Griechenland soll raus aus dem Euro und die deutsche Linke dringend ihre Haltung zu Europa überdenken. Costas Lapavitsas ist nicht nur Professor für Ökonomie, sondern auch ein Freund der klaren Worte. Ein Interview, das reichlich Diskussionsstoff liefert. Vorabveröffentlichung aus marx21 Nr. 23, das am 2. Dezember erscheint Für den Redaktionskollegen war klar: »Der Mann muss ins Blatt!« Der Mann ist Costas Lapavitsas. marx21-Redakteur Marcel Bois saß im Publikum, als Costas sich bei einer Konferenz der Zeitschrift Historical Materialism in London eine Redeschlacht mit anderen linken Ökonomen geliefert hatte. Thema war die Eurokrise und die Zukunft der europäischen Gemeinschaftswährung. Die Kontaktaufnahme gestaltete sich dank Facebook einfach und drei Tage später stand ein ebenso engagierter wie freundlicher Costas am Telefon Rede und Antwort. Seine Bitte zum Schluss: Die europäische Linke brauche dringend eine Debatte über ihre Haltung zum Projekt Europa. Er hofft, mit diesem Interview einen Anstoß zu geben und freut sich über jede Antwort. Diese Bitte geben wir hiermit an unsere Leser weiter. Anmerkungen und Kritik bitte an: redaktion@marx21.de. marx21.de: Costas, zu Beginn ein Blick in die Kristallkugel: Werden wir im Jahr 2015 noch mit dem Euro bezahlen? Costas Lapavitsas: Einige Länder werden 2015 noch den Euro haben, aber es ist höchst unwahrscheinlich, dass alle Länder, die jetzt in der Eurozone sind, ihn noch als Zahlungsmittel nutzen werden. Der Euro in seiner jetzigen Form ist nicht zu halten, und er wird nicht erhalten werden. Die Kräfte, die seinen Zusammenbruch vorantreiben, sind offensichtlich: Während wir uns unterhalten, bricht der europäische Anleihenmarkt zusammen, weil die Investoren sich auf deutsche Staatsanleihen verlegen und damit die Zinsraten der Anleihen anderer Staaten in die Höhe treiben. Wenn der Anleihenmarkt auf diese Weise weiter unter Druck gerät, ist der Euro in wenigen Wochen erledigt. Bundeskanzlerin Angela Merkel betont stets den Unterschied zwischen der Banken- und der Schuldenkrise. Erstere hätten, so sagt Merkel, verantwortungslose Banker durch Fehlspekulationen verschuldet. Die Schuldenkrise sei hingegen von den Regierungen der Mittelmeerstaaten verursacht worden, indem sie ihre Schulden außer Kontrolle geraten ließen. Ist diese Unterscheidung sinnvoll? Nein, keineswegs. Wir haben es nur mit einer Krise zu tun. Sie begann im Jahr 2007 in den USA als Immobilienkrise. Verursacher waren Banken und andere Finanzakteure. Auch deutsche Investoren waren in großem Ausmaß daran beteiligt. Als die Immobilienblase platzte, verloren die Banken viel Geld. Daher wurde eine Bankenkrise daraus, die wiederum zu einer globalen Rezession führte. Dieser Krise begegneten die Industriestaaten mit staatlichen Interventionen in nie gekanntem Ausmaß. Ziel war es, die Banken zu retten und die Nachfrage zu stabilisieren. Der gegenwärtig explodierende öffentliche Schuldenstand ist also eine unmittelbare Folge der Staatsintervention der Jahre 2008 bis 2010 – und nicht von ausgabewütiger Regierungspolitik. Und nun sind wieder die Banken verantwortlich, diesmal vor allem europäische Banken, da sie die Hauptgläubiger der Staatsschulden sind. Die Krise der Jahre 2007 und 2008 wurde nie vernünftig gelöst, weder in Europa noch anderswo. Jetzt, da europäische Staaten schwere finanzielle Problemen haben, besteht die Hauptgefahr darin, dass noch mehr Banken pleitegehen. Die Krise kehrt an ihren Ausgangspunkt zurück. So interpretierst du die Geschichte. Aber was sagst du zu dieser Version: Die Deutschen haben durch Privatisierung, Haushaltskonsolidierung und Lohnzurückhaltung eine Menge Entbehrungen auf sich genommen und so unter Schmerzen ihr Haus in Ordnung gebracht. Derweil haben es sich alle anderen gut gehen lassen und die Deutschen sollen jetzt dafür zahlen. Das lehnen sie verständlicherweise ab. Ich habe volles Verständnis dafür, wenn Arbeitnehmer in Deutschland mit Skepsis auf den Euro schauen. Es ist nachvollziehbar, dass sie keine Lust haben, öffentliches Geld für die Rettung der Gemeinschaftswährung auszugeben, zumal es ja de facto eine weitere milliardenschwere Bankenrettung ist. Seit 15 Jahren sinken die Einkommen der Beschäftigten in Deutschland und finden staatliche Kürzungen statt. Im Prinzip haben die deutschen Lohnabhängigen die Kosten der deutschen Wiedervereinigung und die Kosten der Umstrukturierung des deutschen Kapitalismus getragen. Der wichtigste Grund für den Erfolg der deutschen Exportwirtschaft und ihre gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit ist der Druck, der auf die Beschäftigten in Deutschland ausgeübt wurde. Die deutsche Wirtschaft war bereits sehr viel wettbewerbsfähiger als andere, hat aber erst richtig zugelegt, als die Arbeitskosten über Jahre eingefroren blieben. Grund war also keine gesteigerte Produktivität, Effizienz oder besonderer Einfallsreichtum, womit normalerweise der Erfolg des deutschen Kapitalismus erklärt wird. Viele Länder an der Peripherie Europas hatten da eine bessere Bilanz. Es war allein der Druck auf die Beschäftigten und die Stagnation der Löhne. Insofern kann ich die Reaktion der deutschen Arbeitnehmer gut verstehen, wenn es darum geht, jetzt weitere Steuergelder freizugeben um den Euro, beziehungsweise die Banken, zu retten. Ich bin jedoch der Meinung, dass es zumindest teilweise eine fehlgeleitete Reaktion ist. Es stimmt keinesfalls, dass die Beschäftigten anderswo in den vergangenen 15 Jahren aus dem Vollen geschöpft hätten. Der Druck auf sie war in ganz Europa erheblich, überall ist von Arm zu Reich umverteilt worden. Die herrschenden Klassen anderer europäischer Staaten waren bei der Durchsetzung von Haushaltskürzungen und Senkung des Lohnniveaus nicht so erfolgreich und skrupellos wie die deutsche herrschende Klasse, aber sie haben versucht, in dieselbe Richtung zu gehen. Wenn sich die Arbeiter in Deutschland angegriffen fühlen und besorgt sind, sollten sie ihren Zorn gegen ihre eigenen Unternehmen und ihre Regierung richten. Denn von dort kommt der Druck – und nicht von den Arbeiterinnen und Arbeitern in Griechenland, Italien und Spanien. Volker Kauder, der Fraktionsvorsitzende der CDU-Bundestagsfraktion, sagt, Europa sollte »Deutsch lernen«, also Haushaltskonsolidierung betreiben und exportorientiert wirtschaften, um aus der Krise herauszukommen. Ist das eine erfolgversprechende Strategie? Nein, das ist ein todsicheres Rezept, um die Eurozone zu zerstören. Der Druck auf die Beschäftigten hat den deutschen Unternehmern einen Wettbewerbsvorteil verschafft. Sie haben diesen Vorteil sehr geschickt genutzt, um sich Handelsbilanzüberschüsse zu sichern. Diese Überschüsse stammen zum allergrößten Teil aus der Eurozone, die zu einer Art deutscher Binnenmarkt geworden ist. Das ist der größte Vorteil, den die Eurozone der deutschen Kapitalistenklasse bietet. Durch das Einfrieren der Löhne in der Heimat haben sie enorme Vorteile auf diesem Markt. Wenn aber eine Seite große Überschüsse erwirtschaftet, müssen andere große Defizite tragen. Das heißt: Die Defizite am Rande der Eurozone korrespondieren mit den Überschüssen Deutschlands. Dieses Ungleichgewicht bildet den Kern der Instabilität der Eurozone. Wenn die deutsche herrschende Klasse einen Funken Weitsicht hätte, würde sie sich um diese Ungleichgewichte kümmern und ihre eigenen Überschüsse reduzieren. Stattdessen raten sie allen anderen, auch Überschüsse zu erwirtschaften. Das ist eine Milchmädchenrechnung. Nicht jeder in der EU kann Überschüsse haben, insbesondere dann nicht, wenn der Kurs des Euros im Verhältnis zum Dollar hoch ist und dadurch den Handel außerhalb der Eurozone erschwert. Wer alle zwingt, die Löhne und damit die allgemeine Nachfrage zu drosseln, legt das Fundament für die Zerstörung der Eurozone. Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte die deutsche herrschende Klasse eine Strategie vorschlagen, die die Eurozone zerstört, wenn sie selbst die größten Profiteure der Währungsunion sind? Über diese Frage zerbrechen sich auch viele Wirtschaftswissenschaftler den Kopf. Zuerst einmal verfolgt die deutsche herrschende Klasse natürlich nicht bewusst das Ziel, die Eurozone zu zerstören. Das ist das Letzte, was sie will, denn sie zieht, wie du sagst, erheblichen Profit aus ihr. Aber das bedeutet nicht, dass sie die Folgen und inneren Widersprüche ihres Handelns versteht. Indem sie ihre eigenen unmittelbaren nationalen Interessen verfolgen, unterminieren sie unabsichtlich die Stabilität des gesamten Systems. Indem sie darauf bestehen, dass alle »deutsch werden« sollen, sagen sie, dass alle Länder mit einem Haushaltsdefizit staatliche Kürzungen vornehmen und Druck auf die Arbeiter ausüben sollen. Wahrscheinlich meinen die deutschen Herrschenden, dass dies zu einem neuen wirtschaftlichen Gleichgewicht auf einem allgemein niedrigeren Einkommensniveau führen wird und dass nach 10 bis 15 Jahren wieder Wachstum einsetzen wird. Aber das wäre nicht die Folge, denn die Eurozone würde in einem solchen Fall vorher zusammenbrechen.
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Die langfristige Lösung, auf die sich der EU-Gipfel geeinigt hat, ist eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die deutschen Sozialdemokraten begrüßen die Erklärung, weil sie genau das sei, was sie schon immer wollten. Erleben wir die Sozialdemokratisierung Europas? Mit Sicherheit nicht. Die Sozialdemokraten interpretieren falsch, worum es bei der »europäischen Idee« und dem Prozess der europäischen Einigung eigentlich geht. Sie hören »Koordination« und »Staatsintervention« und denken, dass die EU ein progressives, keynesianisches Projekt ist, das den Sozialstaat ausbauen wird. Sie hoffen, dass die Linke, wenn sie sich für dieses Projekt engagiert, dem Ganzen eine noch fortschrittlichere Richtung geben kann, zum Beispiel durch die Verabschiedung einer Europäischen Sozialcharta oder ähnlicher Dinge. Das war nie so und gerade die letzten zwei Jahren haben gezeigt, wie falsch diese Annahme ist. Nehmen wir das Ergebnis des letzten EU-Gipfels: Falls sich die verschiedenen Regierungen auf eine stabile Wirtschafts- und Finanzpolitik einigen – was ich bezweifle -, bestünde diese mit Sicherheit nicht darin, die Löhne zu erhöhen, die Rechte der Beschäftigten zu stärken oder in öffentliche Güter zu investieren. Der Konsens würde eher in die Richtung neigen, die Volker Kauder angedeutet hat: permanente Kürzungspolitik und permanenter Druck auf die Einkommen. Das ist die langfristige Lösung, die sich die deutsche herrschende Klasse vorstellt, und daran gibt es nichts zu begrüßen. Costas, du bist für den Austritt Griechenlands aus der Eurozone. In Deutschland stehst du damit Seite an Seite mit den reaktionärsten Kräften der nationalistischen Rechten. Hast du etwas zu deiner Verteidigung zu sagen? Ich habe nicht das Gefühl, mich verteidigen zu müssen. Die großen linken Parteien in Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern mögen sich selbst verteidigen und bitte einmal ihre Haltung zur Krise der Eurozone erklären. Mir scheint, sie haben sich faktisch der zentralen Strategie der herrschenden Klassen Deutschlands und Frankreichs angeschlossen, nämlich der Verteidigung des Euro. Das wesentliche politische Problem ist im Moment nicht die Haltung der extremen Rechten in Deutschland oder Frankreich. Das wesentliche Problem ist das, was Merkel und Sarkozy sagen und tun: Rettung des Euro, Veränderung des institutionellen Rahmens der Gemeinschaftswährung und das alles auf dem Rücken der arbeitenden Bevölkerung. Zu meinem großen Erstaunen stehen weite Teile der deutschen Linken und der deutschen Gewerkschaften sowie Teile der französischen Linken zu dieser Politik. Sie scheinen tatsächlich zu glauben, dass Merkel und Sarkozy ein gemeinsames »europäisches Haus« bauen, in dem die Linke nun versucht, die Türen auszutauschen, den Boden zu putzen und eine neue Küche einzubauen. Es scheint, als hätten die wichtigsten Parteien der Linken ihre Fähigkeit eingebüßt, von der herrschenden Klasse unabhängige Strategien zu entwickeln. Wenn ich den Austritt der Randstaaten aus dem Euro fordere, dann geht es um einen radikalen Bruch mit den Klasseninteressen und nationalen Hierarchien, die gegenwärtig den Kontinent beherrschen. Die europäische Währungsunion ist mitnichten eine Allianz für Solidarität, Frieden und Völkerverständigung. Die Währungsunion ist ein Mechanismus, der primär dem Zweck dienen soll, die Interessen der großen Banken und Konzerne in Europa zu verteidigen. Und dieser Mechanismus wird so eingesetzt, dass er dabei den Interessen der Kernländer wie Deutschland und Frankreich auf Kosten der Länder der Peripherie wie Griechenland, Portugal und Spanien dient. Um es mal altmodisch zu formulieren: Die Währungsunion ist ein imperialistisches Machtinstrument. Selbstverständlich wollen die herrschenden Klassen Deutschlands und Frankreichs den Euro erhalten, wobei das nicht bedeutet, dass sie dabei Erfolg haben werden. Ich glaube, die Linke, insbesondere die radikale Linke, sollte erkennen, dass dies der entscheidende Frontverlauf ist, und sich entsprechend positionieren. Sie sollten sich nicht daran beteiligen, die Währungsunion zu retten. Die europäische Arbeiterklasse hat kein Interesse an der Währungsunion. Aber die Linke hat ein entscheidendes Interesse daran, die Interessen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Wenn das bedeutet, dem Euro zu schaden, dann soll es so sein. Mir ist klar, dass die Rufe nach dem Austritt aus der Eurozone auch von den Rechtsextremen kommen. Deshalb sollte die Linke für einen fortschrittlichen Austritt stehen. In Griechenland brauchen wir eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung im Interesse der arbeitenden Menschen. Ein Austritt aus dem Euro kann ein Katalysator für einen solchen Umbruch sein. Er müsste beinhalten: die Überführung der Banken in öffentliches Eigentum, die Einführung von Kapitalkontrollen, eine durchgreifende Umverteilung des Reichtums und Zugriff auf die Schaltstellen der Industriepolitik. Ziel muss es sein, Arbeitslosigkeit zu beseitigen und die Einkommen und die Arbeitsbedingungen der Arbeiterklasse zu verteidigen. Dazu brauchen wir einen Bruch mit der neoliberalen Politik der letzten drei Jahrzehnte. So betrachtet sollten die Menschen in Griechenland und anderen Randstaaten für ein Übergangsprogramm wie eben skizziert kämpfen und auf dieser Grundlage die Kräfteverhältnisse verändern. Innerhalb der Zwangsjacke der Währungsunion ist dies unmöglich. Wenn die Linke diese Fragen nicht aufgreift und den völlig gerechtfertigten Euroskeptizismus der europäischen Arbeiterklasse in einen Kampf gegen die Diktate der Währungsunion verwandelt, werden die Rechtsradikalen davon profitieren. Wenn der Zusammenbruch des Euro näher kommt, werden wir erleben, dass rechte Interpretationen in Europa plötzlich mehrheitsfähig werden – sofern die Linke keine radikale Alternative bietet. Einen Vorgeschmack darauf haben wir bekommen, als die deutschen Medien die unglaublichsten Geschichten über die Griechen geschrieben haben und in Griechenland ähnliches über die Deutschen veröffentlicht wurde. Das kann äußerst unappetitlich werden, wenn die Linke nicht bald erkennt, dass der Euro nicht das ist, wofür sie ihn hält. Entschuldige, aber nach Jahrhunderten bewaffneter Streitigkeiten zwischen den Staaten Europas und nach zwei Weltkriegen hat die Linke doch ein Recht, in der Europäischen Union ein fortschrittliches Projekt zu sehen. Willst du zurück zum guten alten Nationalstaat ohne irgendeine Form gemeinsamen politischen Überbaus? Ja klar, das erzählen uns die Regierungen die ganze Zeit – und leider auch die Linken und die Gewerkschaften. Ich akzeptiere das trotzdem nicht. Ich halte die Europäische Union nicht für das progressive Projekt, als das sie permanent unterschwellig angepriesen wird. Aber der Charakter der EU hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Sie ist heute nicht mehr die Gleiche wie vor 50 Jahren. Die gegenwärtige Europäische Union und insbesondere die Währungsunion dient den äußerst klaren und rücksichtslosen Klasseninteressen der Großindustrie und des Finanzsektors. Zudem hat die EU in der Krise zwei weitere problematische Aspekte offenbart. Zum einen beschneidet sie die Souveränität der Nationalstaaten, gerade einiger kleinerer Staaten. Europa erlebt gerade wieder, wie Leute aus dem Zentrum – Deutschland hat sich hier besonders hervorgetan – Ländern der Peripherie vorschreiben, was sie zu tun haben. Sie diktieren deren nationale Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zum anderen verletzt die EU die Demokratie. Lange Zeit wurde sie als Garant der Demokratie dargestellt, als Instrument zur Sicherung der Freiheitsrechte der Europäer. Nun stellt sich heraus, dass sie das nicht ist. Wir sehen jetzt, dass die EU und insbesondere die Währungsunion dazu dienen, rücksichtslos Partikularinteressen – in diesem Fall die der Banken – auf der politischen Bühne durchzusetzen. Die Banker schreiben jetzt nicht nur die Wirtschaftspolitik vor – das machen sie seit Langem. Sie diktieren nun auch das politische Verfahren. Sie ernennen oder entlassen Regierungschefs. Sie ernennen oder entlassen ganze Regierungen. Es ist keine Übertreibung, wenn ich behaupte, dass die Dinge anfangen auszusehen wie in der Weimarer Republik. Immer mehr Menschen in Europa haben den Eindruck, dass die parlamentarische Demokratie versagt, dass sie korrupt ist, von Leuten außerhalb des Parlaments kontrolliert wird, die lieber per Erlass regieren als durch Abstimmungen. Es entsteht gerade eine ziemlich unglaubliche und gefährliche politische Situation. Diejenigen, die die EU aufgrund vergangener Versprechen verteidigen, sollten sich die gegenwärtige Situation sehr genau anschauen. Ich will betonen: Das Argument für einen Austritt aus der Eurozone ist keines für Isolationismus oder eines gegen die Einheit der Menschen Europas. Es geht um den Charakter der Währungsunion, um die Wahrnehmung, wie sich die EU entwickelt, und auch darum, die Forderung nach einer europäischen Einheit wieder auf die Tagesordnung zu setzen – aber auf einer anderen Grundlage. Eine wirkliche europäische Einheit kann es nur geben, wenn sie auf den Interessen der Arbeiterklasse und der Solidarität der arbeitenden Menschen gründet. Europa braucht heute einen Schock, der den ganzen Kontinent durchrüttelt. Diesen Schock können nur die Beschäftigten herbeiführen. Der Kampf hat in der Peripherie angefangen, aber er muss sich in die Kernländer ausweiten. Der Rest Europas wartet darauf, dass die Beschäftigten in Deutschland sich gegen ihre Regierung wenden und ihre Innen- wie Außenpolitik angreifen. Das würde sofort den auf Peripherie lastenden Druck verringern und wäre ein erster Schritt zu einer europäischen Einigung von unten. Deine zentrale Forderung scheint zu sein, dass die Linke in den europäischen Kernländern, also Deutschland und Frankreich, eine unabhängige und gegen die Regierungen gerichtete Position zum Euro vertreten sollte. Wie sollte die aussehen? Du bittest mich um ein vollständiges Programm für die gesamte europäische Linke? Das kann ich natürlich nicht leisten. Aber ich kann sicher sagen, dass das eine gemeinsame Anstrengung sein müsste, die im Austausch innerhalb der europäischen Linken entstehen sollte. Ich für meinen Teil denke, zwei Dinge sollten klar sein: Erstens brauchen wir einen Bruch mit Merkels Vorstellung von Europa – einen Bruch mit der Idee, dass die Währungsunion ein Schritt hin zur Einheit Europas sei. Die Idee von einer gemeinsamen europäischen Identität ist nobel und berührt die Menschen. Aber eine EU, die als hierarchisches Kartell der herrschenden Klassen Europas organisiert ist, kann diese europäische Identität sicherlich nicht schaffen. Im Gegenteil, die gegenwärtige EU hetzt die Menschen gegeneinander auf, wie wir es im Fall der Deutschen und Griechen erlebt haben. Wir müssen die Einheit neu definieren, und das geht nur auf der Grundlage von Respekt für nationale Souveränität und Demokratie sowohl im Kern als auch am Rand. Eine europäische Einheit sollte von einem gemeinsamen Kampf ausgehen mit gemeinsamen Forderungen und gegenseitiger Unterstützung. Sie erfordert echte Solidarität, die von unten aufgebaut werden muss. Wie schaffen wir das? Wir müssen gemeinsame Kampffelder finden. Gerade dafür bietet uns die Krise die Gelegenheit. Natürlich gibt es große nationale Unterschiede, die Krise stellt sich in der Peripherie anders dar als im Zentrum. Dennoch gibt es viele Berührungspunkte. Wir können uns zum Beispiel alle auf die Forderung nach einer Umverteilung des Reichtums einigen. Die Arbeiter in Deutschland brauchen ganz klar höhere Löhne und die Umverteilung des Bruttoinlandsprodukts zu ihren Gunsten. Sie brauchen das Ende der Lohnzurückhaltung und die Umkehr von der Politik, die ihnen Regierung und Bosse aufgezwungen haben – Exporte auf Kosten des Lebensstandards der Beschäftigten. Umverteilung ist auch in den Randstaaten wichtig, die zentrale Frage ist hier der Euro. Also sollte die Linke in den Randstaaten ihren Kampf für Umverteilung in dem Kontext führen, der durch den Austritt aus dem Euro gesetzt wird. Die Linke im Kern kann den Rand unterstützen, indem sie für finanzielle Unterstützung der Menschen in den Randstaaten kämpft, die vor der Aufgabe stehen, ihre Wirtschaften neu zu strukturieren. Wir sind uns auch alle einig, dass wir die Banken in öffentlicher Hand sehen wollen, damit die Banken in den Dienst der Interessen der arbeitenden Menschen gestellt werden. Ebenso brauchen wir Kapitalkontrollen und die Unterbindung von Finanztransaktionen, von denen die arbeitenden Menschen keinen Vorteil haben. Von hier ist es kein großer Schritt zu der Feststellung, dass Finanzpolitik nicht die Domäne sogenannter Experten in Frankfurt sein sollte, deren Bilanz in den letzten Jahren mehr als schlecht war. Finanzpolitik sollte demokratischer Kontrolle unterliegen. Wir brauchen keine elitäre, undemokratisch besetzte Europäische Zentralbank, um für unsere Interessen zu entscheiden. Die Schulden in Europa müssten komplett gestrichen werden. Wir müssen sehen, dass die sogenannten Rettungspakete nichts anderes sind als teure Kredite an die Randstaaten, um die Banken in Kerneuropa zu retten. Die Lasten tragen die Arbeiterinnen und Arbeiter in den Randstaaten, die unter gigantischer Arbeitslosigkeit und Lohnverfall leiden. Das sind einige Forderungen, die mir sofort einfallen, die eine Grundlage für einen gemeinsamen Kampf und echte Solidarität darstellen können. Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter in Mitteleuropa diese Linie verfolgen und für diese Forderungen in strukturierter Weise Druck machen, werden sie den Euro mit anderen Augen sehen. Und wenn die Beschäftigten in Deutschland einen spürbaren Lohnzuwachs erkämpfen würden, sähe auch die deutsche herrschende Klasse den Euro mit anderen Augen, weil er dann kein Mechanismus zur Gewinnung von Handelsüberschüssen mehr wäre. Dann hätten wir eine Basis für eine wirkliche europäische Einheit. Die Linke gemeinsam im Kern und an der Peripherie ist durchaus in der Lage, Europa aus dieser Krise zu holen. Dazu muss sie sich aber aus der Zwangsjacke der gängigen Europavorstellung befreien und eine eigene schlüssige Position entwickeln. (Die Fragen stellte Stefan Bornost) Zur Person: Costas Lapavitsas ist Professor für Wirtschaftswissenschaften. Er lehrt an der School of Oriental and African Studies in London. Mehr auf marx21.de:
- Superstaat unter deutscher Führung: Diktieren die Banken wirklich die Politik in der Eurozone? Thomas Walter antwortet auf das Interview mit Costas Lapavitsas
- Europäischer Kapitalismus unter Druck: Die Eurokrise und die Zukunft der Europäischen Union. Ein Beitrag von Christakis Georgiou