Oskar Lafontaine sprach auf der öffentlichen Anhörung der Fraktion DIE LINKE in Bad Doberan am 3. Juni über die Top-Terroristen von Heiligendamm, die Demokratisierung der Wirtschaft und die Kraft der neuen LINKEN:
»Liebe Freundinnen und Freunde,
die Nachrichten der letzten Stunden haben ein Thema gehabt: das Thema der Gewalt. Im Zentrum der Berichterstattung stand die Gewalt, die von einigen Chaoten ausgeübt wurde, als sie eine friedliche Demonstration umzufunktionieren versuchten.
Ich will hier sagen, dass DIE LINKE gegen jede Form von Gewalt ist und insofern verurteilen wir auch die Gewalt, die am Rande der Demonstration ausgeübt worden ist. Ich will aber für DIE LINKE sagen, dass wir in keinem Fall zulassen können, dass diese Form der Gewalt jetzt im Mittelpunkt der Diskussion steht. Wir reden über eine Gewalt, die eine viel größere Dimension hat: Das ist die Gewalt des Kapitalismus.
Hier wurde von Eugen Drewermann bereits Jean Jaurès zitiert. Ich zitiere ihn auch immer gerne. Er hat einmal gesagt: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Über diesen Satz müssen wir nachdenken, liebe Freundinnen und Freunde. Wenn Werner Sombart hier zitiert worden ist mit dem Wort des Riesen, der gefesselt werden muss, dann lasst uns darüber reden, wie dieser Riese, der in solch großem Umfang Gewalt ausübt auf der Erde, gefesselt werden kann.
Ich will ein paar Vorschläge machen, dass diese Zusammenkunft von uns abgerundet wird mit konkreten Vorstellungen, die DIE LINKE hat, um diesem Riesen Fesseln anzulegen. So wie ich Jaurès gerne zitiere, zitiere ich auch gerne Jean-Jacques Rousseau, der einmal einen klugen Satz gesagt hat, auf dem man linke Politik begründen kann. Er sagte einmal: „Zwischen dem Starken und dem Schwachen befreit das Gesetz, während die Freiheit unterdrückt.“
Mit anderen Worten: Überall auf der Welt brauchen die Schwachen Gesetze oder Regeln, damit sie geschützt werden. Und das ist die Grundlage, auf der wir unsere Politik aufbauen. Und diese Regeln, die die Schwachen schützen, möchte ich jetzt nennen.
Wir leben in der Welt des Finanzkapitalismus, der dabei ist, wirklich viele Schranken zu überwinden. Wenn man dem Finanzkapitalismus Fesseln anlegen will, dann brauchen wir endlich wieder ein System fester Wechselkurse statt des Systems flexibler Wechselkurse, das überall auf der Welt die Spekulation anheizt.
Wir brauchen, zweitens, wieder Kapitalverkehrskontrollen. Davon war bei Walden Bello bereits die Rede, denn schrankenlos weltweit operierendes Kapital kann ganze Volkswirtschaften ruinieren, deshalb braucht der Kapitalfluss um die Welt Regeln, wie der Flugverkehr oder der Schiffsverkehr Regeln braucht. Denn sonst passieren größere Unglücke.
Ich werbe nach wie vor für die Tobin Tax, weil es richtig ist, in das Getriebe des internationalen Kapitalismus Sand zu streuen. Das ist im übrigen eine linke Tradition.
Früher, wenn die Arbeiter in Frankreich beispielsweise mit dem Tempo der Maschinen nicht einverstanden waren oder auch mit dem, was man ihnen in der Produktion zugemutet hat, dann warfen sie ihre Holzschuhe, ihre Sabots, in die Maschinen hinein. Sabotage im richtigen Sinne braucht auch der internationale Finanzkapitalismus, dass er nicht läuft wie geschmiert.
DIE LINKE ist nicht für die Transparenz von Hedge-Fonds. Welch eine lächerliche Forderung, die hier wieder auf dem Gipfel gestellt werden wird. Wir sind für das Verbot dieser Heuschrecken.
An dieser Stelle zeigt sich die Unfähigkeit, ja Verlogenheit des ganzen politischen Systems derzeit. Man muss nicht den hiesigen Heuschreckenbekämpfer Müntefering zitieren. Nein, man kann Tony Blair zitieren, der einmal, als er das Amt antrat, von einer neuen Weltfinanzarchitektur sprach, die es zu errichten gelte.
Aber mittlerweile hat die Finanzindustrie in der Londoner City ihm scheinbar einiges abgekauft und so werden wir nicht weiterkommen. Ja, wir brauchen eine Weltfinanzarchitektur, eine ganz andere. Einige Elemente habe ich hier genannt, aber das setzt voraus, dass die Politik sich nicht kaufen lässt. So viel Tony Blair zum Abschied.
Wir fordern nach wie vor die Entschuldung der Dritten Welt. Es ist so lange obszön, dass die mächtigsten Staaten der Welt sich versammeln und über die Dritte Welt sprechen, solange aus den Staaten der Dritten Welt in die Industriestaaten mehr Kapital fließt als umgekehrt.
Wir brauchen ein Austrocknen der Steueroasen. Es kann nicht so sein, dass die Welt so eingerichtet ist, dass diejenigen, die die großen Kapitalien besitzen, sich der nationalen Besteuerung entziehen können. Natürlich würden wir es begrüßen, wenn auf dem Gipfel bescheidene Schritte unternommen würden, um diesem Ziel näher zu kommen.
Da wir aber nicht so blauäugig sind, nur Forderungen aufzustellen, stellen wir uns auch die Frage: Wie können wir denn solche Ziele überhaupt durchsetzen? Wenn ich davon rede, dem Kapitalismus Fesseln anzulegen, dann möchte ich hier global die Forderung erheben, dass Schlüsselbereiche der Wirtschaft vergesellschaftet sein müssen.
Das gilt, liebe Freundinnen und Freunde, nicht in erster Linie für die Banken, erschreckt nicht, nicht in erster Linie für die Ölindustrie. Nein, das gilt zunächst einmal für die Waffenindustrie. Es ist doch pervers, dass Waffenindustrien privatwirtschaftlich auf der Welt organisiert werden können. Sie kaufen sich doch diese Beschlüsse in den Parlamenten der Welt. Das Erste also ist die Vergesellschaftung der Waffenindustrie.
Man muss noch nicht einmal einen sozialistischen Heiligen zitieren, um die Notwendigkeit dieser Forderung zu begründen. Man kann einen der Vorvorgänger des W. Bush, der hier sein wird, zitieren, nämlich Dwight D. Eisenhower, der am Ende seiner Amtszeit gesagt hat: Es ist schrecklich, dass der militärisch-industrielle Komplex die ganze Politik der Vereinigten Staaten bestimmt.
Und dieser konservative republikanische Präsident hatte Recht. Wir sind noch keinen Schritt weiter gekommen. Immer noch bestimmt der militärisch-industrielle Komplex die Politik der Vereinigten Staaten von Amerika.
Wir müssen aber nicht nur die Waffenindustrie, sondern auch die Finanzindustrie verstaatlichen und die Energieindustrie. Und deshalb bewundern wir die Entscheidungen von Chávez in Venezuela.
Wenn ich dabei bin, die Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien anzusprechen, dann meine ich natürlich nicht die Vollverstaatlichung, so wie sie in einigen Sozialismusversuchen auch gescheitert ist, weil Verstaatlichung allein keine Probleme löst. Sie muss ergänzt werden um die Mitbestimmung der Beschäftigten, um Mitbestimmung im Betriebsverfassungsgesetz.
Wenn ich schon dabei bin: Wir brauchen auch in den kapitalistischen Systemen wieder eine Demokratisierung der Medien. Es gibt den gewaltigen Irrtum, in den westlichen Industriestaaten seien die Medien demokratisch. Das ist ein gewaltiger Irrtum. Sie sind frei von staatlichem Einfluss, jawohl, überwiegend. Sie sind aber in der Hand der Wirtschaft. Und eine freie Presse kann nicht in der Hand der Wirtschaft sein.
Pressefreiheit kann niemals die Freiheit von 200 reichen Leuten sein, ihre Meinung zu verbreiten. Pressefreiheit muss wirklich den Zugang zu den Medien für alle Menschen öffnen. Deshalb ist das Internet beispielsweise wirklich ein Fortschritt. Aber wie, DIE LINKE, wir müssen wieder die innere Pressefreiheit thematisieren. Mitbestimmung und Demokratie also auch in den Medienkonzernen, nicht nur in der Wirtschaft.
Und wenn dann die Mächtigen der Welt zusammen sind, und über die Globalisierung sprechen, dann wollen wir eine alte Forderung wieder in Erinnerung rufen, nämlich, dass abgerüstet werden muss und dass die Waffenindustrie in den Ländern abgebaut werden muss. Daher die Forderung nach Vergesellschaftung.
Ein erste Schritt wäre es, wenn der UN-Sicherheitsrat eine Genehmigungsagentur einrichten würde, in der alle Waffenexporte der Welt genehmigt und veröffentlicht werden müssen. Das wäre ein Fortschritt. Es geht nicht nur um ein Kyoto für Treibhausgase, es geht auf dieser Welt auch um ein Waffenexport-Kyoto, oder ein Waffenproduktions-Kyoto. Es wäre sinnvoll, dass Quoten festgelegt würden, nach denen die mächtigsten Industriestaaten ihre Waffenindustrien abrüsten würden. Denn sie gehören nun wirklich zu den großen Verschmutzern dieser Erde.
Wir fordern die hier Versammelten auf, den Atomwaffensperrvertrag endlich einzuhalten. Es ist doch wirklich pharisäerhaft, den Atomwaffensperrvertrag immer im Hinblick auf den Iran zum Thema zu machen und zu verschweigen, dass sie selbst den Atomwaffensperrvertrag vielfach gebrochen haben. Denn er verpflichtet die Atomstaaten zu vollständiger Abrüstung unter internationaler Kontrolle.
Ich sprach davon: Wir sind gegen jede Form von Gewalt. Wir sind auch diejenigen, die den internationalen Terrorismus bekämpfen wollen. Wir stehen an vorderster Front gegen ökonomischen Terrorismus, aber auch die Gewalt des Kapitalismus. Deshalb war es notwendig, dass DIE LINKE im Bundestag die Frage aufgeworfen hat: Was ist denn Terrorismus?
Wenn der Bundestag mehrheitlich beschlossen hat, Terrorismus ist die rechtwidrige Anwendung von Gewalt, um politische Ziele durchzusetzen, dann haben wir die Top-Terroristen der Welt hier versammelt.
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Wenn man den Zaun sieht, hinter dem sie sich versammeln, dann kann man fast ironisch kommentieren: Es ist eine große Leistung von Angela Merkel, die Top-Terroristen dieser Welt hinter Gitter gebracht zu haben.
Es ist ein Hauch von Selbsterkenntnis, dass sie sich selbst hinter Gitter begeben hat. Dies ist nicht nur Kritik an der Politik. Es ist auch Kritik an vielen, die sich an der öffentlichen Debatte beteiligen, auch an unseren Medien.
Es ist für mich völlig unverständlich, dass die deutsche Öffentlichkeit es weiß, dass das höchste Verwaltungsgericht der Bundesrepublik festgestellt hat, dass wir am Irakkrieg beteiligt sind, dass wir das Völkerrecht brechen und dass wir zur Tagesordnung übergehen.
Wir sind immer noch dabei, das Völkerrecht zu brechen, während hier der G8-Gipfel tagt, denn täglich starten Flugzeuge von deutschen Flughäfen, werden Überflugrechte gewährt.
Nun werden die sich nicht ändern, wenn wir hier schöne Reden halten. Wir wollen über unsere Methoden des Kampfes nachdenken. Deshalb hat DIE LINKE eine Form des Kampfes wieder in die Debatte gebracht, die wir vielleicht aus dem Auge verloren haben.
Wir nennen das: Französisch lernen. Wenn wir die sozialen Bedingungen unseres Staates ändern wollen, dann brauchen wir den politischen Streik. Wir brauchen den Generalstreik.
Diejenigen, die sich hier versammeln, sollten auch einmal darüber nachdenken, warum wir nicht nur in der Bundesrepublik die Erfahrung machen, dass das repräsentative Regierungssystem allmählich in die Krise gerät oder sich voll in der Krise befindet. Ist Repräsentation überhaupt möglich? So fragte nicht nur Rousseau.
Aber wenn man jetzt die Ergebnisse sieht, die wir hier täglich erleben in Deutschland, dass in allen entscheidenden Fragen – sei es das Steuerrecht, sei es das Sozialrecht, sei es der Arbeitsmarkt, also die Bedingungen, unter denen Menschen, die vom Arbeitsleben ausgegrenzt werden, leben müssen, sei es das Gesundheitsrechtsystem oder sei es die Entsendung von Tornados nach Afghanistan – dass in allen entscheidenden Fragen zwei Drittel der so genannten Volksvertretung gegen zwei Drittel des Volkes abstimmen, dann brauchen wir mehr direkte Demokratie. Das ist eine Forderung der LINKEN.
Es müssen bei der neuen LINKEN wichtige strategische Entscheidungen nicht in Spitzengremien allein entschieden werden, noch nicht einmal in gewählten Delegiertenkörperschaften, sondern sie müssen in direkter Demokratie durch Mitgliederbefragungen entschieden werden.
Wir müssen vorangehen, wenn wir diejenigen vertreten wollen, die keine Vertretung mehr haben, wenn es darum geht, Glaubwürdigkeit herzustellen. Dies ist ein Anspruch an alle, die sich beteiligen.
Was wir immer wieder an den Pranger stellen müssen, ist gekaufte Politik. Hier rate ich dazu, dem Spitzensport zu folgen, der jetzt wieder auf der Anklagebank sitzt. An einer Stelle sind sie wirklich viel, viel ehrlicher als diejenigen, die Politik vertreten, wenn es nämlich darum geht, offen zu legen, wer sie eigentlich finanziert.
Nehmen wir Schumi. Er hatte hier immer stehen: Shell, Mercedes, BMW, Deutsche Bank oder Allianz oder was auch immer. Stellt euch mal vor, in den Quasselrunden der Republik, bei Christiansen, wären überall die Professoren. Sie hätten hier stehen: Deutsche Bank oder Dresdner Bank.
Das ist ein Ausfluss der Gewalt des kapitalistischen Systems, dass es ihm immer wieder gelingt, politische Entscheidungen zu kaufen. Es braucht doch keiner so naiv zu sein, zu glauben, dass hier irgendetwas herauskäme, was dem Finanzkapitalismus Fesseln anlegt, solange die Finanzindustrie beispielsweise die Politik in den Vereinigten Staaten und die Politik in Großbritannien und so weiter kauft.
Man nennt das: Parteispenden geben. Man nennt das: Wahlkämpfe finanzieren. Deshalb appelliere ich hier auch an den deutschen Bundestag, sich an einer Stelle endlich ehrlich zu machen und nicht das Niveau einer Bananenrepublik zu haben. Abgeordnetenbestechung muss auch in Deutschland unter Strafe gestellt werden.
Es gibt aber durch die neue LINKE Bewegung in der Politik. Wenn sie zum Beispiel – ich will zwei Beispiele nennen – die Rente mit 67 beschlossen haben und die SPD, die Sozialabbaupartei Deutschlands, jetzt wieder darüber spricht, dass dies geändert werden müsse, dann stellt sich doch die Frage: Woher dieser Gesinnungswandel?
Ich glaube, die Wahl in Bremen hat das Nachdenken im deutschen Bundestag befördert und das muss dann auch so weitergehen. Und wenn jetzt auf einmal die Grünen, die von ehemaligen Pazifisten zu Kriegslustigen geworden sind, auf einmal darüber nachdenken, ob die Unterstützung des Afghanistaneinsatzes vielleicht doch falsch war, dann ist das Ganze zu begrüßen.
Aber das zeigt doch: Bewegung kriegen wir in die Politik nur, wenn wir uns zusammenschließen und die neue LINKE in Deutschland zu einer politischen Kraft machen. In diesem Sinne: Glück auf!«
(Quelle: Tonbandabschrift)