Tausende Menschen gehen in islamischen Ländern gegen die Schmähung ihres Propheten Mohammed auf die Straße. Viele Menschen schütteln darüber ungläubig den Kopf: Wie können im 21. Jahrhundert religiöse Überzeugungen noch so populär sein? Georg Frankl fasst Karl Marx' Analyse der Religion zusammen
Ein kleiner Text mit großer Wirkung: Karl Marx' »Thesen über Feuerbach« gelten als Geburtsschrift des Marxismus. Marx notierte im Frühjahr 1845 die elf Thesen in seinem Notizbuch – eine Auseinandersetzung mit den Ideen seines Philosophenkollegen Ludwig Feuerbach.
Dieser war ein strikter Gegner der Religion und insbesondere des Christentums. Er kritisierte sie von einem »materialistischen« Standpunkt aus. Materialismus bezeichnet eine philosophische Position, die alle Vorgänge und Phänomene der Welt auf Materie und deren Gesetzmäßigkeiten und Verhältnisse zurückführt.
Denkfehler Religion
Eine solche Vorstellung lehnt natürlich jegliche Gottheit ab. Für Materialisten ist Gott ein Produkt menschlicher Fantasie, die ihm zugrunde liegende Materie ist das menschliche Gehirn. Nach Feuerbach macht der religiöse Mensch einen Denkfehler. Erst wenn er einmal verstanden hat, dass er die Gottesprojektion nicht benötigt, könne er sein Menschsein verwirklichen.
Von daher war für Feuerbach Religion das wesentliche Problem der Gesellschaft. Erst wenn sie überwunden sei, stehe das Tor zur Befreiung des Menschen offen. Feuerbach würde also mit allen diskutieren, die zum Papst pilgern, um sie davon zu überzeugen, dass sie einem Hirngespinst erlegen sind.
Falsche Ideen
Marx kritisierte, dieses Verständnis greife zu kurz: »Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbach'schen mit eingerechnet) ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird (…).«
Die Welt sei also nach Feuerbach festgefügt aus Materie, der Mensch könne sie wahrnehmen und sich in ihrem Rahmen bewegen. »Falsche Ideen« wie die Religion entsprängen auch materiellen Ursachen – bei Feuerbach der »Natur des Menschen« – und müssten dann durch Aufklärung überwunden werden. Feuerbach wolle die Menschen erziehen.
Starrer Materialismus
Marx erschien dieses Modell viel zu starr: »Die materialistische Lehre von der Veränderung der Umstände und der Erziehung vergisst, dass die Umstände von den Menschen verändert und der Erzieher selbst erzogen werden muss. (…) Das Höchste, wozu der anschauende Materialismus kommt, (…) ist die Anschauung der einzelnen Individuen und der bürgerlichen Gesellschaft.«
Im ersten Kapitel der »Deutschen Ideologie« fassten es Marx und Friedrich Engels später wie folgt zusammen: »Soweit Feuerbach Materialist ist, kommt die Geschichte bei ihm nicht vor, und soweit er die Geschichte in Betracht zieht, ist er kein Materialist. Bei ihm fallen Materialismus und Geschichte ganz auseinander (…).«
Nicht nur ausgeliefert
Marx' zentraler Punkt war, dass der Mensch der materiellen Wirklichkeit nicht einfach ausgeliefert sei, sondern auf sie einwirke und sie verändere – als Individuum und auch kollektiv als Gesellschaft. Weder erschaffe der menschliche Geist die Welt, noch sei er bloßes Produkt seiner Umwelt. Sondern die praktische Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen beeinflusse zugleich Menschen und Umstände.
Indem Marx nun diese Tätigkeit – die gesellschaftliche Praxis – in den Mittelpunkt seiner Philosophie stellte, konnte er den materialistischen Ansatz auf die menschliche Gesellschaft und ihre Geschichte anwenden: »Der Standpunkt des alten Materialismus ist die ›bürgerliche‹ Gesellschaft; der Standpunkt des neuen die menschliche Gesellschaft, oder die vergesellschaftete Menschheit.«
Die Welt verändern
Marx identifizierte das menschliche Wesen nicht als ein »dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum« sondern als »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« und entdeckte so die Triebkraft gesellschaftlicher Veränderung: »Das Zusammenfallen des Änderns der Umstände und der menschlichen Tätigkeit oder Selbstveränderung kann nur als revolutionäre Praxis gefasst und rationell verstanden werden.«
Sowohl die Umstände als auch das menschliche Wesen selbst seien Produkte der gesellschaftlichen Praxis, über die zwar kein Mensch erhaben sei, die jedoch auch nicht statisch sei. Vielmehr stünden die Menschen und die Umstände in einem dialektischen Verhältnis und (re-)produzierten sich dadurch ständig. Perspektive und Weg zur aktiven Veränderung bestünden folglich im bewussten Eingreifen in diesen gesellschaftlichen (Re-)Produktionsprozess. So lautet dann auch die berühmte elfte These: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern.«
Verkehrte Welt
Auf den Ausgangspunkt, die Religionskritik, angewandt bedeutet das Folgendes: Dass der Mensch aus sich selbst heraus Gott und die Religion entwirft, erklärt sich für Marx von der verkehrten sozialen Welt her.
Die ungerechte Gesellschaft erzeugt das verkehrte religiöse Bewusstsein, das unter Umständen auch ein Hindernis sein kann, eine gerechtere Welt zu schaffen. Marx würde wohl weder dem Papst zujubeln, noch dessen Fans belehren – er würde stattdessen für eine bessere Welt kämpfen, in denen die Menschen keinen Papst mehr brauchen.
Zur Person:
Georg Frankl ist Mitglied der LINKEN in Berlin.
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