Sayyed Mansur Nadiri ist Vorsitzender einer linken Partei in Afghanistan. Mit marx21 sprach er über die Präsidentschaftswahlen, den Widerstand gegen die Besatzung und die Rolle der Bundeswehr.
Dieses Interview erscheint in marx21, Heft 12. Die neue Ausgabe ist ab 7. September erhältlich.
marx21: Sayyed, gerade haben in deinem Land Präsidentschaftswahlen stattgefunden. Waren sie ein Zeichen dafür, dass sich die afghanische Gesellschaft demokratisiert?
Sayyed Mansur Nadiri: In einem Land, in dem – durch westliche Intervention – die barbarischen Taliban durch die Kriminellen der Nordallianz ersetzt worden sind, kann man kaum von Demokratie reden. Für die Nordallianz ist Demokratie gleichbedeutend mit Morallosigkeit. Mit ihren Waffen und ihrem Geld haben sie die Wahlen beeinflusst. Ich würde sagen, dass von allen Gründen, die den Westen motiviert haben, Afghanistan zu besetzen, Demokratie der unbedeutendste war. Im gegenwärtigen Parlament sitzen Mörder, Kriegstreiber, Kriminelle und Vergewaltiger – das ist leider keine Übertreibung. Die Abgeordnete Malalai Joya hat am eigenen Leib erfahren müssen, was passiert, wenn man sich mit ihnen anlegt. Während diese Verbrecher weiterhin im Parlament sitzen, hat sie nun Hausverbot und muss sich verstecken.
Pressefreiheit, ein anderes zentrales Element demokratischer Gesellschaften, ist in Afghanistan praktisch nicht existent. Ein Beispiel: Der 23-jährige Journalist Pervaiz Kambakhsh wurde von einem Gericht wegen angeblicher »Blasphemie« zum Tode verurteilt. Der Grund: Er hatte einen Artikel über Islam und Frauenrechte aus dem Internet ausgedruckt und ihn Freunden gezeigt. Mittlerweile ist er »begnadigt« worden – zu 20 Jahren Gefängnis.
Die meisten Journalisten trauen sich nicht, die Wahrheit zu schreiben. Schon für die kleinsten kritischen Fragen zu ihrer Vergangenheit wurden Journalisten von Warlords massiv bedroht, einige mussten das Land verlassen. Andere wurden ermordet.
Der Geheimdienst KHAD hat weibliche Mitglieder unserer Partei verfolgt und verhört, weil sie als Unterstützer der RAWA (Organisation Revolutionärer Frauen Afghanistans) am Internationalen Frauentag in Kabul teilgenommen haben. Viele andere Gruppen, die unter der Beobachtung des KHAD stehen, trauen sich nicht mehr, sich öffentlich zu äußern.
Deine Partei hat die Wahlen boykottiert. Wären sie nicht ein Weg gewesen, die Situation zu verbessern?
Die Wahlen waren nichts anderes als eine Showveranstaltung, um die Weltöffentlichkeit und unsere Bevölkerung von der Besatzung zu überzeugen. Die Teilnahme an solchen Wahlen hätte die korrupte Regierung nur legitimiert. So waren die prominentesten Kandidaten Warlords, bekannte CIA-Spitzel und sogar Taliban. Keiner weiß, woher sie ihr Geld für den Wahlkampf haben. Einer dieser Kandidaten, Ashraf Ghani Ahmadzai, unser ehemaliger Finanzminister, hat sogar einen offiziellen amerikanischen Berater. Die meisten dieser »Kandidaten« werden von den USA unterstützt. Sie können ungestört erpressen, plündern und veruntreuen, ohne eine Anklage vor Gericht fürchten zu müssen. Außerdem war die gesamte Situation so gefährlich, dass freie Wahlkampagnen unmöglich gewesen wären, vor allem für Frauen. Während der Provinzwahlen konnten Frauen ihre Häuser nicht verlassen, und einige, die es doch wagten, sind ermordet worden. Beobachter wie die International Crisis Group und die Unabhängige Wahlkommission Afghanistans haben schon im Vorfeld der Abstimmung vor Wahlbetrug gewarnt. So wurden an die insgesamt nur drei bis vier Millionen Wahlberechtigten über 17 Millionen Wahlkarten verteilt. Die Menschen in den süd- und südöstlichen Provinzen konnten aufgrund der Sicherheitslage ohnehin nicht abstimmen. Sie allein stellen 40 Prozent der Bevölkerung. Weitere Millionen sind als Flüchtlinge im Ausland, und konnten ebenfalls nicht wählen.
US-Präsident Barack Obama spricht davon, Frieden zu schaffen. Gleichzeitig schickt er mehr Soldaten ins Land. Was passiert derzeit?
In der südlichen Provinz Helmand sind keine Berichterstatter erlaubt. Daher gibt es kaum Informationen darüber, was dort stattfindet. Es gab Berichte über zivile Opfer. Die Zahl der Familien, die in Flüchtlingslagern Schutz suchen, hat stark zugenommen. Bewohner der Region haben von Bombardierungen ihrer Häuser durch die Amerikaner berichtet. Es war von vornherein klar, dass die Erhöhung der Truppenstärke unserem Volk schaden wird. Im Süden ist die Katastrophe am deutlichsten.
Sieht die Mehrheit der Afghanen die ausländischen Truppen als Besatzer oder als Befreier?
Die Tatsache, dass wir die Taliban hassen, bedeutet nicht, dass wir die USA automatisch als Befreier feiern. Die mit ihnen verbündete Nordallianz ist viel schlimmer als die Taliban. Und eben weil die USA sich auf die schlimmsten Verbrecher des Landes stützen, werden sie unweigerlich scheitern. Obamas 40.000 neue Soldaten werden da auch nicht helfen. Die Menschen in Afghanistan sehen diese Truppen als ihre Feinde.
Wie unterscheidet sich die Situation von der Zeit der sowjetischen Besatzung?
Es existieren eigentlich keine großen Unterschiede zwischen damals und heute. Beide Besatzungsmächte stützen bzw. stützten sich auf Verbrecher und Verräter, um ihre eigenen politischen, wirtschaftlichen und geostrategischen Ziele durchzusetzen. Die Unterschiede: Die Lakaien der Sowjetunion waren Atheisten und alphabetisiert, während die US-Alliierten religiös und Analphabeten sind. Die USA sind unter dem Deckmantel der Frauenbefreiung mit UN-Mandat einmarschiert, während die Russen damals einen Stellvertreterkrieg gegen die Amerikaner führten. Die Russen kamen gleich mit 100.000 Soldaten, während die USA sich an diese Zahl erst langsam herantasten. Aber grundsätzlich sind beide Besatzungsmächte bei den Menschen verhasst. Freiheit oder Demokratie gibt bzw. gab es unter dem einen Regime so wenig wie unter dem anderen.
Wie hat sich die Situation der Frauen seit der Intervention des Westens im Jahr 2001 verändert?
Den Frauen Afghanistans werden die grundlegendsten Rechte und Bedürfnisse vorenthalten. Durch mangelndes Bewusstsein und mangelnde Bildung (95 Prozent der Frauen können weder lesen noch schreiben) leben sie weiterhin in finstersten Verhältnissen, in denen Männer nach wie vor die Religion und den tiefverwurzelten Aberglauben ausnutzen, um ihre Frauen unter Kontrolle zu halten. Sie werden zwischen der Gewalt in ihren Familien und der Unterdrückung durch die fundamentalistischen Warlords zermahlen.
Unzählige Fälle von Vergewaltigungen von Mädchen und Frauen wurden in den letzten acht Jahren angezeigt. Viele der Vergewaltiger haben nichts zu befürchten, weil sie entweder mächtige Kommandeure sind oder aber unter dem Schutz der Kriegsherren stehen.
Ein sehr bekannter Fall ist der von Bashira. Das 14 Jahre alte Mädchen wurde von einer Gruppe von Männern vergewaltigt – unter ihnen der Sohn des Parlamentariers Haji Payinda Mohammad. Der Abgeordnete ist ein berüchtigter Kriegsherr im Norden, dem Einsatzgebiet der Bundeswehr. Durch seinen Einfluss wurde der junge Vergewaltiger nur kurz unter Arrest gestellt. Bashira wurde hingegen nicht einmal von einem Gericht angehört. Ihre Familie wurde stattdessen von Warlords bedroht und floh schließlich nach Kabul. In einem anderen Fall konnten die drei Vergewaltiger einer Frau namens Sara auf die Vergebung durch Präsident Hamid Karzai zählen.
Häusliche Gewalt – so genannte Ehrenmorde, Zwangsverheiratungen Minderjähriger, die Bezahlung mit Mädchen als Währung im Falle von Streitigkeiten, Prügel, Beleidigungen und unmenschliche Folter durch Ehemänner oder Familien – ist weit verbreitet. Laut einer Erhebung des United Nations Population Fund in Afghanistan (UNFPA) erleiden 31 Prozent der Frauen physische Gewalt, 25 Prozent sind Opfer sexueller Gewalt. Weil in vielen Fällen die örtlichen Behörden in die Taten verwickelt sind, gibt es für die Opfer keinerlei Hilfe.
Aufgrund von Armut und Analphabetismus sind viele Frauen gezwungen, sich zu prostituieren, um ihre Familien durchzubringen. Eltern verkaufen ihre Kinder – oft für nur zehn Dollar – damit sie den Rest der Familie ernähren können.
Die große Hilflosigkeit führt zu einer enorm hohen Selbstmordrate unter Frauen. Noch nie in der Geschichte Afghanistans war die Selbstmordrate unter Frauen so hoch wie heute. Viele trauen dem Gesetz und den Richtern nicht. Selbstmord erscheint ihnen als Erlösung von ihren Leiden.
Die Gesetze in unserem Land bieten Frauen keinen Schutz. Im Gegenteil: Sie stellen eine Gefährdung für jede Frau dar. Das gesamte Rechtssystem ist von religiösen Fundamentalisten, die den Taliban in nichts nachstehen, durchsetzt. Wir sollten nicht vergessen, dass ein Großteil der Verbrechen im Dunkeln bleibt, weil viele Frauen sich nicht trauen, sie anzuzeigen.
Hierzulande hören wir oft, dass die Bundeswehr keinen Krieg in Afghanistan führe. Vielmehr sei sie auf einer Friedensmission. Wie unterscheidet sich die Situation im Norden, wo die deutschen Truppen stationiert sind, von anderen Regionen?
Die Bundeswehr steht in einem »friedlicheren« Teil Afghanistans. Trotzdem vertrauen die Menschen den deutschen Soldaten ebenso wenig wie den amerikanischen. Sie sagen: Die Alliierten der USA sind wie Kinder, die ihrem Vater zu gehorchen haben und nicht unabhängig handeln dürfen. Vielleicht hätten die Afghanen den anderen Truppen sogar eine Chance gegeben, wenn diese nicht der Politik der USA gefolgt wären.
Wirklich friedlich ist auch der Norden nicht. Es gibt dort zwar weniger Taliban, dafür sind aber die fundamentalistischen Warlords sehr dominant. Die Zahl der Vergewaltigungen ist im Norden am höchsten. Korruption ist weit verbreitet. Die (nicht-paschtunischen) Warlords säen Misstrauen und Feinschaft zwischen den paschtunischen Stämmen.
Die Deutschen arbeiten eng mit Atta Murhad, dem Gouverneur der Provinz Balch zusammen. Dieser unterhält seine eigenen Terrortruppen und richtet sich nicht nach den Anweisungen der Zentralregierung. Wenn die Deutschen und die anderen Alliierten den Afghanen wirklich helfen wollten, würden sie seine Leute entwaffnen und vor Gericht stellen, statt mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Wie schätzt du die Rolle der deutschen »Provinzaufbauteams« (PRT) ein? Leisten sie einen humanitären Beitrag?
Die PRTs der Bundeswehr gehören zu jenen Einheiten und Organisationen, die unter dem Einfluss der US-Besatzer stehen. In einigen Gebieten im Westen des Landes arbeiten diese Teams eng mit den Taliban zusammen, anstatt sie zu bekämpfen.
Zum wirklichen Wiederaufbau des Landes tragen die meisten Projekte nichts bei. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man fast darüber lachen: Es werden Schulen aufgebaut, ohne dass qualifizierte Lehrer eingestellt und Bücher oder Schreibmaterialien organisiert werden, oder es wird eine Klinik gebaut, ohne dass jemals ein Arzt oder eine Krankenschwester das Gebäude von innen sieht. Es mag zwar weniger Opfer durch die Deutschen geben, aber das liegt daran, dass im Norden der Krieg weniger heftig ist. Das ist aber noch lange kein Beweis für ihre Freundschaft mit den Afghanen.
Was denkst du über den bewaffneten Widerstand gegen die ausländischen Truppen?
Bis jetzt ist der Widerstand nicht mit dem gegen die Russen in den 1980er Jahren vergleichbar. Der Kampf der Taliban gegen die Besatzer richtet sich auch gegen unsere Interessen. Ihnen geht es nur um Macht und die Ziele ihrer ausländischen Herren – und nicht um die Befreiung der Afghanen. Sollten sie die Macht wieder an sich reißen, dann würden sie mit ihrer finsteren, antidemokratischen und mittelalterlichen Politik der Vergangenheit weitermachen. Aber letztlich wird die US-Politik, die Warlords zu unterstützen, zum bewaffneten Widerstand führen. Schon jetzt schließen sich Teile der Bevölkerung, aus Verzweiflung und Hass auf die Regierung, den Taliban in ihrem Kampf gegen die Besatzer an.
Bist Du der Meinung, die ausländischen Truppen sollten sich zurückziehen? Falls ja: Was würde dann passieren?
Je schneller die Truppen abziehen, desto besser – am besten schon heute. Denn im Moment werden die Menschen zwischen drei Feinden zerrieben: den Jihadisten, den Taliban und den Besatzungstruppen. Sollten die USA das Land verlassen und ihre Unterstützung für die Nordallianz beenden und verlören die Taliban ihre arabischen und pakistanischen Hintermänner, dann könnten die Menschen sich gegen die blutrünstigen Herrscher wehren. Zwar warnen manche vor dem, was nach dem Abzug passieren könnte, aber wir befinden uns doch ohnehin im Krieg. Die Menschen sind auch heute nicht sicher. Jederzeit kann eine Bombe der Alliierten ihr Haus treffen, Terrorismus ist im ganzen Land verbreitet und Armut und Arbeitslosigkeit greifen um sich.
Wenn also einerseits der Westen seine Truppen abzieht und auch Iran, Pakistan und Saudi-Arabien aufhören, zu intervenieren, werden wir unsere Freiheit erkämpfen können. Der Westen warnt vor dem Bürgerkrieg – aber die Leiden der Afghanen sind schon jetzt so groß, dass sie bereit wären, diesen Preis für die Freiheit zu bezahlen.
Kannst du uns noch etwas über die afghanische Linke erzählen, über die man im Westen nahezu nichts erfährt?
Die afghanische Linke hat einen guten Ruf. Viele schätzen sie für ihre sowjetkritische und antifundamentalistische Politik der letzten dreißig Jahre. Einige der wichtigsten Gruppen sind SAMA (»Befreiungsorganisation des afghanischen Volkes«), die »Afghanische Befreiungsorganisation« (ALO) und die Kommunistische Partei. Die afghanische Linke musste in den vergangenen drei Jahrzehnten schwere Schläge hinnehmen – sowohl durch die russischen Invasoren und ihre Unterstützer als auch durch die Warlords. Tausende Intellektuelle wurden gefoltert und erschossen, viele Organisationen zerschlagen.
Die heutige Linke leidet unter diesen Wunden der Vergangenheit. Erschwert wird unsere Situation dadurch, dass es kaum organisierte Arbeiter gibt. Zudem führt die komplizierte politische Situation zu Verwirrung und Desorientierung.
Die meisten linken Strömungen wenden sich sowohl gegen die Taliban als auch gegen die US-Besatzung und würden sich nicht mit einem von beiden gegen den anderen verbünden. In meinen Augen ist das ein Fehler. Keine der linken Organisationen ist gegenwärtig in der Lage, den bewaffneten Widerstand zu beginnen, so wie in den Jahren des Krieges gegen die sowjetischen Besatzer. Wir denken aber auch, dass es nach wie vor möglich ist, dass die Linke die politische Bühne wieder betritt, wenn sie weiter für Unabhängigkeit, Frauenbefreiung und Gerechtigkeit kämpft.
(Das Gespräch führte Paul Grasse)
Zur Person:
Sayyed Mansur Nadiri ist Vorsitzender der Nationalen Solidaritätspartei Afghanistans (Hizb-e Paiwand-e Melli-ye Afghanistan).
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- marx21-Kampagnenseite: "Bundeswehr raus aus Afghanistan" (Artikel, Broschüren, Links)