Theater in einem vom Krieg zerrütteten Land? Das hat wenig mit klassischer Entwicklungshilfe zu tun. Ein mutiger Erfahrungsbericht zeigt, wie Kulturprojekte zur Emanzipation und Versöhnung beitragen können. Von Barbara Fuchs
Im Jahr 2007 ging der Theatermacher Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn nach Afghanistan, um am Aufbau zivilgesellschaftlicher Strukturen mitzuarbeiten. Angesichts des Ausmaßes an Zerstörungen befielen ihn Zweifel, ob die Aufgabe zu bewältigen sei. Noch vor seiner Ankunft hatte er sich geschworen, sofort umzukehren, wenn seine Arbeit als kulturell unangebracht abgelehnt werden würde.
Hjalmar Joffre-Eichhorn ist geblieben und hat sich der Herausforderung gestellt. Dabei ging es ihm niemals darum, westliche Werte zu vermitteln. Sein Ansatz ist ein anderer. Er hat die von dem brasilianischen Regisseur Augusto Boal entwickelte Methodik »Theater der Unterdrückten« (TdU), die auf politische Befreiung der Schwachen und Unterdrückten zielt, in Afghanistan weitergeführt. Er begegnete den im Alltag gedemütigten Menschen mit Behutsamkeit und Respekt auf Augenhöhe.
Lehrer und Lernender
So erreichte er Nähe, Offenheit und die Bereitschaft, sich auf künstlerische Arbeit einzulassen. Er war Lehrender und Lernender zugleich. Die tatsächliche Lebensrealität, geprägt von Krieg, struktureller Gewalt und Mangel, bildete die Folie für die künstlerische Arbeit. Nach vier Jahren Pionierarbeit mit dem TdU in Afghanistan zog Joffre-Eichhorn Bilanz. Sein Bericht und seine Reflexionen sind differenziert und von emotionaler Offenheit.
Überaus anschaulich beschreibt Joffre-Eichhorn das TdU als partizipative, an Emanzipation orientierte Theaterarbeit und stellt die verschiedenen Techniken vor, wie das nonverbale Statuentheater, das Forum-Theater und das Playback-Theater, bei denen Handlungsalternativen jeweils mit dem Publikum gemeinsam erarbeitet werden. Er lässt uns teilhaben an Workshops und Projekten mit verschiedenen sozialen Gruppen – mit trauernden Witwen, mit jungen Frauen, mit Folteropfern, mit Kindern, mit Jugendlichen verfeindeter Volksgruppen, mit Taubstummen oder mit Drogenabhängigen.
Afghanische Normen respektiert
Theater braucht wache Sinne und die Ausdrucksfähigkeit des Körpers. Wie ging Joffre-Eichhorn damit um, wo doch die Burka den weiblichen Körper verhüllt, Krieg und Not sich in die Körper eingeschrieben haben? Er hat die afghanischen Normen und Wertvorstellungen respektiert. So schuf er »safe spaces« – geschützte Räume, in denen sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer geborgen fühlten. Dann waren sie bereit, Gefühle zu zeigen und entwickelten Fantasie. Auch um heikle Themen wie häusliche Gewalt wurde kein Bogen gemacht. Oft wurde geweint. Und es wurde gelacht. Die Burka flog dann schnell in die Ecke, es wurde getanzt und gesprungen.
Eine besonders intensive Arbeitsphase begann in der Zusammenarbeit mit Opferverbänden. Dabei ging es um Vergangenheitsaufarbeitung, politische Folter und Traumata. Eine nicht ungefährliche Arbeit, sitzen die Warlords – dank Hamid Karzais Amnestiegesetz – doch heute als Wölfe im Schafspelz im Parlament.
Doppelmoral der Entwicklungsarbeit
Joffre-Eichhorn gibt auch Einblick in die Arbeit von Hilfsorganisationen und die mitunter fragwürdige Verwendung der Gelder. Er übt zornig Kritik, wo er Irrwege und Doppelmoral in der internationalen Entwicklungsarbeit ausmacht, zum Beispiel bei neokolonialistisch anmutenden Attitüden oder einseitiger Orientierung an der korrupten Elite des Landes.
Das Buch eröffnet eine andere Sicht auf Afghanistan. Es vermittelt lebhaft mit vielen Beispielen die Erfahrung, wie unterdrückte Menschen durch Theaterspiel Freiraum gewinnen, ihre Wahrnehmungen verändern, selbstbewusst werden und Motivation zum politischen Handeln finden. Eine andere, eine solidarische Welt scheint möglich.
Über das Buch:
Hjalmar Jorge Joffre-Eichhorn:
Tears into Energy. Das Theater der Unterdrückten in Afghanistan
ibidem-Verlag, Stuttgart 2011
226 Seiten, 19,90 Euro
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