagers die Perspektive der Parteigründung. Einige Parteien des Chavismo unterstützen die PSUV nicht und haben erst spät und eigenständig für das JA mobilisiert. Die Kräfte des JA agierten insgesamt zersplittert.
Aufschwung der Opposition
Trotz der nach wie vor bestehenden Krise der ebenfalls zerstrittenen Kräfte der Opposition, hat diese doch einen merklichen Aufschwung erhalten: Durch das neue, frische und unverbrauchte Gesicht der Studierendenbewegung. Dies ist eine Elitenbewegung mit vagen politischen Zielen wie Demokratie, Freiheit und Menschenrechte.
Zur Bewahrung der eigenen Privilegien im Bildungssystem lehnten sie den neuen Artikel 109 der Verfassung zur Demokratisierung der Hochschulen ab. Die neue Glaubwürdigkeit der Bewegung hat viele Studierende und Wähler der Mittelschicht mitgenommen und bestimmt auch die weitere Perspektive der Opposition. Sie erklärt die Verhinderung der Verfassungsreform als Sieg der Demokratie.
Allerdings ist zu bezweifeln, ob die Verteidigung der bolivarischen Verfassung und der venezolanischen Demokratie dauerhaft das Motto der Opposition bleibt. Große Teile der Opposition liebäugeln mit radikaleren Maßnahmen wie Militärputsch, Gewalt und Destabilisierung.
Miit Ex-Verteidigungsminister General Baduel ist ein prominenter und glaubwürdiger Chavista ins Oppositionslager gewechselt. Dies zeigt, dass viele hochrangige Militärs die Verfassungsreform ablehnen. Denn die Armee wurde im Reformvorschlag direkt dem Präsidenten unterstellt, der selbst Offiziere hätte einsetzen können. Außerdem sollte die Armee keine unpolitische und von der Gesellschaft getrennte Organisation mehr sein, sondern eine volksnahe und antiimperialistische Streitkraft mit militärischen und sozialen Aufgaben.
Die nationale und internationale Medienkampagne
Die nationalen und internationalen Medien verbreiteten Lügen und Halbwahrheiten über den Reformvorschlag. Dies reichte von den gängigen Vorwürfen, Chávez wolle eine Diktatur und bis hin zu abstruser Hetze: ‚Chávez will Euch Eure Kinder wegnehmen und das Privateigentum insgesamt abschaffen.‘
Verbunden mit einer verschärften internationalen Situation für Venezuela wie die Attacke des spanischen Königs auf Chávez und der Rausschmiss von Chávez aus dem Friedensprozess in Kolumbien, hat die Kampagne Unsicherheit verbreitet. Dies könnte die hohe Wahlenthaltung erklären.
Es ist einfacher, gegen einen Reformtext zu hetzen und Lügen zu verbreiten, als das komplexe Textwerk mit juristischem Vokabular der breiten Bevölkerung verständlich zu machen.
Die bolivarische Bewegung erlitt mit dem Referendum ihre erste ernsthafte politische Niederlage. Dies kann zu positiver Selbstreflexion und -kritik führen, aber auch zu weiterem Gegenwind.
Die Niederlage ist Ausdruck der Widersprüchlichkeit des Prozesses und markiert das Scheitern der Strategie, eine sozialistische Gesellschaft per Dekret oder Verfassungsreform von oben einzuführen.
Nichtsdestoweniger sind die Veränderungen des Reformvorschlags nicht endgültig vom Tisch. Viele der politischen und sozialen Vorschläge werden nun eher in Form von Gesetzesänderungen eingebracht. Auch ein neuerlicher Versuch, die Verfassung zu ändern, kann nicht ausgeschlossen werden. Chávez will die Reform nach wie vor. Die Opposition sieht gar eine neue verfassungsgebende Versammlung am Horizont, die den politischen Radikalisierungsprozess zurückdrehen soll.
Schlüssel zu tieferen Veränderungen sind dabei eine neue und unabhängige Mobilisierungsfähigkeit der Armen und Arbeiter und ein breiteres Bewusstsein innerhalb der Bevölkerung. Dies kann sich nur durch weitere Kämpfe und politische Organisierungsprozesse entwickeln. Ein erbitterter Klassenkampf bleibt in Venezuela weiter auf der Tagesordnung. In diesem Sinne: Jede Niederlage kann einen nächsten Sieg vor bereiten. Venceremos!
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