FDP und AfD sind draußen, DIE LINKE drittstärkste Fraktion im neuen Parlament: Gute Ausgangsbedingungen, nun in die Offensive zu kommen. Doch dafür bedarf es eines neuen Politikverständnisses. Zehn Thesen des marx21-Netzwerks für die Zeit nach der Bundestagswahl.
1. Angela Merkel hat die Wahl deutlich gewonnen. Ihre Stärke basiert einerseits auf der ökonomischen Sondersituation in Deutschland, andererseits auf der politischen und ideologischen Schwäche von SPD und Grünen.
Angela Merkels Wahlkampflinie war eindeutig: Unter meiner Führung ist Deutschland besser als andere Länder durch die Krise gekommen. Diese Botschaft hat gewirkt, denn offensichtlich steht die deutsche Wirtschaft besser da als die Krisenökonomien von Spanien und Griechenland. Das Bruttoinlandsprodukt legte im zweiten Quartal des Jahres um 0,7 Prozent zu – das ist zwar im Vergleich zu den Nachkriegsboomraten sehr wenig, im europäischen Kontext macht es Deutschland aber zu einer der Ausnahmen. Noch entscheidender ist die Entwicklung der Arbeitslosigkeit – während in Spanien und Griechenland mehr als die Hälfte der Jugendlichen und ein Viertel der gesamten Erwerbsfähigen ohne Beschäftigung sind, lag die Arbeitslosenquote in Deutschland im August bei lediglich 6,8 Prozent. Wir wissen, dass diese Statistik schöngerechnet ist. Dennoch tragen solche Zahlen zu dem Gefühl bei, mit einem »blauen Auge« durch die Krise gekommen zu sein.
Immer wieder hat DIE LINKE auf die Folgen von Merkels Krisenpolitik hingewiesen: Schwerste Rezessionen mit folgender Verelendung in Südeuropa und ein gespaltener Arbeitsmarkt hierzulande. Zwar haben in Deutschland viele Menschen Arbeit, trotzdem können etliche davon nicht leben. Unter Merkel hat sich der ohnehin schon sehr große Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet, weshalb inzwischen Millionen Menschen von Dumpinglöhnen und prekären Beschäftigungsverhältnissen betroffen sind. Gleichzeitig sind die Lebenshaltungskosten und Mietkosten massiv gestiegen.
Mit ihren Warnungen stand DIE LINKE jedoch ziemlich alleine da: In allen relevanten Parlamentsabstimmungen zur Eurokrise haben SPD und Grüne die Bundesregierung unterstützt. Gleichzeitig hat es Merkel geschafft, insbesondere bei den Gewerkschaften in der exportorientierten Industrie Unterstützer für ihre Politik zu gewinnen. Auch in der Außen- und Kriegspolitik war DIE LINKE die einzige Partei, die dem Kurs der Kanzlerin etwas entgegensetzte. Kein Wunder, dass Merkel bei so viel Unterstützung als alternativlos dastand und wiedergewählt wurde.
2. Die politische Basis von Merkel ist schwächer als es auf den ersten Blick erscheint.
Die Bundeskanzlerin mag bei den Wahlen triumphieren – doch so stabil, wie es erscheint, ist die Situation in Deutschland nicht. Das politische System befindet sich aufgrund eines massiven Vertrauensverlustes stark im Fluss. CDU und SPD, die großen Stützen der westdeutschen Nachkriegsordnung, haben seit 1990 Hunderttausende von Mitgliedern verloren. In den letzten fünf Jahren haben gleich drei Parteien einen kometenhaften Aufstieg (und einen ebenso heftigen Abstieg) hingelegt: DIE LINKE nach ihrer Gründung, Die Grünen nach der Atomkatastrophe von Fukushima und die Piraten nach ihrem Wahlerfolg in Berlin. Der Überraschungserfolg der rechtspopulistischen Anti-Euro-Partei Alternative für Deutschland (AfD) weist in dieselbe Richtung.
Ähnliches gilt für das wirtschaftliche System: Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem Jahr 2012 sagen 48 Prozent der Deutschen, der Kapitalismus sei nicht mehr zeitgemäß. Die meisten Menschen verbinden mit dem System Ausbeutung, Gier und Zukunftsangst, und nicht Freiheit und Innovation, wie es seine Befürworter gerne hätten. Zwar ist die Ablehnung der bestehenden Ordnung bei weitem nicht mehr so stark wie im Massenarbeitslosigkeitsjahr 2005, aber immer noch substanziell. Außerdem ist unklar, ob die wirtschaftliche Sondersituation Deutschlands bestehen bleibt. Eine neuerliche Vertiefung der Krise ist nicht auszuschließen.
3. Der LINKEN ist nach einer existenzbedrohenden Parteikrise ein kleines Comeback gelungen.
Dass viele Mitglieder der LINKEN trotz der Verluste über das Wahlergebnis von 8,6 Prozent jubelten, hatte einen Grund: Die Partei befand sich in den letzten Jahren in einer tiefen Krise, in der es zeitweise so aussah, als würde sie unter die Fünfprozenthürde rutschen. Das Ergebnis stellt also ein kleines Comeback dar.
Der Wahlausgang ist ein Erfolg der Gesamtpartei. Im Westen erreichte sie 5,3 Prozent. Das spricht gegen die vielfach in den Medien angebotene Deutung, DIE LINKE sei eine Ostpartei mit einem irrelevanten linksradikalen Westflügel.
Geholfen hat sicherlich die Entscheidung der SPD, Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten aufzustellen. Als Vertreter der Agenda 2010 konnte er zu keinem Zeitpunkt den eher linken Wahlkampf seiner Partei glaubwürdig repräsentieren. Konsequenterweise erzielte die SPD das zweitschlechteste Ergebnis seit dem Zweiten Weltkrieg – und das, obwohl sie in der Opposition war. Noch steht nicht fest, ob es eine Große Koalition geben wird. Dies wäre sicher eine günstige Konstellation. Denn als Regierungspartei hätte die SPD weniger Möglichkeiten, verbal nach links zu rücken und so gegenüber der LINKEN Boden gut zu machen.
Es besteht also die Chance, DIE LINKE nach schwierigen Jahren wieder auf den Erfolgspfad zu führen. Dazu bedarf es aber eines kritischen Blicks auf ihre Ausrichtung und Praxis. Die Partei ist infolge eines organisatorischen Bruchs mit der Sozialdemokratie entstanden. Doch dieser Bruch ist politisch nur zum Teil vollzogen worden. Viele Elemente des sozialdemokratischen Politikverständnisses finden sich auch in der LINKEN, beispielsweise die starke Orientierung auf das Parlament. So ist in unserer Partei die Vorstellung weit verbreitet, gesellschaftliche Kräfteverhältnisse könnten durch die Arbeit im Bundestag und in den Landtagen verändert werden – auch als Teil einer Regierung. Hinzu kommt eine starke Fixierung auf das Programm, also die Hoffnung, mit den richtigen antikapitalistischen Slogans, Analysen und Programmen den gesellschaftlichen Diskurs nach links verschieben zu können. Und letztendlich lebt auch die alte sozialdemokratische Trennung von Politik und Ökonomie in der LINKEN fort. Nur eine Minderheit in der Partei hat das Selbstverständnis, in Arbeitskämpfe mit dem Anspruch einzugreifen, darin die politische Führung zu übernehmen, und wenn nötig auch einen kritischen Standpunkt zur Gewerkschaftsführung einzunehmen.
Mit diesem Politikverständnis muss DIE LINKE brechen, um wieder in die Offensive zu kommen. Einige sehr gute Ergebnisse im Wahlkampf geben Hinweise darauf, wie ein solcher Bruch aussehen könnte.
4. Genau hinschauen lohnt sich: In einzelnen Orten hat DIE LINKE durch eine lokal verankerte Kampagnenpolitik sehr gute Ergebnisse erzielt. Diese Erfahrungen sollten verallgemeinert werden.
In einigen Wahlkreisen erzielte DIE LINKE Ergebnisse, die deutlich über dem Schnitt lagen. Im Westberliner Bezirk Neukölln kam sie beispielsweise auf 14,3 Prozent. Hier ist zudem der Kreisverband seit Jahresbeginn von 285 auf 335 Mitglieder angewachsen. Möglich war das durch eine konsequente Kampagnenpolitik in den vergangenen Jahren. DIE LINKE hat sich an der Bewegung gegen Mietwucher und Verdrängung beteiligt. Sie solidarisierte sich mit der migrantischen Bevölkerung des Bezirks, als diese unter Beschuss durch den berüchtigten SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky geriet. Auch beim Konflikt im Einzelhandel und beim Kampf gegen die Bebauung des Tempelhofer Feldes war die Partei dabei. Nicht nur DIE LINKE in Neukölln, sondern der gesamte Berliner Landesverband hat aus dem desaströsen Niedergang infolge der Regierungsbeteiligung die richtigen Schlussfolgerungen gezogen und auf die Kampagnen der Bürgerinitiativen gesetzt. So entstehen lokal verankerte Parteistrukturen, die in der Zeit zwischen den Wahlen aktiv sind und dann bei Wahlen auch entsprechende Ergebnisse erzielen.
Gute Ergebnisse gab es auch in Hamburg, zum Beispiel im Bezirk Mitte mit 12,0 Prozent. Die Hansestadt war in den vergangenen Jahren ein Zentrum der »Recht auf Stadt«-Bewegung und Schauplatz der erfolgreichen Kampagne für die Rekommunalisierung der Energienetze. DIE LINKE beteiligte sich aktiv in diesen Bewegungen, die Bürgerschaftsfraktion hat sie vom Parlament aus unterstützt.
Auch für den Wiedereinzug der Partei in den hessischen Landtag spielte ihre Beteiligung an sozialen Bewegungen eine wichtige Rolle. In den letzten Monaten und insbesondere nach dem schlechten Abschneiden der LINKEN bei der bayerischen Landtagswahl hätte kaum jemand darauf gesetzt, dass die Genossinnen und Genossen in Hessen die Fünfprozenthürde überspringen würden – vor allem weil dort, angesichts einer zutiefst reaktionären CDU und anders als im Bund, viele auf eine rot-grüne Regierung hofften. Doch DIE LINKE ist wieder im Landtag vertreten, weil sie deutlich gemacht hat, dass sie eine eigenständige Rolle spielt: als Teil der Bewegung gegen den Flughafenausbau, an der Seite der Amazon-Beschäftigten und der Burger-King-Betriebsräte und als Aktivposten bei den Blockupy-Protesten. Mit einer solchen Ausrichtung ist der (Wieder-)Einzug auch in andere westdeutsche Landesparlamente möglich.
5. Der Aufstieg der AfD sollte der LINKEN eine Warnung sein: Sie darf die Kritik an Merkels Krisenregime in Europa nicht den Rechten überlassen.
Die AfD ist zwar an der 5-Prozent-Hürde gescheitert, hat aber dennoch überraschend stark abgeschnitten. 360.000 der AfD-Wähler haben bei der letzten Bundestagswahl noch DIE LINKE gewählt. Vor allem um diese Menschen müssen wir kämpfen.
Mit dem Slogan »Griechen verzweifeln. Deutsche zahlen. Banken kassieren« hat die AfD eine in der Bevölkerung vorhandene Stimmung getroffen und sie nationalistisch gewendet. DIE LINKE hätte klarstellen können, dass es nicht um »die Deutschen« und »die Griechen« geht, sondern um Klassenpolitik: Die deutsche herrschende Klasse wälzt im Verbund mit der griechischen Oberschicht die Krise auf die Beschäftigten, Jugendlichen und Rentner beider Länder ab. Obwohl DIE LINKE als einzige Partei im Bundestag gegen alle Bankenrettungspakete stimmte, hat sie es versäumt, eine linke Antwort auf die Eurokrise ins Zentrum des Wahlkampfes zu stellen. Dadurch überließ sie die scharfe Kritik an Merkels Eurokurs den Rechtspopulisten.
Die politische Debatte im Vorfeld der Europawahl am 25. Mai 2014 bietet eine gute Gelegenheit, die inhaltliche Differenz zwischen der LINKEN und den anderen Parteien deutlich zu machen und zugleich der AfD das Wasser abzugraben. Dazu müssen wir aber auch aussprechen, was ist: Die EU dient nicht den Menschen, vielmehr ist sie seit ihrer Gründung als einheitlicher Binnenmarkt der mächtigsten Staaten Europas konzipiert. Diese Konstruktion ist nicht reformierbar. Abstrakte Bekenntnisse zu Europa – geboren aus der Angst, in die Nähe der Rechtspopulisten gerückt zu werden – nutzen uns wenig, der AfD jedoch viel. Wir werden sie politisch nur besiegen können, wenn wir klar sagen: Dieses Europa des Lohndumpings, der Privatisierung und des Krieges wollen wir nicht! Ähnliches gilt für Position zum Euro. Unter der Überschrift »Euro-Rettung« findet die fürchterlichste Demontage des europäischen Sozialstaats seit dem Zweiten Weltkrieg statt. Damit kann sich DIE LINKE nicht gemein machen. Sie muss sagen: Rettet die Menschen, nicht den Euro! Verbunden mit der Perspektive der europaweiten Solidarität im Widerstand gegen das Krisenregime bietet das eine linke Antwort auf die nationalistische Hetze der AfD.
6. Eine massenhafte Mobilisierung zu den Blockupy-Protesten sollte ein zentrales Projekt der Partei im kommenden Jahr werden.
DIE LINKE hat in den beiden vergangenen Jahren einen wichtigen Beitrag bei der Mobilisierung zu den Blockupy-Protesten geleistet. Diese waren der wichtigste und sichtbarste Kristallisationspunkt für Widerstand gegen die Krisenpolitik der Troika und der Bundesregierung in Deutschland. Die Partei hat darüber Kampagnen- und Aktionserfahrungen gesammelt und sich viel Vertrauen im antikapitalistischen Milieu erworben. Teile der Blockupy-Bewegung haben nach den guten Erfahrungen der Zusammenarbeit sogar zur Wahl der LINKEN in Hessen aufgerufen. Im kommenden Jahr geht der Protest in eine weitere Runde und soll zeitgleich mit der Eröffnungsfeier des neuen Gebäudes der Europäischen Zentralbank im Frankfurter Ostend stattfinden.
DIE LINKE kann hier ihren praktischen Gebrauchswert unter Beweis stellen. Eine politisch zugespitzte europaweite Mobilisierung mit großer symbolischer Ausstrahlungskraft könnte eine grenzüberschreitende Solidaritätsbewegung in Gang setzen und der LINKEN weiteren Auftrieb verleihen.
Gleichzeitig ann DIE LINKE helfen, die Verbindungen zwischen den Blockupy-Protesten und betrieblichen Auseinandersetzungen zu verstärken. Die Blockupy-Aktivisten und -Aktivistinnen stehen nach mehreren Versuchen, die EZB zu blockieren, selbst vor der Frage, was Widerstand im Herzen des europäischen Krisenregimes konkret bedeutet: Belassen wir es bei symbolischen Aktionen auf der Einkaufsstraße, während gleichzeitig Proteste im Einzelhandel stattfinden? Hier könnte DIE LINKE eine wichtige Rolle spielen. Durch ihre Verankerung in den Gewerkschaften hat sie die Möglichkeit, zum Bindeglied zwischen dem Blockupy-Protest und dem gewerkschaftlichen Milieu zu werden.
7. DIE LINKE ist kein Korrektiv für andere, sondern eine eigenständige Oppositionspartei. Es führt in eine politische Sackgasse, sie zu einer Mehrheitsbeschafferin für Rot-Grün zu degradieren.
Ein rot-rot-grünes Bündnis ist rechnerisch sowohl im Bundestag als auch im hessischen Landtag möglich. DIE LINKE tut aber gut daran, nicht auf diese Option zu setzen, denn der Kapitalismus kann nicht durch Parlamentsabstimmungen überwunden werden. Parlamente täuschen über die realen Machtverhältnisse hinweg. Die Kapitalistenklasse und der Staatsapparat (Ministerien, Polizei, Armee, Justiz) agieren weitgehend unabhängig von demokratischer Kontrolle. Auch die Rahmenbedingungen stehen einem rot-rot-grünen Regierungsbündnis objektiv entgegen. Durch die Schuldenbremse ist jede Regierung gezwungen, soziale Kürzungen durchzuführen. Die Festlegung auf eine restriktive Haushaltspolitik steht im Widerspruch zu den sozialen Wahlversprechen. Dem Kürzungszwang konnte sich auch DIE LINKE nicht entziehen, wenn sie sich in der Vergangenheit an Regierungen beteiligte. Das zeigt das rot-rote Projekt in Berlin. In der Außenpolitik haben SPD und Grüne nicht zuletzt durch ihr Abstimmungsverhalten im Bundestag bewiesen, dass sie CDU und FDP näher stehen als der LINKEN. So unterstützen sie in der Europapolitik den neoliberalen Kurs der Troika. Den Angriff auf Libyen forderten sie sogar vehementer als Schwarz-Gelb. Der Skandal um die Lieferung von Chemikalien an das Regime Assads wirft ein Schlaglicht darauf, dass Rot-Grün keinen Deut besser als eine bürgerliche Koalition ist.
Letztlich hat sich die SPD von Anfang an auf ein Zusammengehen mit Merkel in einer Großen Koalition vorbereitet. Angesichts dieser politischen Realitäten nützt es uns als LINKE wenig, immer wieder neue Kooperationsangebote zu formulieren und die kaum vorhandene Schnittmenge wie die Nadel im Heuhaufen zu suchen. Dadurch haben wir ohne Not das Bild vermittelt, DIE LINKE beteilige sich ebenso am Koalitionspoker wie die etablierten Parteien. Ein solches Auftreten hat erschwert, Nichtwählerinnen und Nichtwähler für die LINKE zu mobilisieren. Außerdem hat es Steinbrück unverdiente Glaubwürdigkeit verschafft.
Richtig ist es jedoch, wie beim Thema Mindestlohn inhaltliche Projekte in den Mittelpunkt zu stellen und auf diese Weise der sich andeutenden Große Koalition offensiv zu begegnen – auf der Straße, im Betrieb und auch im neugewählten Deutschen Bundestag.
8. DIE LINKE muss gewerkschaftspolitisch mutiger werden und sich von einer Partei der Repräsentation gewerkschaftlicher Positionen zu einer Partei des aktiven Klassenkampfes wandeln.
Merkels Krisenkorporatismus, also die Strategie der exportorientierten Standortpolitik kombiniert mit einem Stillhalteabkommen zwischen Unternehmern und Belegschaften, tragen auch SPD und Grüne mit. Selbst innerhalb der Gewerkschaften wird diese Politik viel zu wenig kritisiert. Eine kritische Minderheit weiß aber genau, dass ein »Weiter so« den Niedergang ihrer Organisationen nicht aufhalten wird. Es gibt ernsthafte Bemühungen um eine gewerkschaftliche Erneuerung, die sich auf der theoretischen Ebene in einer Kritik des Krisenkorporatismus äußert. Auf der praktischen Ebene probieren die Kolleginnen und Kollegen neue, demokratische Streikformen aus und versuchen, prekär Beschäftigte zu organisieren.
Auf diese Ausdifferenzierung innerhalb der Gewerkschaften muss DIE LINKE eingehen. Es ist gut, wenn wir politische Forderungen der Gewerkschaften in den öffentlichen Raum tragen. Allerdings sollten wir nicht zu Fehlentwicklungen schweigen. Denn damit reproduzieren wir die künstliche Trennung von Politik und Ökonomie. Gerade in Bezug auf das Handeln in der Eurokrise müssen wir zur Kenntnis nehmen: Es gibt erhebliche Differenzen zwischen der politischen Ausrichtung der LINKEN und der Mehrheit in den Gewerkschaftsführungen. Wenn wir diese Differenzen nicht erklären und debattieren, sind wir nicht attraktiv für diejenigen gewerkschaftlichen Aktivistinnen und Aktivisten, die sich stärkere und kämpferischere Gewerkschaften wünschen.
Erste Schritte in diese Richtung wurden bereits unternommen. Beispielhaft ist das Agieren der LINKEN im überaus harten Konflikt im Einzelhandel: In einigen Städten sind aufgrund der Aktivitäten einzelner LINKE-Mitglieder engagierte Betriebsräte, Streikaktivistinnen und -aktivisten der Partei beigetreten. In einzelnen Fällen konnten Mitglieder der LINKEN einen substantiellen Beitrag zum Streik leisten, etwa durch Solidaritätsaktionen in der Öffentlichkeit oder als unmittelbare Streikposten. Solche Erfahrungen gilt es zu verallgemeinern und in möglichst vielen Kreisverbänden Schritte für die aktive Solidaritätsarbeit einzuleiten. Ein bundesweit wichtiger Sammlungs- und Orientierungspunkt aller praktischen Aktivitäten kann der Einzelhandelsratschlag »Der Verkäuferin einen guten Lohn« sein, zu dem die Rosa-Luxemburg-Stiftung Betriebsräte und Gewerkschaftsaktive am 28. Oktober nach Kassel einlädt.
Die Konferenz »Erneuerung durch Streik« im März 2013 der Rosa Luxemburg Stiftung brachte unter Beteiligung vieler LINKE-Mitglieder Kämpfende aus den unterschiedlichsten Bereichen zum Erfahrungsaustausch zusammen. Eine Neuauflage dieser Konferenz ist für den Oktober 2014 geplant.
9. Die urbanen sozialen Bewegungen sind zurück – und unterstreichen die Notwendigkeit einer lokal verankerten LINKEN.
Die Band Ton Steine Scherben sang Ende der 1970er Jahre »Das ist unser Haus« und ließ in einem Song den Mensch Meier gegen Fahrpreiserhöhungen protestieren. Das entsprach den Zeiten: Aktivistinnen und Aktivisten nahmen damals den Kampf gegen Leerstand, Mietwucher, überteuerten öffentlichen Nahverkehr und für adäquate Kinderbetreuung selbst in die Hand, anstatt ihn der Politik zu überlassen. Ein Hauch der Siebziger weht jetzt wieder durch unsere Städte: Ob im Kampf gegen Großprojekte wie Stuttgart21, überhöhte Mieten oder für eine bessere Lebensqualität in den Städten (z.B. durch den Erhalt von Grünflächen wie dem Tempelhofer Feld) – hier sind in den vergangenen Jahren vielerorts neue Bewegungen auf lokal verankerter Basis entstanden. Diese Kämpfe knüpfen an die besten Traditionen der sozialistischen Bewegung an, nämlich dem Kampf für die Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klasse. Wenn DIE LINKE eine aktive Rolle in diesen Kämpfen spielt, kann sie nicht nur die Proteste stärken, sondern auch etwas erreichen, das für sie selber immens wichtig ist: Verankerung vor Ort.
10. Der Schritt von einem aktivistischen Wahlkampf zur realen Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse ist möglich, wenn wir den Aufbau der Parteistrukturen mit der Orientierung auf Klassenkämpfe verzahnen.
Das Ergebnis der Bundestagswahl kann für die Partei kein Anlass sein, so weiter zu machen wie bisher. Parlamentarische Vertretungen machen für DIE LINKE Sinn, um die eigenen Forderungen, Bewegungen und Analysen der Partei in die breite Öffentlichkeit zu tragen. Im besten Falle befruchtet und befördert die parlamentarische Arbeit dabei den Aufbau von Partei und Bewegung. Jedoch haben wir als LINKE in der Vergangenheit kein gesundes Maß zwischen der Arbeit innerhalb und außerhalb der Parlamente gefunden. Als Wahlpartei im Vorfeld der Bundestagswahl des Jahres 2005 gegründet, hat DIE LINKE bis heute keine wirkliche Antwort darauf gefunden, wie ihre Praxis in der Zeit zwischen zwei Wahlkämpfen aussehen kann. Es ist aber ein Problem, wenn sie nur vor Wahlen richtig zum Leben erwacht – und nicht etwa denselben Aktivitätsgrad im alltäglichen Kampf gegen Mieterhöhungen, Privatisierungen oder Entlassungen an den Tag legt. Hätten wir solche Kampagnen mit dem Enthusiasmus unserer Wahlkämpfe geführt, stünde die Partei heute sicher besser da.
Stattdessen setzten alle Strömungen, auch die linken, ihren Schwerpunkt auf innerparteiliche Auseinandersetzungen. Das führt gelegentlich zu einem Sieg auf dem Papier oder bei der Vergabe eines Postens. Doch gesellschaftliche Kräfteverhältnisse verändert es nicht.
Die Partei muss in die Offensive kommen: Unserer Meinung nach spielen dabei die parlamentarische Ebene und programmatische Debatten nur eine untergeordnete Rolle. Selbstverständlich kämpfen wir für die Umsetzung und gegen eine Aufweichung des Erfurter Programms. Das bedeutet jedoch, dass DIE LINKE einen Beitrag zum Erstarken von politischen und sozialen Bewegungen sowie zur tatsächlichen Verschiebung gesellschaftlicher Kräfteverhältnisse leisten muss. In diesem Papier haben wir drei wichtige Aktionsfelder genannt: den Widerstand gegen Merkels Krisenregime in Europa, die gewerkschaftliche Neuformierung und die neuen urbanen Protestbewegungen. Hoffentlich werden noch andere Kämpfe an die Seite dieser Bewegungen treten. Dann muss die LINKE ihrer potentiellen Rolle als Motor des Widerstands gerecht werden. Dafür müssen wir als Partei jedoch den mutigen Schritt vom Wahlkampf zum Klassenkampf wagen.
Mehr Debatten zum Thema gibt es auf den Herbstkonferenzen in deiner Stadt. Mehr Informationen auf www.marxismuss.de