Vor zwei Wochen verurteilte ein russisches Gericht drei Mitglieder der Gruppe »Pussy Riot« zu zwei Jahren Gefängnis. Bei aller Kritik daran – ein Schauprozess, wie manche meinten, war das nicht. Helmut Dahmer wirft einen Blick zurück auf die Moskauer Prozesse der 30er Jahre
Am 17. August wurden drei junge Frauen, die in der (einst unter Stalin gesprengten und nach dem Kollaps der Sowjetunion flugs wieder aufgebauten) Moskauer Erlöser-Kathedrale ein einminütiges Happening veranstaltet hatten, bei dem sie die Muttergottes um Erlösung vom neuen Zaren Putin, dem amtierenden Ministerpräsidenten, baten, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Besonders wurde ihnen angekreidet, dass sie – auch noch in dem Käfig, in dem sie dem Gericht präsentiert wurden – die Kumpanei von Staatsmacht und Kirche anprangerten.
Patriarch Kyrill hat jüngst erst das autoritäre Regime Putins als ein »Wunder« (Gottes) gepriesen, und, wie dann auch die Richterin Syrowa im Prozess gegen »Pussy Riot«, behauptet, durch deren »blasphemische« Aktion seien die religiösen Gefühle zahlloser Gläubiger verletzt worden. Wie viele andere hat sich die Lyrikerin Sarah Kirsch mit den drei oppositionellen Frauen solidarisch erklärt. Sie schreibt: »Ein solcher Schauprozess ist die Fortsetzung der Sowjetunion mit anderen Mitteln.«
Kern der Schauprozesse
Die Erinnerung an besonders beeindruckende Ereignisse wird oft an Orts- und Personennamen festgemacht. Diese Namen fungieren dann als ein Kern, an den die historische Erfahrung sich anlagert. So wird der Name zu einem Begriff, der durch kontroverse Deutungen ausdifferenziert und mit späteren, ähnlichen Erfahrungen angereichert wird. Politisch-soziologische Begriffe sind Erfahrungskondensate. Den Kern des Begriffs »Schauprozess« bilden die drei berüchtigten Autodafés, die auf Geheiß Stalins in den Jahren 1936-38, zwei Jahrzehnte nach der Oktoberrevolution, die bolschewistische Parteiführung der Ära Lenin zum Tode verurteilten.
Auch die nach dem Muster dieser Prozesse Ende der vierziger und Anfang der fünfziger Jahre in den osteuropäischen Satellitenstaaten durchgeführten Verfahren gegen KP-Führer, die der »nationalistischen«, »titoistischen« oder »zionistischen« Abweichung, der »Verschwörung« und des »Verrats« beschuldigt wurden, und der noch unter Stalins Ägide im Januar 1953 eingeleitete »Ärzte-Prozess« (der nach dem Ableben des Despoten nicht mehr realisiert wurde) haben zu unserem Verständnis dessen, was ein »Schauprozess« ist, beigetragen.
Reine Scheinverfahren
Es handelt sich dabei um ein Scheinverfahren, bei dem es für die Ankläger und ihre Auftraggeber darauf ankommt, geständige Angeklagte, die sich der ihnen zur Last gelegten phantastischen Verbrechen (oder doch wenigstens der zu »Verbrechen« aufgebauschten Vergehen) selbst beschuldigen, einer großen Öffentlichkeit vorzuführen, sie auf diese Weise gründlich zu diskreditieren und sodann hinrichten (oder in Lagern verschwinden) zu lassen, um mögliche Gesinnungsgenossen und Sympathisanten abzuschrecken.
Die »Geständnisse« werden in der Regel vor dem öffentlichen (oder auch vor dem geheimen) Verfahren durch Folter und durch Todes-Drohungen gegen Familienangehörige der Angeklagten erpresst. Bei diesen Pseudo-Prozessen stehen die Urteile und Strafen von vornherein fest, die Angeklagten haben keine Verteidiger oder diese haben keine Chance.
Als bloßer Name untauglich
Verwenden wir politisch-soziologische Begriffe, bei denen es sich um Kondensate bestimmter historischer Erfahrungen handelt, als bloße Namen, ohne die in ihnen aufgespeicherte Geschichte mitzudenken oder explizit zu machen, dann taugen sie nicht als Modelle, die es uns ermöglichen, aktuelle Ereignisse mit Hilfe von historischen Vergleichen besser zu verstehen.
Da die kollektive – wie die individuelle – Praxis unserem Verständnis häufig vorauseilt, braucht es stets einige Zeit, bis wir bestimmte, einschneidende Ereignisse – Wendepunkte der historischen (oder der biographischen) Entwicklung – als solche erkennen. Sie sind uns, wie Hegel schrieb, zwar irgendwie »bekannt«, damit aber nicht auch schon »erkannt«.
Theater der Grausamkeit
Das gilt in besonderem Maße für das von Stalin und seinen Helfershelfern 1936-38 im »Oktobersaal« des Moskauer Gewerkschaftshauses in drei Akten inszenierte Theater der Grausamkeit, bei dem ein halbes Hundert als »Volksfeinde« bezeichnete Todeskandidaten – alte bolschewistische Revolutionäre, ein abgehalfterter Chef der Geheimpolizei und ein paar falsche Zeugen – auftraten, die sich, im »Dialog« mit Stalins Staatsanwalt Wyschinski, der Vorbereitung verbrecherischer Aktionen gegen die Stalin-Führung und die Sowjetunion bezichtigten. Sie behaupteten, sie hätten auf Geheiß des exilierten Trotzki und im Einvernehmen mit den Geheimdiensten Hitlerdeutschlands, Japans und der USA Attentate auf Stalin und seine Paladine geplant, die Industrialisierung des Landes sabotiert und dessen Aufteilung unter die imperialistischen Mächte vorbereitet.
Im August 1936 wurde gegen 16 Angeklagte – darunter Sinowjew und Kamenjew – verhandelt, im Januar 1937 gegen weitere 13, von denen die bekanntesten Pjatakow und Radek waren, und im März 1938 dann noch einmal gegen 21 «Verschwörer« und »Terroristen«, unter denen sich Bucharin, der Kopf der vormaligen kommunistischen »Rechten Opposition«, sowie Rakowski, der Anführer der früheren russischen »Linken Opposition«, befanden. Eine Reihe von Mitangeklagten erschien niemals vor Gericht, weil sie sich bis zuletzt weigerten, die ihnen zugedachte Rolle zu spielen und daraufhin umgebracht wurden.
Unheimliches Rätsel
Für die meisten Zeitgenossen, die die Ereignisse in Russland mit Interesse verfolgten, blieben sowohl die vermeintliche Verwandlung der ehemaligen bolschewistischen Revolutionäre in terroristische Attentäter im Dienst der imperialistischen Mächte als auch die Prozess-Berichte aus dem Moskauer Gewerkschaftshaus ein unheimliches, undurchdringliches Rätsel.
An dessen Lösung machten sich sogleich die beiden Hauptangeklagten, gegen die in Abwesenheit verhandelt wurde: Trotzki und sein Sohn Leo Sedow, die sich noch einige Zeit dem Zugriff von Stalins Killertrupps entziehen konnten. Sie erhielten Unterstützung nicht nur von Linkssozialisten, sondern auch von dem prominenten amerikanischen Philosophen John Dewey, der sich im April 1937 bereitfand, einen »Gegenprozess« zu leiten, in dem Trotzki Gelegenheit hatte, die Moskauer Anschuldigungen Punkt für Punkt zu widerlegen.
Blinder Glaube
Nicht wenige antifaschistische Intellektuelle (genannt seien Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann und Ernst Bloch) waren im Vorfeld des zweiten Weltkriegs überzeugt, man müsse blindlings für das Stalin-Regime optieren, wenn man Hitlers Vorherrschaft in Europa bekämpfen wolle.
Sie machten sich und andere glauben, bei den schaurigen Lügenprozessen sei alles mit rechten Dingen zugegangen. Für treue Parteikommunisten war dieser Glaube bis 1988 verbindlich, als kurz vor dem Ende der KPdSU und der Sowjetunion die Schreckensurteile der dreißiger Jahre aufgehoben wurden.
Stalins Scheitern
Um die geschichtliche Bedeutung der Schauprozesse zu verstehen, muss man sich deren Kontext vergegenwärtigen. Sie dienten nicht nur zur »Rechtfertigung« des Massenterrors, dem in den Jahren 1936-1938 mehrere Millionen Menschen in den Lagern und vor Erschießungskommandos zum Opfer fielen, sondern auch zur Ablenkung von dieser grausigen »Säuberung«, die in Gang gebracht wurde, um auf lange Sicht (und vor allem für den Kriegsfall) jede erdenkliche Opposition auszuschalten und einzuschüchtern. Isaac Deutscher hat darum den »Großen Terror« als einen »politischen Genozid« charakterisiert.
Stalins gewaltträchtige nationale Utopie, der Aufbau des »Sozialismus« in einem einzelnen Lande, also der Versuch, mit Hilfe der Zwangskollektivierung und einer beschleunigten, nachholenden Industrialisierung die Arbeitsproduktivität der höchst entwickelten kapitalistischen Gesellschaften und deren Lebensstandard »einzuholen« und zu »überholen«, war gescheitert, und nun ließ er Massen von »Volksfeinden« deportieren und erschießen, denen er die Schuld an der fortdauernden Misere zuschob, und führte (im Lagersystem des »Archipels GULag«) in großem Stil die Sklavenarbeit wieder ein. Es gab damals nicht nur die drei öffentlichen Prozesse gegen die Anführer der politischen »Volksfeinde«, sondern zwei weitere.
Armee und Polizei gesäubert
Im Juni 1937 wurde nach einem Geheimverfahren die Führung der Roten Armee (Tuchatschewski und andere) »liquidiert«, und bis Ende 1938 wurden 34.000 Offiziere als unzuverlässig entlassen. Weitere Säuberungswellen trafen 1937 die Kommunistische Internationale und die Geheimpolizei. Schließlich sollte – wie sich vor allem aus den Vernehmungsakten von Isaak Babel rekonstruieren lässt – ein weiterer Schauprozess gegen die Intelligenzija angestrengt werden, gegen prominente Künstler und Journalisten, die der Verschwörung und des »Kosmopolitismus« beschuldigt wurden.
Angeklagt werden sollten u. a. Ossip Brik, Ilja Ehrenburg, Sergej Eisenstein, Juri Olescha, Boris Pasternak und Dmitri Schostakowitsch… Im Zuge der Vorbereitung dieses Prozesses, der schließlich nicht zustande kam, wurden 1938 Boris Pilnjak und 1940 Babel, Wsewolod Meyerhold und Michail Kolzow (zusammen mit dem gestürzten GPU-Chef Jeschow) erschossen. Die 1937 eingeleitete Massenverfolgung der sowjetischen Schriftsteller kostete mehr als tausend Opfer.
Alte Garde liquidiert
1937 opferte Stalin die seit 1927 durch das Fraktionsverbot, die ideologische Umrüstung und Zehntausende von Ausschlüssen und Deportationen gezähmte bolschewistische Partei seinem nationalkommunistischen Projekt. Skrupellos ließ er die »alte Garde« und ihre Anhänger, die letzten Repräsentanten der arbeiterdemokratisch-internationalistischen Tradition, die ohnehin längst »kapituliert« hatten, »liquidieren«.
Eine Woche nach dem ersten Moskauer Prozess wurden 5.000 Oppositionelle in den Lagern umgebracht, und im März 1938 wurden in Workuta, wo man politische Gefangene konzentriert hatte, auf Stalins Befehl hin Hunderte von Trotzkisten erschossen. Nach dem zweiten Prozess fand (vom 23. 2. bis zum 5. 3. 1937) eine gespenstische Plenartagung des Zentralkomitees statt, das nun zum einen als eine Art Inquisitionstribunal gegen die vormaligen Rechtsoppositionellen Bucharin und Rykow diente, zum anderen aber dem »Großen Terror« seinen Segen gab. Zwei Drittel der Teilnehmer an diesem Plenum wurden in den folgenden Jahren ebenfalls erschossen.
Bruch statt Kontinuität
In der Geschichte der bolschewistischen Partei und der Sowjetunion gelten die Niederschlagung des Kronstädter Aufstands (im März 1921), der Beginn des sowjetischen »Thermidors« nach Lenins Tod (1924) und der »Krieg gegen die Bauern« (in den frühen dreißiger Jahren) als die entscheidenden Zäsuren. Die Mehrzahl der Historiker betont – trotz dieser Zäsuren – die Kontinuität der bolschewistischen Politik und sieht in Stalin den Gewaltherrscher, der aus dem Ausnahmezustand der Bürgerkriegszeit eine Regel machte, den »Roten Terror« der Tscheka systematisierte, vom Substitutionismus zum Totalitarismus und von der Ein-Mann-Diktatur im Betrieb zur Ein-Mann-Diktatur im Staat überging.
Dabei wird übersehen, dass Stalin, bevor er als Mandatar und Geißel der bürokratischen Kaste, die über das Mehrprodukt der sowjetischen Wirtschaft verfügte, die Stellung eines modernen Gottkönigs einnehmen konnte, die Überreste der alten bolschewistischen Partei (und sogar einen Teil seiner eigenen Fraktion) mit Stumpf und Stiel ausrottete. Dieses Massaker trennt den Bolschewismus von 1917 vom Stalinismus der Jahre 1936 bis 1953.
Chefterrorist Stalin
Der »Große Terror« war keineswegs die unvermeidliche Konsequenz der Oktoberrevolution und des Bürgerkriegs. Stalins Autarkie-Projekt ließ sich nur gegen die Mehrheit der Bevölkerung durchsetzen, und die Beseitigung von vielen Millionen Gegnern dieses Projekts brachte es der Verwirklichung nicht näher.
Der Bolschewismus von 1917 konnte sich nach dem Oktoberaufstand und während des Bürgerkriegs nur behaupten, weil er die bäuerliche Mehrheit des Landes hinter sich hatte und weil die minoritäre Arbeiterschaft bereit war, für ihn zu kämpfen. Wider Willen zu »Jakobinern« geworden, waren die Bolschewisten noch in der ersten Hälfte der zwanziger Jahre »Jakobiner mit dem Volk«. Stalin aber, der Chefterrorist im Kreml, wurde zum Henker seines Volkes.
Der Autor:
Der ehemalige SDS-Aktivist Helmut Dahmer gab in den 70er und 2000er Jahren Schriften von Leo Trotzki heraus. Er arbeitete als Professor für Soziologie in Darmstadt und lebt heute als freier Publizist in Wien.
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