Der Aufstand, der Präsident Mohammed Mursi gestürzt hat, hatte historische Ausmaße. Doch auch eine Herrschaft der Armee wird das Leben der Ägypter nicht verbessern. Für die Umsetzung ihrer revolutionären Ziele werden die Arbeiter und Armen Ägyptens die alten Eliten stürzen müssen, inklusive der Generäle, meint Stefan Ziefle
Am 30. Juni gingen 17 Millionen Menschen gegen die Regierung Mursi auf die Straße. Das ist etwa ein Fünftel aller Ägypter. Nie zuvor in der Geschichte hat es eine so große Mobilisierung der Bevölkerung gegeben. Die Ägyptische Revolution reiht sich ein in die großen Revolutionen der Weltgeschichte.
Unmittelbar vorausgegangen war eine Initiative linker Gruppen und junger Aktivistinnen und Aktivisten. Sie hatten eine Unterschriftenkampagne unter dem Motto »Tamarod« (Rebellion) für den Rücktritt Mursis gestartet und zu dem Protest am 30. Juni aufgerufen. Mehrere Millionen hatten unterzeichnet. Die Petition wurde von Arbeitern in den Betrieben verteilt, Aktivisten sammelten auf der Straße. Am 30. Juni selbst riefen die unabhängigen Gewerkschaften zum Generalstreik für die folgende Woche auf.
Millionen Ägypter beteiligt
An der Bewegung beteiligten sich auch Millionen Menschen, die vor zwei Jahren beim Sturz des Diktators Hosni Mubarak noch passiv geblieben sind. Menschen, die sich früher nicht mit Politik beschäftigt haben, wurden aktiv. Die Muslimbrüder mobilisierten vor dem 30. Juni Zehntausende zur Unterstützung Mursis – viel zu wenig, um der neuen revolutionären Welle zu widerstehen. Am Abend des 30. Juni verbreitete sich am Tahrir-Platz und den andren revolutionären Zentren eine Volksfeststimmung. Die Menschen wussten, dass Präsident Mursi sich nicht würde halten können.
Die Bewegung war so stark geworden, dass mehr als nur der Präsident auf der Kippe stand. In diesem Moment griff die Armee ein. Abd al-Fattah al-Sisi, Verteidigungsminister und oberster General der Armee, erklärte Mursi für abgesetzt. Bis heute ist er an einem unbekannten Ort in Haft. Für die Muslimbrüder ist der 30. Juni deswegen ein Putsch. Tatsächlich hat sich die Armee nur an die Spitze der jüngsten revolutionären Welle gesetzt, um sie einzudämmen und abzuwürgen. Wenn sie damit durchkommt, die Muslimbrüder gewalttätig zu unterdrücken, wird sie sich als nächstes gegen die Arbeiterbewegung und die revolutionäre Linke richten.
Hoffnungen in die Muslimbrüder
Dabei war das Verhältnis der Armee zu Mursi lange Zeit nicht so eindeutig. Sisi und andere Generäle arbeiteten mit Mursi nach dessen Wahl vor einem Jahr eng zusammen, um die Führung des Obersten Militärrats SCAF um Feldmarschall Tantawi zu entmachten. Im Gegenzug setzte Mursi Generäle als Gouverneure in verschiedenen Landesteilen ein und belohnte sie durch Managementposten in wichtigen Wirtschaftsunternehmen. Die Armee hoffte darauf, dass die Muslimbrüder die sozialen Unruhen in den Griff bekommen. Sie sind schließlich eine konservative Kraft, die wegen ihrer Unterdrückung unter Mubarak und ihrer karitativen Einrichtungen von vielen Ägyptern respektiert wurde, eine Partei mit echter Massenunterstützung.
Bei den Wahlen konnten die Muslimbrüder viele Stimmen gewinnen. Einige Journalisten in Europa haben diese Wahlergebnisse als Zeichen eines »islamistischen Winters«, der auf den arabischen Frühling folgt, interpretiert. Aber das war falsch.
Die Menschen haben die Muslimbrüder nicht hauptsächlich aus religiösen Gründen gewählt, sondern wegen ihrer Rolle unter Mubarak. Sie hofften, dass die Muslimbrüder die Forderung der Revolution vom Februar 2011 umsetzen würden: »Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit«.
Mursi deckte Korruption
Natürlich gab es sehr unterschiedliche Interpretationen dieses Slogans der Revolution. Aber meist wurde damit verbunden, dass der Lebensstandard der Armen und Arbeiter steigen, der Reichtum der korrupten Profiteure des alten Regimes eingezogen und die Verantwortlichen in den Repressionsapparaten für Jahrzehnte der Folter, Verhaftungen und Morde zur Rechenschaft gezogen werden sollten. Die Hoffnungen wurden schnell enttäuscht.
Die Vermögen derer, die sich über Jahrzehnte auf Kosten der Bevölkerung bereichert hatten, wurden nicht angetastet. Im Gegenteil, wie das Beispiel eines ehemaligen Ministers aus der Mubarak-Ära, Rashid Mohammed Rashid, veranschaulicht: Er wohnt seit dem Sturz Mubaraks in Katar und sein Vermögen war eingefroren worden. Mursi ordnete die Freigabe des Vermögens an.
Noch kurz vor Mursis Sturz gab es einen Ministerialerlass, der die Verfolgung alter Korruptionsfälle direkt dem Investitionsminister unterstellt und damit der Rechtsprechung entzieht. Die Muslimbrüder wollten es sich mit korrupten Unternehmern des alten Regimes nicht verderben. Statt Korruption zu bekämpfen, drängten neue Günstlinge an die Fleischtöpfe, dieses Mal aus dem Umfeld der Muslimbrüder.
Freunde der USA und Saudi-Arabiens
Auch die außenpolitische Orientierung hat sich unter den Muslimbrüdern nicht geändert. Sie wurden die Freunde der Regierungen der USA und Saudi-Arabiens. Dass Mursi bereit war, IWF-Kredite mit entsprechenden neoliberalen »Strukturanpassungen« anzunehmen, macht viele Ägypter wütend. Ebenso wie die Tatsache, dass es nun die Muslimbrüder waren, die Israel dabei halfen, den Gaza-Streifen auszuhungern.
Mursi hat mehrmals versucht, Subventionen für Grundnahrungsmittel und Benzin zu senken. In einem Land, in dem 25 Prozent der Bevölkerung mehr als die Hälfte ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben muss, hätte das weitere Verarmung und sogar Hunger für Hunderttausende bedeutet. Massenproteste haben das wieder und wieder verhindert.
Massenbewegung stärkt Selbstvertrauen
Die Bewegung vom 30. Juni speiste sich nicht nur aus der Unzufriedenheit mit der Regierung. Die Kampferfahrung der letzten Jahre haben auch erheblich dazu beigetragen. Allein von Januar bis März 2013 gab es 2400 Streiks und Demonstrationen. Wichtig war auch die Erinnerung an den Sieg 2011. »Wir haben Mubarak gestürzt, wir können es wieder tun«, war häufig zu hören.
Auch die Aktivisten-Netzwerke und die neuen Gewerkschaften und Parteien, die in der Revolution und den Kämpfen der letzten zwei Jahren entstanden sind, haben viel dazu beigetragen. Die historischen Massenproteste vom 30. Juni stärken das Selbstvertrauen in der Bewegung noch.
Illusionen in die Armee
Doch die unklare oder unterstützende Haltung der meisten liberalen und linken Organisationen zur Armee bedroht den Fortgang der Revolution. Traditionell haben viele Ägypter die Hoffnung, die Armee würde ihre Interessen vertreten. Das geht noch auf die Zeit Gamal Abd al-Nassers zurück, einem ägyptischen Offizier, der 1952 mit einem Putsch an die Macht gekommen war. Nasser setzte während des Nachkriegsbooms einige soziale Reformen durch und verteilte enteigneten Großgrundbesitz unter landlosen Bauern.
Doch die Rahmenbedingungen sind heute völlig anders. Seit der Rückkehr der Weltwirtschaftskrisen in den 70er Jahren unterstützt die Armee die neoliberale Politik der jeweiligen Regierungen. Dementsprechend hat die Armee jetzt einen neoliberalen Übergangspräsidenten und eine Regierung eingesetzt, die die alte Politik fortsetzt, aber keine reale Macht hat. General Sisi bleibt der starke Mann. Er erklärte am 24. Juli in einer Rede vor der Militärakademie in Alexandria, die live im Staatsfernsehen übertragen wurde: »Ich fordere das Volk auf, am kommenden Freitag auf die Straßen zu gehen und mir, der Armee und der Polizei ein Mandat zu geben, gegen mögliche Gewalt und Terrorismus vorzugehen.«
Kurs auf Notstandsregime
Das ist der Versuch, die Energie der Revolution in ein militärisches Notstandsregime umzulenken. Die mörderische Gewalt der Armee gegen die Muslimbrüder ist Teil dieser Strategie. In den Tagen nach den Massenprotesten ging das Militär mit Waffen gegen Einrichtungen und Demonstrationen der Muslimbrüder vor. Über fünfzig wurden vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garde erschossen, viele beim Gebet.
Diejenigen Linken, die die Massaker an betenden Muslimbrüdern verurteilen, sind plötzlich in der Minderheit. Das Oppositionsbündnis »Nationale Rettungsfront«, in dem Nasseristen, Liberale und ein Teil der radikalen Linken zusammengeschlossen ist, lassen sich auf die Argumente ein, wonach das Problem mit Mursi sein »Islamismus« gewesen sei. Auf der Grundlage der Sympathie für die Armee und des Hasses auf die Muslimbrüder gelang es ihnen, den Vorsitzender des Unabhängigen Gewerkschaftsdachverbands EFITU, Kamal Abu Eita, einzubinden. Er wurde zum Arbeitsminister gemacht und sprach sich sofort für eine Streikpause in der »Übergangsphase« nach Mursi aus.
Neues Bündnis auf der Linken
Aber genau so wenig, wie die Wahl der Muslimbrüder Ausdruck eines »Islamismus« in der Bevölkerung war, ist die Bewegung vom 30. Juni eine Bewegung gegen den »Islamismus«. Die Ägypter wollen die Ziele ihrer Revolution gegen Mubarak umgesetzt sehen.
Mehrere linke Gruppen, die wesentlich an der Mobilisierung zu den Protesten beteiligt waren, haben erkannt, welche Gefahr von der Armee ausgeht. Sie diskutieren die Bildung einer gemeinsamen Allianz, die Revolutionäre Alternative Front. Es geht darum, in dem Konflikt zwischen der Muslimbruderschaft und der konterrevolutionären Armee einen eigenständigen Pol zu bilden, der die Revolution vorantreiben will. In einer Stellungnahme hatten sich die Revolutionären Sozialisten, die 6.-April-Bewegung und andere gegen die Beteiligung an den Protesten am 26. Juli ausgesprochen, die Sisi als Sprungbrett für weitere Morde an Muslimbrüdern benutzt hat.
Unabhängige Bewegung der Arbeiter
Auch unter den Gewerkschaften gibt es Widerstand gegen eine Einbindung in eine von der Armee dominierte Regierung. Fatma Ramadan, eine der führenden Köpfe in EFITU, warnt: »Streik ist ein Recht der Arbeiter und ihre Waffe. Wir dürfen uns nicht selbst entwaffnen, ganz gleich, wer die Regierung stellt.« Weder die alte herrschende Clique des Mubarak-Regimes, noch die Muslimbrüder, noch die von der Armee berufene aktuelle »Übergangsregierung« aus Liberalen und Nasseristen können die Probleme im Interesse der Arbeiter und Armen lösen. Sie stehen alle für eine Politik für die Reichen, für das Bündnis mit der NATO und Israel, für die Unterordnung unter die IWF-Vorgaben. Und die Armeeführung wird diese Politik unterstützen, egal wer an der Regierung ist – auch gegen das eigene Volk und mit Waffengewalt.
Das Herz der Bewegung der letzten zweieinhalb Jahre war die Arbeiterbewegung mit ihren Streiks und Betriebsbesetzungen. Entscheidend für die weitere Entwicklung wird sein, ob die Arbeiter es schaffen, ihre Proteste und Streiks, ihre Selbstorganisation weiterzuentwickeln und sich nicht von konservativen Ideologien blenden lassen, sei es Islamismus, Nasserismus oder Wirtschaftsliberalismus.