Alex Callinicos beschäftigt sich mit dem tunesischen Aufstand und seinem Potenzial, sich in einen Angriff auf den Kapitalismus insgesamt zu entwickeln
Die tunesische Revolution hat den bisherigen Alltag in der arabischen Welt höchst dramatisch durchbrochen. Trotz großer Ungleichheit, der verhassten Vorherrschaft des US-Imperialismus und gelegentlicher Mordanschläge leidet die Region unter einer erstaunlichen politischen Stagnation.
Die beiden wichtigsten arabischen Staaten werden von Männern um die achtzig regiert. König Abdullah von Saudi-Arabien ist einer der älteren Söhne des Gründers der Monarchie, Ibn Saud. Hosni Mubarak feiert sein dreißigstes Jahr als Präsident von Ägypten und hat seinen Sohn Gamal bereits als Nachfolger auserkoren.
»Die arabische Straße«
»Die arabische Straße« wird in vielen politischen Diskussionen über den Nahen und Mittleren Osten beschworen, aber meistens herrschte dort wegen schwerer Unterdrückung politische Stille. Jetzt hat sich in Tunesien »die Straße« entschlossen zu Wort gemeldet.
Der Sturz des Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali folgte einem klassischen revolutionären Muster. Sein tief korruptes Regime regierte mittels einer Mischung aus Kooptation und Furcht. Das Land ist Opfer der Weltwirtschaftskrise, die die Exportmärkte schrumpfen ließ und die Lebensmittelpreise in die Höhe trieb.
Die Weltbank pries Tunesien für seinen »bemerkenswerten Fortschritt mit ausgeglichenem Wachstum, Armutsbekämpfung und guten Sozialindikatoren«, aber die offizielle Arbeitslosenquote blieb seit einem Jahrzehnt auf 14 Prozent stehen. Die Jugendarbeitslosigkeit wird noch viel höher geschätzt, etwa 40 Prozent in der gesamten Region, was in Tunesien ein potenziell explosives Thema ist, wo 42 Prozent der Bevölkerung jünger als 25 Jahre ist.
Ein kleiner Vorfall
Was hat die ökonomischen Probleme in eine politische Krise verwandelt? Wie so häufig ein kleiner Vorfall – der Selbstmord eines arbeitslosen Hochschulabgängers, Muhammad Bouazizi, der so gegen die Beschlagnahme seines Gemüsestands protestierte. Das wirtschaftliche Elend verband sich mit der Wut über die Brutalität und Korruption des Regimes. Die Proteste weiteten sich aus.
Das Regime reagiert zunächst mit Unterdrückung. Als das nicht half, versuchte die Regierung es mit Zugeständnissen. Als das auch keine Wirkung zeitigte, versprach Ben Ali, im Jahr 2014 abzutreten. Einen Tag später dankte er ab und flüchtete aus dem Land.
Die Revolte von unten spaltete das Regime. Ein Wendepunkt war erreicht, als der tunesische Gewerkschaftsdachverband UGTT, der bis dahin Teil des herrschenden Apparats war, wegbrach, sich den Demonstrationen anschloss, das Innenministerium blockierte und einen Generalstreik ausrief.
Machtstruktur retten
Um die bestehende Machtstruktur zu retten, musste Ben Ali geopfert werden. Der Armeechef weigerte sich, den Befehl, auf Demonstranten zu schießen, zu befolgen. Gerüchten nach war er nicht bereit, seine Entlassung hinzunehmen und zwang stattdessen Ben Ali aus dem Amt.
Jetzt hat sich der Schwerpunkt des Kampfes auf die Frage verschoben, ob diese Struktur überleben wird. Auch das folgt einem klassischen Muster. Die Proteste gehen weiter, aber jetzt fordern die Menschen, dass alle Minister aus Ben Alis RCD-Partei aus der neuen »Einheitsregierung« unter Mohamed Ghannouchi entfernt werden.
Wieder einmal übernahm die UGTT die Führung und rief zu Protesten und einem weiteren Generalstreik. Laut New York Times »ist jetzt die Gewerkschaft die größte institutionelle Kraft, die weiterhin auf eine Aufhebung der Übergangsregierung drängt. Die kleinen, anerkannten Oppositionsparteien sind in dem Kabinett vertreten, und die verbotene islamistische Bewegung hier beginnt gerade erst, sich zu sammeln.«
Neoliberales Aushängeschild
Worin liegt die Bedeutung der tunesischen Revolution? Eins ist sicher: Sie ist keine der prowestlichen »Farben«-Revolutionen, wie sie von den US-Neokonservativen in Georgien oder der Ukraine gefördert wurden. Ben Alis Regime war ein neoliberales Aushängeschild.
Auf Facebook-Seiten sind Statements gesammelt, in denen sich Männer wie der französische Präsident Nicolas Sarkozy, der ehemaligen Verteidigungsminister der USA, Donald Rumsfeld, und der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-Moon, voll des Lobes für Ben Ali zeigen.
Von Algerien bis Jemen
Studenten im Jemen demonstrierten vergangene Woche gegen Präsident Ali Abdullah Saleh, einen Verbündeten der USA, und riefen: »O Ali, folge deinem Freund Ben Ali!« Larbi Sadiki von der Universität Exeter schreibt: »Westliche Sicherheitsexperten sollten sich vielleicht ‚Das Kapital‘ kaufen und sich mit Karl Marx zusammentun, damit sie Durchblick kriegen. Von Tunesien und Algerien im Maghreb bis nach Jordanien und Ägypten im arabischen Osten besteht der wahre Terror, der am Selbstwertgefühl nagt, die Gemeinschaft schädigt und am Erwachsenwerden hindert – bis hin zur Heirat – darin, sozioökonomisch an den Rand gedrängt zu werden.«
Was in Tunesien auf der Tagesordnung steht, ist eine politische Revolution. Die Demonstranten, die immer noch in Massen auf die Straße gehen, wollen einen Regimewechsel, nicht nur die Entfernung Ben Alis aus dem Amt, sondern die Beseitigung des politischen Regimes, dem er vorstand.
Politische Revolution
Politische Revolutionen hat es im modernen Kapitalismus schon oft gegeben, von Frankreich im Jahr 1830 und 1848 bis zu den Revolutionen von 1989, die die stalinistischen Regime in Osteuropa stürzten. Sie lassen das Wirtschafts- und Gesellschaftssystem intakt, also das, was Marx die Produktionsweise nannte. Sie repräsentieren eine politische Reorganisation des bestehenden Systems, aber keine soziale Revolution.
Der britische Marxist Chris Harman beschrieb die Revolutionen von 1989 als einen »Schritt zur Seite«, von einer Kapitalismusform zur anderen. Aber wird den tunesischen Massen die Veränderung des politischen Regimes reichen?
Tunesien ist ein kleines Land mit einer Bevölkerung von etwa 10,5 Millionen Menschen. Aber es ist stark verstädtert, der Großteil der Arbeitskräfte ist in der Industrie und im Dienstleistungssektor beschäftigt.
Wirtschaftliches Elend ungelöst
Materielle Probleme, die durch die Weltwirtschaftskrise noch verschärft wurden, haben die Revolution ebenfalls angeheizt. Eine neue Regierung und eine demokratische Verfassung werden sie nicht lösen. Ökonomie und Politik sind in Tunesien wie mit einer Nabelschnur verbunden.
Nach der russischen Revolution von 1905 wies Leo Trotzki darauf hin, wie der politische Aufstand gegen Zar Nikolaus II. in ökonomische Kämpfe gegen die Bosse »hinüberwachsen« konnte. Das hing damit zusammen, dass die Industriearbeiterklasse an der Spitze der Bewegung zur Demokratisierung Russlands stand.
Demokratisch-politische Forderungen verschmolzen mit den wirtschaftlichen Kämpfen gegen das Kapital und drängten so in Richtung sozialistische Revolution. Trotzki nannte diese Dynamik »permanente Revolution«. Sie fand ihren Höhepunkt in Russland im Oktober 1917, als die Sowjets, die Räte der Arbeiter und Soldatendelegierten, die Macht eroberten.
Permanente Revolution
Es ist noch zu früh, um zu sagen, ob es in Tunesien zu solch einem Prozess der permanenten Revolution kommt. Die Tatsache, dass die UGTT eine so wichtige Rolle spielt, ist dabei von großer Bedeutung.
Natürlich streben Gewerkschaftsführer, die mit Ben Ali zusammengearbeitet haben, keine Revolution an. Aber indem sie Druck aufbauen für eine echte Säuberung des alten Regimes, können sie Kräfte von unten entfesseln, die sie nicht mehr kontrollieren können.
Als Ben Alis bewaffnete Anhänger Chaos zu säen versuchten, organisierten sich die Menschen in ihren Stadtvierteln, um sich zu verteidigen. Der Versuch, den Staat zu säubern, kann selbst in eine revolutionäre Richtung drängen.
Widersprüche im Staatsapparat
Der größte revolutionäre Aufstand in Westeuropa in den vergangenen 50 Jahren begann im April 1974 in Portugal, als ein linker Flügel der Armee putschte. Eins der ersten Ziele der befreiten Massen war die PIDE, die verhasste Geheimpolizei des alten Regimes. Arbeiter nutzten die neu gewonnenen Rechte, um in den Streik zu treten, und Soldaten schlossen sich ihnen auf der Straße an.
In Tunesien stand die Polizei an vorderster Front, um die Revolte zu zerschlagen, während die Armee sich fernhielt. Vergangenen Samstag jedoch legten 2.000 Polizisten ebenso wie Feuerwehrleute und Mitglieder der Nationalgarde rote Armbinden an und beteiligten sich an den Protesten. »Sie sagen, sie wollen jetzt auf der Seite des Volks stehen, sie wollen Teil der Revolution sein«, berichtete al-Dschasira aus Tunis.
Je größer die Spaltungen im Unterdrückungsapparat des Staats sind, desto größer werden die Aussichten auf eine echte revolutionäre Transformation. Ob es dazu kommt, hängt aber auch davon ab, ob eine politische Massenorganisation mit dem notwendigen Verständnis der Lage entsteht. Es ist unmöglich für Außenstehende zu sagen, wie wahrscheinlich das ist.
Linke Traditionen
Westliche Kommentatoren machen sich vor allem Sorgen, ob die islamistische Partei die Initiative ergreift. Dazu muss es nicht kommen. Tunesien hat säkulare linke Traditionen, die die Jahrzehnte der Diktatur anscheinend überlebt haben.
Die Wahrheit ist, dass ein revolutionärer Prozess in Tunesien begonnen hat. Seine Bedeutung für die Menschen in Tunesien, für andere arabische Länder und für die Welt wird sich im Kampf zeigen.
Zum Text:
Der Artikel ist zuerst erscheinen in der britischen Zeitung »Socialist Worker«. Übersetzung: Rosemarie Nünning.
Mehr auf marx21.de:
- Sonderseite: Revolte in Nordafrika