Spanien ist dabei, das neue Zentrum der Eurokrise zu werden. Rabea Hoffmann wirft einen Blick auf ein Land zwischen Absturz und Widerstand
Nach Griechenland rückt Spanien immer stärker ins Zentrum der Eurokrise. Dabei galt es lange als europäisches Musterland: Vor dem Kriseneinbruch 2008 verzeichnete der spanische Staat kein Haushaltsdefizit, sondern einen Budgetüberschuss von 1,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP).
Der war damit neunmal so hoch wie der von Deutschland. Ähnliches gilt für die Staatsverschuldung. Mit 27 Prozent des Bruttoinlandsprodukts lag diese im Jahr 2007 bei etwa der Hälfte der deutschen Staatsverschuldung, die 50 Prozent des BIP betrug.
Geplatzte Immobilienblase
Auslöser des jetzigen ökonomischen und sozialen Absturzes war das Platzen einer Immobilienblase. In den 2000er Jahren hatte sich die Bauindustrie zu einem der wichtigsten Wirtschaftssektoren des Landes entwickelt. Begünstigt wurde diese Entwicklung durch die weitreichende Freigabe öffentlichen Bodens im Jahr 1998 durch die Regierung von Ministerpräsident José María Aznar von der konservativen Partido Popular (PP).
Hinzu kamen Steuererleichterungen, die es Arbeiternehmerinnen und Arbeiternehmern erleichtern sollten, Häuser zu kaufen.Dies führte nicht nur zu einem Boom, sondern auch zu immensen Finanzspekulationen im Immobiliensektor. Für die großen spanischen Banken waren sie ein Jahrhundertgeschäft – ebenso für die führenden europäischen Finanzinstitute, die ihnen Geld liehen.
Billigkredite für Arbeiter
Zwischen 2002 und 2007 wurden Kredite in Milliardenhöhe an Baufirmen für den Wohnungsbau und an spanische Arbeiterinnen und Arbeiter für den Kauf eines teuren Eigenheims vergeben. Bei der Mehrzahl von ihnen handelte es sich allerdings um »Subprime«-Kredite. Die werden an ärmere Menschen vergeben und haben hohe Ausfallrisiken für den Kreditgeber.
Nach dem Beginn der Subprime-Hypothekenkrise in den USA im Jahr 2007 froren europäische Banken den Kreditfluss an spanische Institute ein. Daraufhin platzte im folgenden Jahr die Immobilienblase auf der iberischen Halbinsel: Der Wohnungsbau stoppte von einem Tag auf den anderen. Im Dezember 2008 wurde nicht ein einziges Haus in ganz Spanien gebaut.
Hunderttausende Zwangsräumungen
Durch den Verlust der Arbeitsplätze in der bis dahin boomenden Bauindustrie stieg die Arbeitslosigkeit im Land schlagartig an. Hunderttausende Familien wurden aus ihren Häusern zwangsgeräumt, da sie ihre Hypotheken nicht mehr abbezahlen konnten. Die Immobilienkrise traf die Arbeiterklasse hart, weil kreditfinanzierter Haus- und Wohnungsbesitz in Spanien weit verbreitet ist: 87 Prozent der Bevölkerung leben in schon abbezahlten oder mit Hypotheken belasteten Häusern und Wohnungen, die wenigsten leben zur Miete.
Zum Vergleich: In Großbritannien liegt der Anteil derer, die eine Immobilie gemietet haben, bei 32 Prozent und in Deutschland sogar bei 57 Prozent. Diese Tradition des jahrzehntelangen Verschuldens fürs Eigenheim geht auf die Zeit der Diktatur Francos zurück. Im Jahr 1957 erklärte der damalige Minister für das Wohnungswesen, José Luis Aresse: »Wir wollen eine Nation von Eigentümern, nicht von Proletariern sein.« Im demokratischen Spanien wurde diese Tradition durch die staatliche Unterstützung des Häuserkaufs fortgeführt.
Bankensystem beschädigt
Die Kreditausfälle im Immobiliensektor haben das spanische Bankensystem schwer beschädigt. Spanische Finanzinstitute sind mit einem Betrag in Höhe von 400 bis 600 Milliarden Euro verschuldet, vor allem bei deutschen, französischen und US-amerikanischen Banken. Somit geht es bei jeglichen »Rettungsaktionen« durch die EU nicht um das Wohlergehen der Bevölkerung, sondern vor allem darum, die Schulden spanischer Banken zu begleichen – und zwar bei europäischen Banken, die die Immobilienblase mitfinanziert und sich an ihr bereichert haben.
Mittlerweile steckt die spanische Wirtschaft in einer tiefen Depression. Seit dem Beginn der Krise ist die Arbeitslosigkeit auf 25 Prozent angestiegen, bei erwerbsfähigen Jugendlichen unter 25 Jahren liegt sie sogar bei 53 Prozent.
Unglaubwürdige Parteien
Der soziale Abstieg breiter Bevölkerungsschichten hat fundamentale politische Auswirkungen. So haben die beiden großen politischen Parteien, die sozialdemokratische PSOE und die konservative PP, große Teile ihrer Glaubwürdigkeit eingebüßt.
Die PSOE kam im Jahr 2004 an die Regierung, Rodríguez Zapatero wurde Ministerpräsident. Seinem Amtsantritt waren mehrere Jahre vehementer Sozialproteste gegen die Politik der PP vorausgegangen. Im Land war eine der größten Bewegungen gegen den Irakkrieg in Europa entstanden. Auf ihrem Höhepunkt lehnten 95 Prozent der Bevölkerung einen Militäreinsatz ab.
Als sie die spanischen Truppen aus dem Irak abzog, erfüllte die Regierung Zapatero also anfangs die Hoffnungen ihrer Wählerinnen und Wähler. Zudem setzte sie verschiedene progressive Reformen um, wie die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Ehen und die finanzielle Unterstützung von Eltern mit Kleinkindern.
Größte Kürzungen der Geschichte
Als dann allerdings im Jahr 2008 die wirtschaftliche Rezession begann, führte Zapatero die bis dahin größten Kürzungen in der Geschichte der spanischen Demokratie durch. Sie führten dazu, dass seine Partei massenhaft an Rückhalt in der Bevölkerung verlor.
Bei den Parlamentswahlen im November vergangenen Jahres stürzte sie von 32,2 auf 19,5 Prozent der Stimmen ab. Von den enttäuschten Wählern wechselte allerdings nicht einmal ein Prozent zur konservativen PP, die die Wahl dennoch für sich entscheiden konnte.
Spanische Skandale
Der neue Ministerpräsident Mariano Rajoy versprach nach seinem Wahlsieg, einen anderen Kurs einzuschlagen. Doch letztendlich setzt er gegenwärtig weitere Kürzungen und Steuererhöhungen durch. Zusätzlich führt das Regierungsprojekt zur Einschränkung der Rechte der autonomen Gemeinden Spaniens zu Spannungen, besonders im Baskenland und in Katalonien.
Hinzu kommt eine Reihe von Skandalen, die verschiedene staatliche Institutionen erschütterte. So hat sich ein Richter des Tribunal Supremo de España (des Obersten Gerichtshofs) mehrere Urlaubsreisen aus Steuergeldern finanziert. Auch König Juan Carlos »gönnte« sich kürzlich auf Kosten des Staats eine Reise zur Elefantenjagd nach Botswana. Sein Schwiegersohn Iñaki Urdangarín ist angeklagt, 2,3 Millionen Euro öffentlicher Gelder veruntreut zu haben.
Wachsender Widerstand
Einer zunehmend verunsicherten politischen Klasse steht ein langsam wachsender Widerstand gegenüber. Im vergangenen Jahr machte die Bewegung des 15. Mai (15-M), die in der deutschen Presse meist als »Indignados« oder »Empörte« bezeichnet wird, weltweit Schlagzeilen. Die Proteste des 15-M wurden unter anderem durch die Revolutionen in Nordafrika inspiriert sowie durch den anhaltenden Widerstand in Griechenland.
Die Bewegung begann in dem Moment, als die sozialdemokratische PSOE ein 15 Milliarden Euro schweres Sparprogramm durchsetze und auch die großen Gewerkschaften CCOO und UGT einknickten. Trotz eines im Herbst 2010 durchgeführten Generalstreiks gegen die Reformen der Regierung akzeptierten sie nun die Heraufsetzung des Renteneintrittsalters und die Kürzung der Renten.
Für echte Demokratie
Die am 15. Mai 2011 in diversen Städten Spaniens stattfindenden Demonstrationen, zu denen die Plattformen »Democracia Real Ya« (»Echte Demokratie jetzt«) und »Juventud sin futuro« (»Jugend ohne Zukunft«) aufgerufen hatten und die in vielen Orten von linken Organisationen unterstützt wurden, setzten ein Zeichen. In Madrid gingen 50.000 und in Barcelona 15.000 Menschen auf die Straße.
Doch erst als wenige Tage vor den am 22. Mai stattfindenden Regional- und Kommunalwahlen mehrere hundert auf dem Madrider Plaza del Sol kampierende Aktivistinnen und Aktivisten gewaltsam von der Polizei geräumt wurden, verwandelte sich 15-M in die bisher größte soziale Bewegung der spanischen Demokratie.
Millionen Aktive
Millionen Menschen wurden aktiv. Es waren vor allem arbeitslose und prekär beschäftigte Jugendliche, aber auch viele Arbeiterinnen und Arbeiter nahmen an den Massenversammlungen und Demonstrationen teil. Die Proteste knüpften in wesentlichen Punkten an der »V de Vivienda«-Bewegung (»W wie Wohnung«) an. Die war in den Jahren 2006 bis 2008 für den Zugang zu Wohnraum (das Recht auf ein Dach über dem Kopf und sozialen Wohnungsbau) und ein Ende der Immobilienspekulation eingetreten.
In Auftreten und Vorgehensweise ähnelten sich die beiden Bewegungen. Folgende vier Charakteristika haben sie gemeinsam: 1. Die Einbindung von vielen vorher nicht politisch aktiven Personen, 2. die Nutzung des Internets zur Verbreitung ihrer Ideen, 3. die Verwendung öffentlicher Plätze als Aktionsfeld und 4. die Ablehnung politischer Parteien und Gewerkschaften.
Massenversammlungen
Zentral für 15-M waren die partizipativen und horizontalen Aktionsformen, wie zum Beispiel Massenversammlungen, bei denen per Handzeichen über vorher in Arbeitsgruppen diskutierte Fragen abgestimmt wurde. Sie beeinflussten auch die wenig später stattfindenden Proteste von Arbeiterinnen und Arbeitern gegen das Kürzungsprogramm der Regierung.
So beschlossen beispielsweise im September und Oktober 2011 die Lehrerinnen und Lehrer der öffentlichen Schulen Madrids bei Massenversammlungen, dass sie mehrtägige Streiks gegen die Milliardenkürzungen im Bildungswesen durchführen wollen. Das setzte die Gewerkschaftsführung so unter Druck, dass sie diesem Wunsch entsprechen musste.
Schülerproteste und Streiks
Obwohl der 15-M nach dem Wahlsieg der Konservativen im November einen großen Teil seiner Dynamik verlor, ist sein Einfluss auf Hunderttausende weiterhin deutlich spürbar. So geht der Widerstand gegen die Kürzungen weiter. Dies zeigen beispielsweise tausende Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern aus Valencia, die im Februar gegen Kürzungen im Bildungsbereich und gegen die massive Polizeigewalt auf die Straße gingen.
Am 29. März fand der zweite Generalstreik binnen zwei Jahren statt, an dem sich laut Gewerkschaften 77 Prozent der arbeitenden Bevölkerung sowie hunderttausende von Arbeitslosen und Studierenden beteiligt haben. Kurz darauf riefen die Mineros, die Bergarbeiter, aus der Region Asturien zu einem unbegrenzten Generalstreik auf, weil ihre Existenz durch den Abbau von 50.000 Arbeitsplätzen in der Kohleförderung bedroht ist.
Robin-Hood-Aktionen
Ihr Protest gipfelte in einen 500 Kilometer langen Protestmarsch in die Hauptstadt Madrid, wo sie am 11. Juli von 25.000 Arbeiterinnen und Arbeitern aus ganz Spanien im Zeichen der Solidarität empfangen wurden. Doch anstatt den Mineros entgegenzukommen, verkündete Ministerpräsident Rajoy ein Kürzungsprogramm, das bis 2013 65 Milliarden Euro einsparen soll. Mit ihm sollen durch die Bankenrettung gerissene Haushaltslöcher wieder gestopft werden.
Diese Ankündigung führte am 19. Juli zu landesweiten Protestdemonstrationen. Sie waren politisch bedeutsam, da sie gemeinsam von den großen Gewerkschaften CCOO und UGT sowie kleinen kämpferischen Basisgewerkschaften und den Aktivistinnen und Aktivisten des 15-M organisiert worden sind. Die Bewegung des 15. Mai überwand damit einen Teil ihrer Ablehnung gegen jegliche politische und gewerkschaftliche Organisationen.
Im traditionell ruhigen August sorgten die Robin-Hood-Aktion der andalusischen Basisgewerkschaft SAT – sie verteilte unbezahlte Lebensmittel aus zwei Supermärkten an Bedürftige – sowie die ebenfalls von ihr organisierten Landarbeitermärsche mit tausenden Teilnehmenden für landesweite Aufmerksamkeit. Auch nach der Sommerpause werden weitere große Aktionen und Streiks stattfinden.
Linke legt zu
Vorerst offen bleibt die Frage, ob die wachsenden Mobilisierungen auch einen Ausdruck auf der politischen Bühne finden werden. Aufgrund des spanischen Wahlsystems, das große Parteien bei der Stimmzählung begünstigt, ist es für kleine Parteien weitaus schwieriger Fuß zu fassen als in Deutschland.
Eine landesweite Alternative links von der PSOE ist die im Jahr 1986 im Rahmen der Massenmobilisierung gegen Spaniens Beitritt zur NATO gegründete Izquierda Unida, die Vereinigte Linke (IU). Nachdem sie nach der Hochphase ihrer Gründungszeit zwischen 2000 und 2008 nur noch mit fünf Abgeordneten im Parlament vertreten war, konnte sie bei der Wahl im vergangenen Jahr wieder zulegen. Nicht zuletzt durch die Stimmen ehemaliger PSOE-Wählerinnen und -Wähler erlangte sie elf Parlamentssitze.
Partei in Bewegung
Obwohl in der IU viele begabte Aktivistinnen und Aktivisten organisiert sind, nutzt die Partei ihr Potenzial bisher nur ansatzweise. Sie konzentriert sich stark auf offizielle politische Institutionen und das Parlament, was durchaus Probleme mit sich bringt. So war sie im April in der Provinz Andalusien bereit, in eine Koalitionsregierung mit der PSOE einzutreten und deren regionales Sparprogramm zu unterstützen – obwohl die Sozialdemokraten gerade erst wegen ihrer Sparpolitik abgewählt worden waren.
Die Kräfte, die innerhalb der IU für eine Bewegungsorientierung kämpfen, sind bislang zu schwach. Doch der Linksruck der spanischen Gesellschaft ist nicht spurlos an der Parteibasis vorübergegangen. Es ist keineswegs unvorstellbar, dass es in den nächsten Jahren zur Formierung einer bewegungsorientierten linken Partei kommt – entweder mit der IU oder links von ihr.
Zur Person:
Rabea Hoffmann hat von 2009 bis 2010 in Sevilla gelebt und studiert jetzt Politikwissenschaften in London.
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