Scharfer Kontrast zum letzten Freitag: Statt einer großen Party findet auf dem Tahrir-Platz wieder eine politische Demonstration statt. Im vorletzten Teil seines Internettagesbuchs berichtet Philip Bethge von wachsender Kritik an der ägyptischen Führung
Fr, 25.02.11: Als ich um 8.30 Uhr aufwache, sind schon einige Menschen auf dem Tahrir-Platz zu sehen. Darunter Fahnenverkäufer, aber auch viele Leute, die offenbar nie zu früh demonstrieren können. Ich stehe langsam auf, dusche, frühstücke, und als ich um 10.00 Uhr auf dem Platz ankomme, sind schon Zehntausende dort.
Im Laufe des Tages kommen immer mehr Menschen, aber wir schaffen es nicht, die vier Millionen von letzter Woche zu erreichen. Trotzdem sind 750.000 nicht schlecht, und die Versammlung heute hat viel mehr Demonstrationscharakter als das Fest vom letzten Freitag. Diesmal werden auch Flyer von verschiedenen Organisationen verteilt und linke Zeitungen verkauft – angeblich mit großem Erfolg. Ich kaufe zehn für arabische Genossen in Deutschland und die Verkäuferin fordert mit Recht den Solipreis. Die ägyptischen Aktivistinnen und Aktivisten brauchen jeden Cent.
Weg mit Gaddafi
Nicht nur die Organisationen intervenieren politisch. Die Demonstranten sind auch selbst zu der Überzeugung gekommen, dass sie nicht nur jubeln, sondern auch weiter kämpfen müssen. Überall sind libysche Fahnen – zusammen mit selbst gemachten Schildern gegen Gaddafi. Während letzten Freitag Abend nur gefeiert wurde, bleiben diesmal die Parolen und Fahnen bis spät in der Nacht sichtbar. Feiern können wir, nachdem unsere Forderungen erfüllt sind.
Überall kleben selbst gemachte Aufkleber auf Englisch und Arabisch: »Shafik = alte Regime«. Das ist eine interessante und wünschenswerte Entwicklung. Die Mehrheit der Leute, mit denen wir bis jetzt gesprochen hatten, waren eher der Meinung, dass der Militärrat Vertrauen verdient hat und dass man die kommenden Wahlen in sechs Monaten abwarten sollte. Jetzt wird deutlich gesagt, dass Premierminister Shafik auch ein Mubarak-Mann ist, und dass alle alten kompromittierten Politiker wegmüssen, und zwar sofort.
Die Welt soll alles sehen
Relativ früh am Tag werde ich wieder herzlich von Mona begrüßt. Sie sitzt in einer Gruppe von meist jüngeren Aktivistinnen und Aktivisten und hat ihre Stimme so gut wie verloren – offensichtlich hat sie viel schreien müssen, seit wir uns zum letzten Mal getroffen haben. Die Unterhaltung ist deswegen schwierig, aber wir wünschen einander alles Gute, und sie bittet mich noch einmal, ihr alle Fotos und Berichte zu schicken.
In den kommenden Stunden verbringe ich meiste Zeit mit Fotografieren. Es ist wieder beachtlich wie divers die Anwesenden sind. Alle möglichen Altersgruppen, viele Familien, Frauen mit und ohne Kopftuch. Es gibt eine Gruppe von jungen Männern, die mit Nachdruck versuchen zu verhindern, dass ich junge Frauen fotografiere, auch wenn die Frauen selbst das bewilligt haben. Es gibt aber noch mehr Leute, die mit den Machojungs streiten und sagen, dass die Welt alles sehen soll.
Militärputsch statt Revolution?
Mehrere Male bin ich von der einen oder anderen Gruppe von jungen Leuten angehalten worden um sie zu fotografieren. Als ich mit so einer Gruppe schwatze, höre ich meinen Namen im Hintergrund. Das kann doch nicht sein. In Kairo? Dann noch einmal. Ich drehe mich um und vor mir steht Suzanne, die ich zum ersten und bis dahin letzten Mal vor etwa sechs Jahren bei der Kairo-Konferenz getroffen habe.
Suzanne arbeitet als Reiseführerin und das erste Mal, als ich gesehen habe, hat sie mehr nach Model ausgesehen als nach Aktivistin. Heute trägt sie eine Armeeuniform mit Buttons aus verschiedenen Ländern – gegen Krieg, für Palästina, für die Sperrung des deutschen Luftraums für die US-Luftwaffe. Ich glaube, den letzten habe ich ihr verkauft. Im Gegensatz zu den Liberalen, die wir im Laufe der Woche getroffen haben, hat sie gar kein Vertrauen in die Armee, die, wie sie behauptet, einen Militärputsch gemacht hat. Sie hat gegen Mubarak gekämpft und wird nun weiter gegen das Militär kämpfen.
Gerüchte von Folter
Wie Mona und Omnia und Millionen andere hat Suzanne auch auf dem Tahrir-Platz gelebt und gekämpft, bis Mubarak weg war. Im Gegensatz zu vielen anderen ist sie danach geblieben. Am Abend des 11. Februar, nachdem Mubarak sich verabschiedet hatte, sind Suzanne und ein paar tausend andere dort geblieben, um zu protestieren, bis alle Forderungen erfüllt sind.
Ihnen fehlte die kritische Masse. Ein paar Tausend konnte das Militär leicht räumen. Da die Mehrheit der Bewegung immer noch Hoffnung in den Militärrat hatte, wurden die Besetzer des Tahrir-Platzes von den Massen isoliert. Suzanne und mindestens 21 andere sind im angrenzenden ägyptischen Museum verhaftet worden. Sie hat Geschichten über Folter gehört, unter anderen über einen ausländischen Journalisten. Sie weiß immer noch nicht, was den anderen tatsächlich passiert ist.
Auslandsvermögen einfrieren
Trotz ihrer schrecklichen Erfahrung bleibt Suzanne ungebrochen. Ihr ist es klarer denn je, dass dem Staat auf keiner Ebene zu vertrauen ist und dass Ägypten einen totalen Regierungswechsel braucht. Sie befürchtet, dass die versprochenen Wahlen gar nicht stattfinden werden. Wenn doch, müsse der Kampf trotzdem weiter gehen. Heute Abend bleiben sie und andere auf dem Tahrir-Platz, um zu versuchen, die Interimsregierung weiter unter Druck zu setzen. Alle Mubarak-Anhänger sollen weg, die politischen Gefangenen sollen alle befreit werden und Mubaraks Auslandsvermögen sollen eingefroren werden. Hier gibt es auch eine Aufgabe für deutsche Unterstützer der ägyptischen Revolution.
Ich bleibe und fotografiere bis 23.30 Uhr, begleitet von einer Gruppe von Jugendlichen, die mir zeigen, was ich alles fotografieren soll. Dann kommen die Machojungs zurück, die wieder Anstoß an meinen Fotos von Frauen nehmen. Ich folge widerwillig dem Rat, ins Hotel zu gehen und die Demonstration aus der Ferne von meinem Balkon aus zu verfolgen. Die Parolen sind bis spät in der Nacht zu hören und ich schlafe langsam ein mit der Revolution im Kopf.
Gestern habe ich noch befürchtet, dass die Bewegung in Ägypten stagniert oder zurückgedrängt wird, aber jetzt bin ich überzeugt, dass noch längst nicht alles vorbei ist.
Zur Person:
Philip Bethge wird ab dem 27. Februar wieder in Deutschland sein und steht für Berichte und Veranstaltungen zur Verfügung. Wer ihn auch einladen möchte, kann per E-Mail an redaktion@marx21.de mit ihm in Kontakt treten
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