In Venezuela hat die regierende Chávez-Partei PSUV einen Denkzettel erhalten. Über die Spannungen und die Herausforderungen, vor der Regierung und linke Bewegung stehen, schreibt Mike Gonzales.
Am vergangenen Sonntag stimmten die Venezolaner über die Mitglieder ihrer Nationalversammlung ab. Seit 1998, als Hugo Chávez an die Macht gespült wurde, haben die Venezolaner vielfach gewählt: bei Volksabstimmungen, Kommunal- und Präsidentenwahlen. Im Mittelpunkt jeder Wahl stand dabei immer Chávez. Bei der Wahlkampagne wurden die Rechten schlicht als Marionetten ihrer Herren in Washington angeprangert, weshalb die simple Entscheidung hieß: Bist du für oder gegen die Bolivarische Revolution?
Bisher ist die Unterstützung für Chávez unter den Armen und in der Arbeiterklasse Venezuelas stabil, aber die regierende Vereinigte Sozialistische Partei (PSUV) erhielt dennoch einen deutlichen Denkzettel: Die angestrebte Zweidrittel-Mehrheit hat sie nicht erreicht und muss sich nun mit einer rechten Opposition im Parlament, dem Bündnis „Tisch der demokratischen Einheit« (MUD) auseinandersetzen, die Gesetze blockieren kann. Die MUD erlangte 64 der insgesamt 165 Parlementssitze, die Chávespartei PSUV erhielt 95.
Bis zu dieser Wahl wurde das Parlament von Chávez-Unterstützern dominiert, weil die Opposition die letzten Wahlen vor fünf Jahren boykottiert hatte. Diesmal jedoch beteiligte sie sich.
Die rechte Opposition hat trotz der politischen und wirtschaftlichen Unterstützung, die sie von Washington und den europäischen Konservativen bekommt, keine glaubwürdige Alternative anzubieten, sondern nur eine Rückkehr zu der Lage vor der Präsidentschaft von Chávez. Was das heißt, daran können sich die Menschen noch sehr gut erinnern. In diesem an Öl reichen Land lebten 65 Prozent der Venezolaner in den 1990er Jahren in Armut, die Ölvorkommen wurden faktisch von ausländischen multinationalen Konzernen kontrolliert. Die Mittelschicht war geschützt vor den Folgen der Wirtschaftspolitik, die der Weltwährungsfonds und die Weltbank verordnet hatten. Dagegen wurde der Lebensstandard der armen Mehrheit des Landes katastrophal abgesenkt.
Sie können sich auch an Korruption und Vetternwirtschaft in der Staatsführung erinnern, an ein politisches Establishment, das nur für seinesgleichen sorgte. Und sie erinnern sich an den Putschversuch gegen Chávez im April 2002 und den anschließenden verheerenden Unternehmerstreik, der die Wirtschaft fast ruiniert hätte.
Venezuela kann stolz darauf sein, die Ungleichheit im Land schärfer als jedes andere lateinamerikanische Land bekämpft zu haben. Bildung wurde Millionen einfachen Menschen zugänglich und ein neues kostenloses Gesundheitssystem geschaffen. Die Öleinkommen wurden auch dazu benutzt, ein Versorgungssystem für billige Lebensmittel aufzubauen.
Bis 2009 verzeichnete Venezuela sechs Jahre in Folge hohe Wachstumsraten. In den letzten 18 Monaten rutschte die Wirtschaft jedoch in die Rezession ab – und die Inflation liegt deutlich über den offiziell bekannt gegebenen 30 Prozent.
Viele Sozialprogramme sind deshalb eingestellt worden. Das Gesundheitssystem steht beispielsweise vor dem Zusammenbruch, unter anderem wegen Sabotage, Korruption und Missmanagement.
Zudem äußern viele Venezolaner die Meinung, dass die alte Staatsbürokratie durch eine neue ersetzt wurde. Ihre Mitglieder tragen die bekannten roten T-Shirts, reden mit leidenschaftlicher Überzeugung in Begriffen von Sozialismus und Revolution und stehen an der Spitze der Volksmachtministerien. Aber sie sind den Menschen nicht rechenschaftspflichtig, werden nicht von ihnen kontrolliert. Es handelt sich um von oben verkündete Volksmacht, nicht von unten geschaffene.
Kürzlich wurden ein paar Korruptionsfälle offiziell aufgedeckt, von denen alle bereits wussten: Lebensmittel in Staatshand wurden von den Staatsdirektoren weiterverkauft, Bestechungsgelder flossen für öffentliche Arbeiten, was die vielen halbfertigen Projekte im Land erklärt; hochrangige Beamte erhalten hohe Gehälter, und auf jeder Ebene der staatlichen Ölgesellschaft, der Banken und anderer Staatseinrichtungen gehört Korruption zum Alltag.
Dazu werden Anführer der Ureinwohner, die sich gegen die Übernahme ihres Lands durch die staatliche Bergbaugesellschaft des Bundesstaats Zulia wehren, gerichtlich verfolgt. Das widerspricht dem offiziellen Staetements von der angeblich herrschenden Volksmacht ist, ebenso wie Chávez‘ regelmäßige Diffamierungen von Arbeiterführern als „Konterrevolutionäre«.
Zwar behauptet die PSUV, sechs Millionen Mitglieder zu haben, in Wirklichkeit handelt es sich aber um eine Karrieristenstruktur für eine winzige Zahl von Menschen, die von oben geführt wird und in der es lediglich symbolische Gesten Richtung Basisdemokratie gibt.
In der offiziellen Wahlkampagne wird fast ausschließlich Chávez in den Mittelpunkt gestellt, als stünde er irgendwie über dem Staat. Aber die Leute, die durch die Bolivarische Revolution reich werden, wurden von ihm eingesetzt, und während einige Übeltäter kürzlich verurteilt wurden, bleibt die große Mehrheit auf ihren Regierungsposten, während andere ehrliche Politiker ohne Begründung abgesetzt werden.
Die erschreckenden und im Vergleich extrem hohen Verbrechensraten und die wachsende Macht der Drogenhändler können dem Chavismo nicht angelastet werden, was viele US-amerikanische Journalisten versuchen. Die Komplizenschaft und Korruption der Polizei und Teile der Armee müssten von der Regierung jedoch angegangen werden.
Die Bedrohung für die Bolivarische Revolution kommt also nicht von einer pro-imperialistischen und gewalttätigen Rechten. Die Ernüchterung der einfachen Menschen mit dem Prozess an sich würde sie nicht dazu verleiten, für die Opposition zu stimmen – eher dazu, nicht zur Wahl gehen. Die unmittelbare Gefahr kommt von innen: von einer neuen Klasse an der Macht, deren Hingabe an den Sozialismus nur äußerlich ist.
Sozialismus heißt nicht, Wirtschaftsbündnisse mit China oder Indien zu schmieden, wie Chávez es versucht, oder mit der neoliberalen Regierungen Brasiliens. Die Zukunft des Sozialismus in Venezuela wird von einer echten Umverteilung des Reichtums abhängen und der Schaffung einer neuen Art von Macht – einer wahren Volksmacht, und nicht einer Volksmacht nur dem Namen nach.
Zum Artikel:
Der Artikel, zuerst erschienen in der britischen Zeitung »Socialist Worker«, ist kurz vor den Wahlen geschrieben worden. marx21.de hat ihn leicht bearbeitet, d.h. die Ergebnisse der Parlamentswahl ergänzt. An der Analyse hat sich dadurch nichts geändert (Artikel im Original lesen…). Übersetzung ins Deutsche von Rosemarie Nünning.