Präsidentschaftswahlen im revolutionären Ägypten: Unter anderem strich die Wahlkommission auch einen Muslimbruder und einen Salafisten von der Kandidatenliste. Tausende Salafisten protestierten, hunderte Linke stellten sich auf ihre Seite. Hossam El-Hamalawy erklärt, warum
Während der Solidaritätsdemonstration am 7. Mai 2012 mit Hunderten vom ägyptischen Militär willkürlich verhafteten Protestierenden sprach mich ein junger Genosse an. Ich kannte ihn schon von der Kairoer Universität. Er ist Medizinstudent und hatte sich während des Sit-ins in der Woche zuvor als freiwilliger Arzt bei den Sanitätern engagiert.
Er erzählte mir die Geschichte einer jungen Salafistin im Niqab, die während des Sit-ins unaufhörlich die rote Fahne der Revolutionären Sozialisten küsste und rief: »Vergebt mir, ich hatte bislang noch nie von euch gehört!«
Angriff der Armee
Ich erzählte ihm meinerseits die Geschichte eines anderen Genossen, der beim Zutritt zu dem gleichen Sit-in von einem salafistischen Scheich durchsucht wurde. Als dieser in seiner Tasche die Fahne der Revolutionären Sozialisten nebst marxistischer Literatur und verschiedenen Ausgaben ihrer Zeitung entdeckte, rief er dem jungen Studenten zu: »Komm rein, mein Sohn, möge dir Gott beistehen!«
Während jenes Sit-ins, das eine ganze Woche anhielt, wiederholten sich solche Begebenheiten unzählige Male. Und die ganze Zeit wurden die Teilnehmer von Schlägern in Zivil in enger Zusammenarbeit mit der Armee angegriffen – mit Messern, Schwertern, Feuerwaffen, Maschinengewehren.
Verhasster Wahlausschuss
Schließlich lösten Militärpolizei und Sondereinheiten der Armee den Sitzstreik am 4. Mai auf und verhafteten und folterten Hunderte. Das Sit-in war von Unterstützern des von den Wahlen ausgeschlossenen salafistischen Präsidentschaftskandidaten Hasem Salah Abu Ismail veranstaltet worden.
Sie waren vor das Verteidigungsministerium marschiert und entschlossen sich spontan zu einem Sitzstreik mit der Forderung nach Auflösung des vom Militärrat eingesetzten, und übrigens von Revolutionären aller Schattierungen verhassten Wahlausschusses.
Islamophobie auf der Linken
Wenn ihr Islamophobie als wachsende Gefahr für Europa seht, dann hättet ihr euch die Twitterwelt während jener Woche des Sit-ins ansehen müssen: Liberale und Linke spien die übelste Sprache.
Es gibt jene, die unbesehen der konkreten Situation alles Islamistische, alles, was Bart oder Niqab trägt, verdammen und alles tun, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Angesichts des Sit-ins nahmen sie entweder eine neutrale Haltung ein, ganz so, als ob der Konflikt zwischen Islamisten und der Armee auf einem anderen Planet stattfände, oder sie stießen Gebete aus, beide Seiten mögen sich durch ein Wunder gegenseitig vernichten, oder – schlimmer noch – sie begrüßten die gewaltsame Niederwerfung ihrer Bewegung durch das Militär.
Und dann gibt es das altbekannte Lied »keine Zeit«, jedes Mal, wenn es zu Zusammenstößen mit Armee und Polizei kommt. »Dafür habe ich keine Zeit, es gibt Wichtigeres zu tun.« Womit in der Regel Wahlen gemeint sind, oder andere vom Militärrat vorgesehene »Meilensteine im politischen Prozess«.
Islamisten unter den Revolutionären
Aber die »Islamisten« sind alles andere als ein einheitlicher Block. Wir reden hier von Millionen Ägyptern unterschiedlicher Herkunft und aus unterschiedlichen Landesteilen, die der Muslimbruderschaft oder der einen oder anderen salafistischen Gruppierung angehören. Auch letztere kann man nicht alle in einen Topf werfen.
Wir dürfen nicht vergessen, dass viele junge Salafisten am Januaraufstand 2011 entgegen der Pro-Mubarak-Positionierung beinahe aller bekannten Scheichs der salafistischen Szene teilnahmen. Viele der Arbeiter, denen ich seit 2007 in Streiks begegnete, haben Bärte, die fast bis zum Bauch reichen, und sind Anhänger der salafistischen Scheichs. Letztere hatten Streiks und Demonstrationen geächtet, was ihre ärmeren Getreuen nicht daran hinderte, eine andere Richtung einzuschlagen.
Die salafistische Bewegung ist zersplittert, und die erbärmliche Leistung von Abu Ismail in der jüngsten Krise, als er sich von seinen eigenen Unterstützern distanzierte, wird unweigerlich seine Basis ernüchtern. Nun stellt sich die Frage, ob diese nicht für die Revolution gewonnen werden kann? Nicht alle, aber eine »kritische Masse«. Die Antwort ist Ja, und revolutionären Sozialisten fällt die Aufgabe zu, diese Basis mit der ganzen ihnen zur Verfügung stehenden Kraft zu beeinflussen.
Gespaltene Muslimbruderschaft
Die Vorstellung, die Muslimbruderschaft würde mit eiserner Faust vom Obersten Rat regiert und ihre Mitglieder dessen Befehlen blind gehorchen, ist überaus lachhaft. Die Organisation wurde seit eh und je von Fraktionierungen und Spaltungen entlang Generations- und Klassengrenzen geplagt.
Obwohl die offizielle Linie nach dem Februaraufstand von 2011 ein ganzes Jahr lang Verzicht auf jegliche Mobilisierung lautete, gab es keine einzige ernsthafte Konfrontation mit dem Staat, an der sich Gruppen junger Muslimbrüder nicht beteiligt hätten. Das habe ich selbst so erlebt.
Für Sozialismus gewinnen
Was sollten revolutionäre Sozialisten in dieser Situation tun? Zu keinem Zeitpunkt sollten wir darauf verzichten, die Heuchelei und die konterrevolutionäre Politik der Führung der Muslimbruderschaft anzuprangern. Zugleich sollten wir niemals in unseren Anstrengungen nachlassen, die Jugend und andere in der Bruderschaft, die ernsthaft für die Revolution sind, für das revolutionäre Lager und sogar für sozialistische Politik zu gewinnen, was nach meiner eigenen Beobachtung immer öfter gelingt.
Das wird allerdings nicht geschehen, wenn man sich ständig auf Twitter aufhält und über die Bruderschaft herzieht, wie das viele Linke tun. Im Gegenteil, wir müssen vor Ort an allen Aktivitäten, die sie organisiert, teilnehmen und ohne Unterlass mit den jüngeren Mitgliedern debattieren.
Und wenn es zu einem Konflikt mit dem Staat kommt, sollte man sich nicht zurückziehen und sagen, möge Gott beide Seiten verbrennen, nein, man muss sich positionieren. Sich positionieren, ohne die eigene organisatorische und politische Unabhängigkeit zu opfern, ohne darauf zu verzichten, unter der eigenen roten Fahne und mit den eigenen Parolen zu kämpfen.
Ein Schritt vorwärts
Das Sit-in vor dem Verteidigungsministerium war ein Schritt vorwärts für die Revolution, kein Rückschritt, obwohl mehrere Genossen dabei verhaftet und brutal gefoltert wurden. Wir haben den Kampf zu neuen Höhen gebracht.
Erstens indem wir mit einem alten Tabu brachen, das besagte, man veranstaltet keine Sit-ins oder Proteste unmittelbar vor der Zentrale der Konterrevolution, und zweitens indem es gelang, den revolutionärsten Flügel der salafistischen Bewegung zu erreichen und deren Anerkennung zu gewinnen. Ich neige mich vor der Tapferkeit aller Genossinnen und Genossen, die am Sit-in teilnahmen und dem Militär die Stirn boten.
Mit dem Staat niemals
Alle Aktivisten und Sympathisanten der Revolutionären Sozialisten sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß, aber es schmoren weiterhin Hunderte Islamisten und unabhängige Aktivisten sowie einfache Bürger in den Gefängnissen und warten ihre Militärgerichtsprozesse ab. Wir müssen unser Bestes geben, ihnen beizustehen und ihre Freilassung zu erwirken. Wir werden nicht aufhören, uns gegen den Militärrat zu organisieren. Dabei sollte es unser besonderes Anliegen sein, islamistische Kader zu erreichen, die sich am Kampf beteiligen wollen.
Die Polarisierung innerhalb der islamistischen Bewegung kann mit jedem Verrat und jedem Kompromiss, den die islamistische Führung mit dem Militärrat eingeht, mit jeder erneuten Konfrontation mit dem Staat, mit dem Anstieg einer revolutionären Linken, die der enttäuschten Jugend eine echte Alternative zu bieten hat, und vor allem mit der Eskalation der Streikwelle nur wachsen. Bei all dem müssen wir darauf bedacht sein, unsere organisatorische Unabhängigkeit zu wahren, unsere eigenen Transparente hochzuhalten, unsere eigene Literatur zu verkaufen und unseren Prinzipien treu zu bleiben. Wie Chris Harman sagte: »Mit den Islamisten manchmal, mit dem Staat niemals.«
Ein guter Kompass
Diese Zeilen habe ich schnell inmitten einer sich entfaltenden Revolution niedergeschrieben. Mir ist bewusst, dass das Tempo der Ereignisse in Deutschland nicht das gleiche ist. Aber in beiden Situationen, ob die Lage sich täglich ändert oder sich nur schrittweise entwickelt, braucht man einen guten Kompass.
Das hat mit Dogmatismus nichts zu tun, ganz im Gegenteil: je klarer der Kompass, je tiefer das theoretische Verständnis, desto selbstsicherer können wir auf die wechselnden Erfordernisse des Kampfes um eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft angemessen und flexibel reagieren.
Weiterlesen:
- »Islam – Eine marxistische Analyse«, von Chris Harman, gerade erschienen in der 4. Auflage. Hossam el-Hamalawy: »Eine Analyse, die uns in Ägypten über viele Jahre Orientierung in unseren Beziehungen zur Muslimbruderschaft gegeben hat. Chris ist am 7. November 2009 am Abend seines 67. Geburtstages in Kairo gestorben. Er hat die ägyptische Revolution nicht selbst erlebt, seine Ideen haben aber darin ihre Bestätigung gefunden.«
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