Die politische Krise der EU ist noch lange nicht vorbei – das hat die Europawahl am 25. Mai gezeigt. Eine Analyse von Lucia Schnell und Volkhard Mosler
Die Ergebnisse der Wahlen zum europäischen Parlament drücken aus, wie wenig Menschen Vertrauen in die EU-Institutionen haben. In vielen Ländern errangen rechte und faschistische Parteien mit nationalistischer EU-Kritik und Rassismus Wahlerfolge: in Frankreich mit dem Front National, in England mit UKIP, in Dänemark die dänische Volkspartei, in Österreich die FPÖ, in Deutschland die Alternative für Deutschland (AfD).
Die Wahlen standen in ganz Europa im Zeichen der sogenannten Schuldenkrise und der anhaltenden depressiven Stimmung der europäischen Wirtschaft.
Josef Krämer, Chefökonom der Commerzbank, bringt es auf den Punkt: „Natürlich ist es bedauerlich, dass die Akzeptanz für die europäischen Institutionen gesunken ist.“ Aber es beunruhigt ihn nicht wirklich.
Wahlergebnis beunruhigt „Finanzmärkte“ nicht
Er verweist auf den geringen Einfluss des Parlaments auf viele Entscheidungen der EU. „Viel wichtiger sind er Ministerrat und die Kommission.“ Sie seien vom Wahlausgang „nicht betroffen, weshalb die Finanzmärkte der Wahl auch keine große Aufmerksamkeit schenken.“
Deutlicher kann man es nicht ausdrücken. Die „Finanzmärkte“ – man könnte auch sagen die herrschenden Klassen – sehen im undemokratischen Aufbau der EU eine Sicherheit. In den letzten Jahren haben diese Institutionen die Banken „gerettet“ und den Menschen ein riesiges Verarmungsprogramm aufgezwungen.
Historischer Wahlsieg für Syriza
Aber die soziale Polarisierung und Verarmung hat nicht überall die gleichen Ausmaße und vor allem führt sie nicht automatisch zur Stärkung von rassistischen und faschistischen Parteien.
In den südlichen Ländern mit starken sozialen Bewegungen gegen den Sparkurs der EU haben linke Parteien große Erfolge verbuchen können wie Syriza in Griechenland und die spanische Linke. In Griechenland hat die Linkspartei Syriza einen historischen Wahlsieg errungen und ist mit 26,5 Prozent stärkste Partei vor den Konservativen geworden.
Das ist der Ausdruck der massiven Streiks und Bewegungen der letzten Jahre gegen die Kürzungspolitik der EU und der griechischen Regierungen. Drittstärkste Kraft wurde die offene Nazi-Partei „Goldene Morgenröte“ mit 9,4 Prozent, noch vor der Sozialdemokratischen Partei PASOK, die aufgrund ihrer Kürzungspolitik drei Viertel ihrer Wähler verloren hat und auf 8 Prozent marginalisiert wurde.
Podemos – eine echte Überraschung in Spanien
In Spanien haben die traditionellen Parteien, die Konservativen und Sozialdemokraten, die den Sozialkahlschlags und die Bankenrettung in den letzten Jahren durchgesetzt haben, eine Wahlschlappe bekommen. Die Vereinigte Linke verdreifachte ihr Ergebnis auf 9,9 Prozent.
Die echte Überraschung aber ist das Ergebnis der neuen linken Partei Podemos, die aus der Indignados-Bewegung hervorgegangen ist. Sie erreichte aus dem Stand 7,9 Prozent und fünf Abgeordnete. Die Proteste von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften gegen den Sozialkahlschlag haben das gesellschaftliche Klima nach links verschoben und Teile der Arbeiterbewegung lösen sich von der spanischen Sozialdemokratie.
Deutsche GroKo gewinnt dazu
Deutschland ist zurzeit nicht nur das ökonomisch, sondern auch politisch das „stabilste“ Land Europas. Hintergrund der Wahl ist ein bescheidener und durchaus wackliger wirtschaftlicher Aufschwung und – damit zusammenhängend – die Tatsache, dass drei Viertel der Wähler ihre eigene ökonomische Situation als gut einschätzen (selbst bei den Linke-Wählern sind es 69 Prozent).
Die GroKo hat in Prozenten (+ 3.9 % von 58,7 auf 62,6 %) und aufgrund der gestiegenen Wahlbeteiligung auch in absoluten Stimmen dazu gewonnen, bei einer Umverteilung zugunsten der SPD.
Der SPD ist es gelungen, verlorene Wählerschichten teilweise zurück zu gewinnen, durch die – wenn auch halbherzige – Umsetzung ihrer zentralen Wahlversprechen von der Bundestagswahl (Mindestlohn, Rente 63 bei 45 Beitragsjahren) und sehr wahrscheinlich auch durch Steinmeiers Opposition gegen schärfere Wirtschaftssanktionen gegen Russland.
Deutschland konkurriert den Rest Europas an die Wand
Insgesamt konnte das Regierungslager aus CDU und SPD ihre Position behaupten und ihren Erfolg von den Bundestagswahlen halten. Sprudelnde Steuereinnahmen machen (kleine) Zugeständnisse im Sozialen möglich, Deutschland konkurriert den Rest Europas erfolgreich an die Wand.
Solange es so scheint als sei die Agenda 2010 ein Erfolgsrezept für ganz Europa, wird sich daran auch erst einmal nicht viel ändern.
FDP durch rechtsnationale Partei ersetzt
Trotzdem sind auch in Deutschland viele Menschen beunruhigt (Teile des alten und neuen Mittelstandes, die um ihre Ersparnisse fürchten und große Teile der Unterschichten, die vom Aufschwung nicht profitieren) und haben zu Recht Zukunftsängste.
Das sichtbarste Zeichen ist hier der Niedergang der FDP (von 11 auf 3,4 Prozent) und der Aufstieg der „Professorenpartei“ AFD (7 Prozent).
Die AfD speist sich aus bisherigen Nichtwählern, aus CDU-Wählern, denen Merkel zu soft ist, sowie aus FDP-Flüchtlingen, aber sie ist auch nicht annähernd so stark wie ihr britisches Gegenstück Ukip (28 Prozent) oder die faschistische „Front National“ in Frankreich (24 %) .
Trotzdem muss uns der rasante Aufschwung der AfD (7 %) beunruhigen, die mit einem europakritischen und rassistischen Wahlkampf fast so stark wurde wie die LINKE (7,4 %).
Dass die FDP durch eine rassistische und rechtsnationale Partei wie die AFD quasi ersetzt wurde, ist angesichts der oben beschriebenen wirtschaftlichen Ausnahmesituation Deutschlands innerhalb der EU eine nicht zu unterschätzende Warnung.
Die Wut der vom Aufschwung Abgehängten
Die Existenz einer linken Alternative bindet immer noch einen Teil der Unzufriedenheit der Unterschichten, die AFD hat es aber im Unterschied zur LINKEN dieses mal geschafft, die Wut bei den vom Aufschwung Abgehängten für sich zu nutzen.
Sicher sind manche der mittelständischen FDP-Wählerschichten nicht einfach für die LINKE gewinnbar. Allerdings war ihr Wahlkampf auch wenig geeignet, die Menschen anzusprechen, die über die undemokratische, neoliberale und imperialistische Politik der großen EU-Länder und der EU selbst angekotzt sind und sich von der EU abwenden.
In den Ländern Südeuropas (Griechenland, Spanien, Portugal), wo es einen wachsenden außerparlamentarischen Widerstand gegen die Austeritätspolitik eigener Regierungen in Zusammenarbeit mit der EU gibt, haben linke Parteien diese Unzufriedenheit weitgehend auffangen können, weil sie mit diesen Protesten und Kämpfen verbunden werden.
Rassismus wurde schon vorher geschürt
In Frankreich, Österreich, Dänemark, Belgien, Britannien und in Deutschland haben rechtspopulistische und auch faschistische Parteien einen Aufschwung erlebt.
In allen diesen Ländern haben konservative und sozialdemokratische Regierungsparteien in der Vergangenheit (Deutschland) und in der Gegenwart (Frankreich, Britannien), Verarmungsprogramme durchgesetzt, die die Reichen noch reicher machen und die hinter dem neoliberalen Kurs der EU stehen.
In allen diesen Ländern haben konservative und teilweise auch sozialdemokratische Parteien außerdem den Rassismus erst hoffähig gemacht.
So die CSU in Deutschland (Kampagne gegen Armutsflüchtlinge), die Sozialistische Partei von Präsident Hollande in Frankreich (Massenausweisungen von Roma und Sinti).
Die EU ist nicht irgendwie vom Himmel gefallen
In Britannien ist – was nicht erstaunt – die Konservative Regierungspartei unter Premier Cameron der rassistischen UKIP hinterhergelaufen. Aber auch die Labour-Party hat in ihrem Wahlprogramm „scharfe Maßnahmen in der Einwanderungspolitik“ versprochen und UKIPs Rassismus nicht kritisiert.
Die rassistische und faschistische Rechte ist in drei Ländern (Britannien, Frankreich und Dänemark) zum ersten Mal die stärkste politische Kraft geworden, in Österreich konnte die faschistische FPÖ mit knapp 20 Prozent fast zu „alter“ Stärke (26 Prozent unter Jörg Haider 1999) auflaufen.
Die nationalistische Rechte tut so, als seien die undemokratischen Institutionen der EU irgendwie vom Himmel gefallen und man müsse diese nur Auflösen und zum Nationalstaat zurückkehren und alles werde gut. Dabei ist die EU nur das Instrument der nationalen Eliten.
Die drei Lager der europäischen radikalen Rechten
Die europäische radikale Rechte besteht aus drei Lagern. Das sind einmal die offen als Nazipartei auftretenden Jobbik in Ungarn (14,4 Prozent) und die Partei der Morgenröte in Griechenland, die NPD in Deutschland u. a.
Daneben gibt es eine sich aus taktischen Gründen bürgerlich verkleidende faschistische Rechte (FN, FPÖ, Vlaams-Belang, Lega Nord) und schließlich „rechtspopulistische“ Parteien wie UKIP in Britannien und AFD in Deutschland, die auf Distanz zu den beiden anderen Lagern der äußersten Rechten gehen und im Europaparlament auch keine gemeinsame Fraktion mit diesen eingehen wollen.
Die europäische Linke muss antifaschistische Bewegungen aufbauen
Durch den Wahlsieg der Front National und der FPÖ ist der „verkleidete“ Faschismus gestärkt aus dieser Europawahl hervorgegangen.
Es wird eine wichtige Aufgabe der europäischen Linken sein, gegen alle drei Lager mit unterschiedlichen Mitteln und Taktiken antirassistische und antifaschistische Bewegungen aufzubauen.
Das Beispiel der Wahlniederlage von Geert Wilders mit seiner „Freiheitspartei“ PVV verlor fast 5 Prozent und landete mit 12,2 Prozent „nur“ auf Platz 4. Nach rassistischen Äußerungen von Wilders gegen marokkanische Migranten in Holland war es zu einer großen Welle von Protesten gegen seine antimuslimische Hetze gekommen.
DIE LINKE hat EU-Kritik vernachlässigt
Den linken Parteien mit sozialistischen Anspruch kommt die Aufgabe zu, der Kritik und Wut über die EU Ausdruck zu verleihen, ohne die Verantwortung der nationalen Regierungen und der nationalen herrschenden Klassen für deren Politik zu leugnen.
Das hat der Wahlkampf der LINKEN vernachlässigt. Die LINKE hat sich „Für ein soziales Europa“ ausgesprochen (letztes Großflächenplakat). Insgesamt war es ein „Für“-Wahlkampf, der den Eindruck erweckte, als könne auf der Basis der bestehende EU-Verfassung und ihrer Institutionen ein anderes, sozial gerechteres Europa geschaffen werden.
Klassenkampf statt Nationalismus
So heißt es in der „Wahlstrategie“ der LINKEN: „Europa krankt nicht an zuviel europäischer Politik, sondern im Gegenteil …“ Als wäre die EU an sich ein Fortschritt, als wäre dieses Europa nicht ein Europa der Millionäre.
Statt den Kampf gegen die EU mit dem Klassenkampf von unten zu verbinden (statt mit Nationalismus, wie es die Rechte tut) wird die EU so vor berechtigter Kritik geschützt.
Fehlende Kritik an der NATO
Eine zweite Schwäche, die sich aber aus der gleichen Furcht vor zu einer zu scharfen Kritik der EU speist, war das Ausbleiben einer Kritik der EU-Osterweiterungspläne in der Ukraine und der durch diese wesentlich ausgelöste Konflikt und Bürgerkrieg in der Ukraine.
Ein Großflächenplakat gegen die Nato und die EU-Ostpolitik hat gefehlt. Das Verbot von Rüstungsexporten auf den Plakaten zu fordern war gut, aber nicht ausreichend angesichts der Ankündigung der Bundesregierung von mehr Bundeswehreinsätzen in Afrika und anderswo. Diese Offensive gemeinsam mit dem französischen Imperialismus hätte eine schärfere Antwort verlangt.
DIE LINKE: Passabel aber nicht gut
Und schließlich muss die LINKE in Zukunft mehr über den rassistischen Charakter der AFD aufklären. Ein „Für“-Wahlkampf reicht auch hier nicht aus, die Wählerschaft der LINKEN ist nicht immun gegen rassistische Parolen. Die LINKE muss sich als Teil und Motor einer antirassistischen Bewegung verstehen, die es aufzubauen gilt.
Die Linke hat kein Grund sich zufrieden zurück zu lehnen und aufzuatmen. Das Wahlergebnis ist passabel aber nicht gut. DIE LINKE hat prozentual im Schnitt im Westen außer im Saarland dazugewonnen und im Osten teilweise dramatisch verloren.
Allerdings waren die Voraussetzungen in den Ländern recht unterschiedlich, da in einigen auch Kommunalwahlen stattfanden. In Thüringen und Sachsen-Anhalt konnte DIE LINKE bei den Kommunalwahlen leicht zulegen.
In Brandenburg musste DIE LINKE mit wenigen Ausnahmen herbe Verluste einstecken. Die Regierungsbeteiligung in Brandenburg hat offensichtlich in den Kommunen eher geschadet als geholfen, linke Wähler zu mobilisieren.
Gute Ergebnisse in Hamburg, Hessen und Berlin
Besonders gut waren die Europawahl-Ergebnisse für DIE LINKE in Hamburg, Hessen und Berlin. Der unerwartet große Erfolg der Initiative „100 Prozent Tempelhofer Feld“ mit einer Zustimmung von 64 Prozent beim parallel zur Europawahl abgehaltenem Volksbegehren hat der Linken in ganz Berlin geholfen, ein gutes Stimmergebnis zu erzielen.
Die Partei hat nach langem Zögern gemeinsam mit der Bürgerinitiative eine Front gegen den regierenden Senat unter OB Wowereit (SPD) aufzubauen vermocht.
Eine Alternative zum Rassismus aufbauen
In Hamburg konnte die LINKE ihr antirassistisches Profil durch eine starke Beteiligung in der Solidaritätsbewegung gegen Abschiebung von Flüchtlingen schärfen.
Die wichtigste Lehre für DIE LINKE aus der Europawahl ist, dass überall dort, wo linke Parteien aktiver und aktivierender Teil des Aufbaus von Widerstand gegen die Politik der Herrschenden war, gegen ihre Sparpolitik, gegen ihre Privatisierungen, ihre Kriege, kommt Hoffnung in eine bessere Welt auf und es entsteht eine Alternative zur Stimmung der Verzweiflung, die den Nährboden für Rassismus und Faschismus bildet.
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Foto: blu-news.org