Hessens bisheriger Ministerpräsident Roland Koch ist heute offiziell zurückgetreten. Sein Nachfolger steht für dieselbe Politik. Janine Wissler über das »System Koch«
Bei Demonstrationen in Hessen war »Koch muss weg« die am häufigsten skandierte Parole – bei Protesten gegen Studiengebühren, Sozialabbau oder den Ausbau des Frankfurter Flughafens. Daher war die Freude an den Hochschulen, bei Gewerkschaften und außerparlamentarischen Bewegungen besonders groß, als der Ministerpräsident im Mai überraschend seinen Rückzug aus der Politik ankündigte.
Roland Koch versuchte, stets Menschen gegeneinander auszuspielen und zu spalten, um die tatsächlichen Probleme zu verschleiern: Junge gegen Alte, Deutsche gegen Migranten, Christen gegen Muslime. Die Einführung von Studiengebühren begründete er beispielsweise damit, dass es ungerecht sei, wenn die Krankenschwester das Studium ihres zukünftigen Chefarztes finanziere. Aber er erklärte nicht, welchen Vorteil die Krankenschwester davon haben sollte, wenn Studierende, womöglich ihre eigenen Kinder, Gebühren zahlen.
In seiner Amtszeit zeigte Koch immer wieder, dass Wirtschaftsliberalismus auf der einen und erzkonservative, fremdenfeindliche Argumentationsmuster auf der anderen Seite keinen Widerspruch darstellen, sondern zusammenwirken.
Wenn er aufgrund seiner unsozialen Politik unter Druck kam, versuchte Koch davon abzulenken, indem er gegen Migranten hetzte. Dann betonte er die »deutsche Leitkultur« und warnte, den Deutschen könne es durch Einwanderung wie den Indianern in den USA ergehen, von deren Kultur nichts mehr übrig sei – ein Vergleich, der sonst nur aus NPD-Kreisen zu hören ist.
Bereits bei der Landtagswahl 1999, bei der er als aussichtsloser Kandidat gegen den damaligen Ministerpräsidenten Hans Eichel ins Rennen ging, zog er die rassistische Karte und leitete eine unsägliche Kampagne gegen die doppelte Staatsbürgerschaft ein. Dass er dabei Ängste und fremdenfeindliche Stimmungen schürte und Bürger am CDU-Stand fragten, wo sie »gegen Ausländer unterschreiben« könnten, nahm er in Kauf.
Später sollte sich herausstellen, dass Kochs Wahlkampf nicht nur unsäglich geführt, sondern teilweise auch aus schwarzen Kassen finanziert worden war. Im Zusammenhang mit der Spendenaffäre der Bundes-CDU im Jahr 1999 wurden auch kriminelle Vorgänge im hessischen Landesverband aufgedeckt. So hatten der ehemalige Innenminister Manfred Kanther und der frühere Landesschatzmeister Sayn-Wittgenstein illegale Parteispenden in Millionenhöhe als »jüdische Vermächtnisse« auf ausländischen Konten getarnt.
Roland Koch erklärte, diese Vorgänge seien ihm nicht bekannt gewesen, und er versprach die »brutalstmögliche Aufklärung«, belog dabei aber nachweislich die Öffentlichkeit. Dies räumte er später ein, verblieb aber trotz mehrfacher Rücktrittsforderungen im Amt.
Die Spendenaffäre schadete Koch nicht nachhaltig. Im Jahr 2003 gewann er bei der Landtagswahl die absolute Mehrheit. Noch im selben Jahr schnürte er mit der »Operation Sichere Zukunft« das größte Sparpaket in der Geschichte des Landes Hessen. Vor allem bei den Landesbeschäftigten und im Sozialbereich, bei Schuldnerberatungen, der Aidshilfe und bei Frauenhäusern wurde gekürzt. Zudem trat die Regierung Koch aus der Tarifgemeinschaft deutscher Länder aus. Gleichzeitig verschleuderte Koch öffentliches Eigentum, privatisierte das erste deutsche Uniklinikum und machte auch vor der Teilprivatisierung eines Gefängnisses nicht halt. Über 50.000 Menschen protestierten gegen diese Politik in Wiesbaden. Es war die größte Demonstration seit Jahrzehnten.
Bei der Landtagswahl 2008 erhielt die CDU schließlich die Quittung. Sie verlor 12 Prozent. Die große Siegerin hieß Andrea Ypsilanti, DIE LINKE zog in den Landtag ein und Koch verlor seine Mehrheit. Infolgedessen kam es zu einer beispiellosen Kampagne gegen ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis. Energiekonzerne, der Flughafenbetreiber Fraport und andere fürchteten den Verlust »ihrer« Regierung. Bekanntermaßen hat es Koch vier SPDlern zu verdanken, dass er Ministerpräsident bleiben konnte.
Die hessische CDU unter Roland Koch hat sich »Law and Order« auf die Fahnen geschrieben. Das gilt jedoch nur, solange es nicht um die eigene Klientel geht. Eine Erfahrung, die das »Bankenteam« im Finanzamt Frankfurt zu spüren bekam. Dessen Aufgabe bestand darin, steuerrechtliche Vergehen im Bankensektor zu verfolgen und aufzuklären. Sie ermittelten auch gegen Großbanken. Mit Erfolg: Zusätzliche 250 Millionen Euro aus Steuernachzahlungen verbuchte das Land.
Im Jahr 2001 erließ das Finanzamt Frankfurt jedoch auf Anweisung des hessischen Finanzministeriums die Verfügung, Geldtransfer ins Ausland nur noch zu untersuchen, wenn die Summe von 500.000 DM überstiegen werde. Geldtransfers unterhalb dieser Grenze wurden als »steuerrechtlich unverdächtig eingestuft«, was einer Einladung gleichkam, Steuerhinterziehung in gestückelten Teilbeträgen zu praktizieren.
Einige Steuerfahnder aus der »Bankengruppe« protestierten gegen diese Anweisung. Sie befürchteten zu Recht, dass damit ein Schlupfloch geschaffen werden sollte und hatten den Verdacht, dass die Landesregierung milde mit Steuersündern umgehen wolle, um Investoren nicht zu verschrecken.
Zuerst versuchte man, die unliebsamen Steuerfahnder durch Versetzungen zu disziplinieren, dann, sie unglaubwürdig zu machen. Ein Psychiater attestierte vier Fahndern aus Frankfurt »paranoid-querulatorische« Charaktereigenschaften und »chronische Anpassungsstörungen«, sie wurden als dienstunfähig beurteilt und zwangspensioniert.
Im November 2009 verurteilte das Verwaltungsgericht Gießen den Psychiater wegen fehlerhafter und »vorsätzlich« falsch erstellter Gutachten zu einer Geldbuße. Nach Auskunft der Landesregierung begutachtete dieser Psychiater seit 2005 insgesamt 22 Fälle in der Finanzverwaltung – in zwei Dritteln dieser Fälle sei er zum Urteil »Dienstunfähigkeit« gelangt. Mit dem Abgang Kochs wird nun nicht nur das Amt des hessischen Ministerpräsidenten frei.
Auch bundespolitisch ist die Wirkung nicht zu unterschätzen. Koch war einer der Väter der Hartz-Gesetze, er reiste mehrmals in die hessische Partnerregion Wisconsin und machte das »Wisconsin-Modell«, das Ideal eines deregulierten Arbeitsmarkts nach US-amerikanischem Vorbild, in Deutschland bekannt.
Koch hob im Bundesrat immer dann die Hand, wenn es darum ging, Reiche und Unternehmen zu entlasten, um dann in Hessen zu erklären, die Kassen seien leer. Kurz vor seinem Rücktritt sorgte er noch einmal für einen Paukenschlag, als er verkündete, wer für die Milliardenkosten der Krise aufkommen solle. Seine Vorschläge: Sparen bei der Bildung, der Kinderbetreuung und bei den Familien. Alles im Namen der »Generationengerechtigkeit«.
Was kommt nach Koch? Mit Volker Bouffier übernimmt ein weiterer Vertreter der sogenannten Tankstelle, eines informellen Zusammenschlusses in der Hessen-CDU, zu dem auch der ehemalige Verteidigungsminister Franz Josef Jung und die hessischen Minister Karlheinz Weimar und Jürgen Banzer gehören, das Ruder. (Volker Bouffier ist am 31. August 2010 als neuer Ministerpräsidenten vereidigt worden, Anmerkung der marx21-Redaktion)
Bouffier ist seit 1999 hessischer Innenminister und ein enger Vertrauter Kochs. Er ist ein Hardliner beim Abbau von Bürgerrechten und mehrfacher Träger des »Big Brother Awards«. Er steht im Mittelpunkt der »Polizeichef-Affäre«, mit der sich gerade ein Untersuchungsausschuss des Landtags befasst. Bouffier wird verdächtigt, einen Parteifreund rechtswidrig zum Präsidenten der Bereitschaftspolizei ernannt zu haben. Fakt ist: Das »System Koch« bleibt. Dennoch geht mit Koch ein wichtiger Vertreter des »Stahlhelmflügels« der CDU von Bord, der auch in der Bundespartei Wortführer derer war, die den Sozialstaat schwächen und den Überwachungsstaat ausbauen wollen. Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Bouffier oder der baden-württembergische Ministerpräsident Stefan Mappus diese Lücke schließen können. Damit ist dieser Flügel geschwächt.
Koch geht in die Wirtschaft. Das ist konsequent, nachdem er über elf Jahre Politik für die Wirtschaft gemacht hat. Kochs Vater, selbst ehemals ein hochrangiger CDU-Politiker und Minister in Hessen, sagte einmal, sein Sohn studiere auf Bundeskanzler. Hoffen wir, dass er irrte.
Zum Text:
Dieser Artikel ist erschienen in marx21, Heft 16, Juni 2010.
Zur Autorin:
Janine Wissler ist ist Fraktionsvorsitzende der LINKEN im hessischen Landtag.