Aus Protesten gegen Fahrpreiserhöhungen ist der größte Volksaufstand in der Geschichte des Landes geworden. Mark Bergfeld und Miguel Borba de Sa beleuchten, wie diese Bewegung entstanden ist und wie ihre Chancen auf Erfolg stehen
Selbst der marktliberale Wirtschaftswissenschaftler Friedrich Hayek hat 1960 in seinem programmatischen Buch »Die Verfassung der Freiheit« geschrieben, dass zwei Bereiche nicht dem freien Markt überlassen werden dürfen: Umweltschutz und Verkehr. Die brasilianische Regierung hat das aber nie gekümmert.
In den letzten zehn Jahren wurde der öffentliche Nahverkehr zu einer profitablen Branche für Konzerne und Landesregierungen gemacht. Busunternehmen durften für zahlreiche Linien bieten und Politiker haben Bestechungsgeld für die Vergabe kassiert.
Verkehr teurer als Strom
Die große Mehrheit der Brasilianer kann sich kein Auto leisten. Durch die Privatisierungen kostet der öffentliche Nahverkehr aber pro Monat mehr als Strom oder Wasser.
Arbeiter und Angestellte verdienen normalerweise umgerechnet 200 bis 250 Euro im Monat. Da ist es ein großer Unterschied, ob eine Busfahrkarte 70 oder 90 Cent kostet.
Seit langem Proteste gegen Privatisierung
Es gibt schon seit einigen Jahren Bürgerinitiativen gegen diese Verkehrspolitik in Sao Paulo, Belo Horizonte oder Rio. Schon 2009 demonstrierten einige tausend Menschen gegen die Privatisierung von Bahn- und Fähr-Gesellschaften in Rio. Dabei haben die Teilnehmer die Zentralen der Gesellschaften gestürmt und verwüstet.
Die Bewegung gegen Fahrpreiserhöhungen begann schon vor zwei Monaten in Porto Alegre. Nur wurde sie damals nicht im europäischen Fernsehen gezeigt.
Verdrängung im Vorfeld der Fußball-WM
Gleichzeitig verdrängen der jetzige Fußball-Confed-Cup, die Weltmeisterschaft nächstes Jahr und die Olympischen Spiele 2016 in Rio viele arme Menschen aus den Innenstädten und schneiden sie oft komplett vom Nahverkehr ab. Die Regierung hat mehrere Slum-Viertel komplett abgerissen und die Bewohner vertrieben, statt sie zu entschädigen. All das führte zur großen Wut, die jetzt hunderttausende Brasilianer auf die Straßen treibt.
Selbst die Arbeiter auf den Baustellen der neuen Stadien wurden schlecht bezahlt. Deshalb wurde schon auf jeder einzelnen Stadion-Baustelle gestreikt, wobei die Polizei oft gewalttätig gegen die Streikenden vorgegangen ist.
Wenige bereichern sich
In Rio haben letztes Jahr Feuerwehrleute für höhere Löhne gestreikt und wurden von der Polizei zusammengeschlagen. Daraufhin demonstrierten 40.000 Menschen am Strand der Copacabana für den Rücktritt des Gouverneurs.
Vor allem in Städten, in denen nächstes Jahr die Weltmeisterschaft stattfindet, haben deutlich mehr Menschen protestiert als es die Regierung erwartet hatte. Aber auch viele, die nicht davon betroffen sind, haben sich angeschlossen, weil fast alle großen Probleme in Brasilien im Kern dieselbe Ursache haben: Wenige Konzerne und Millionäre bereichern sich auf Kosten der Menschen. Deshalb haben sich zum Beispiel auch indigene Minderheiten der Bewegung angeschlossen, deren Leben im Urwald von riesigen Kraftwerken bedroht ist.
Mehr auf Demos als im Stadion
Die Bewegung ist so schnell gewachsen, weil viele Menschen erkannt haben, dass sie sich gegen die Eliten richtet, die ein ganzes Volk unterdrücken. Als Sepp Blatter, Präsident des Welt-Fußballverbandes FIFA, drohte, die Weltmeisterschaft nächstes Jahr müsse wegen der Proteste möglicherweise abgesagt werden, wurde die Bewegung noch größer. Als die brasilianische Mannschaft am 19. Juni in Fortaleza spielte, waren 50.000 Menschen im Stadion, aber 80.000 standen davor und demonstrierten gegen das politische System Brasiliens.
Dass die Bewegung mehr als eine Million Menschen am selben Tag auf die Straße brachte, war eine spontane Entwicklung, die niemand vorhergesehen hat. Viele Leute haben Bilder und Berichte auf Facebook gesehen und neue Demos organisiert.
Gegen alle Probleme des politischen Systems
Aber all das wäre nicht möglich gewesen, wenn nicht linke Organisationen wie PSOL (Partei für Sozialismus und Freiheit) seit Anfang des Jahres mit kleineren Demonstrationen begonnen hätten. Den ersten größeren Protest gab es im Mai gegen den neuen Menschenrechtsbeauftragten, weil er rassistisch, frauen- und schwulenfeindlich ist.
Wichtig war in dieser Zeit, dass im Rahmen der Bewegung Versammlungen organisiert wurden, die verschiedene Organisationen, Studierende und nicht politische Menschen zusammenbrachten. Diese Versammlungen haben zum Beispiel verhindert, dass sozialdemokratische Organisationen die Bewegung spalten konnten, indem sie mit Hilfe der Medien zu einer reinen Antikorruptionsdemo aufgerufen haben. Denn durch die Versammlungen konnte die Bewegung klarstellen, dass es ihr um einen gemeinsamen Kampf gegen alle Probleme des politischen Systems geht.
Bewegung bedeutend wie das Parlament
Die Bewegung ist jetzt zu einem der wichtigsten politischen Faktoren Brasiliens geworden, ähnlich bedeutend wie das Parlament. Das ist ein großer Erfolg, bringt aber neue Gefahren mit sich: Jetzt rufen auch die sozialdemokratische Arbeiterpartei von Präsidentin Dilma Rousseff und der sozialdemokratische Gewerkschaftsdachverband CUT zu Demonstrationen auf. Ihr Ziel ist allerdings, dass die Proteste sich allgemein gegen Missstände richten, statt gegen die menschenfeindliche Politik der Regierung.
Eine weitere Gefahr ist, dass sie politische Weiterentwicklung der Bewegung nicht mit ihrem Wachstum Schritt hält. Schon jetzt wollen manche Teilnehmer, dass die Demonstrationen einen karneval-ähnlichen, eher unpolitischen Charakter haben.
Politische Schwächen spiegeln sich
Aktivisten mit linken Fahnen wurden bereits angebrüllt und verjagt, weil manche, die zum ersten Mal demonstrieren, ihren Hass auf die Regierung auf alle Parteien und Politik als Ganzes übertragen. In Brasilia ist es Rechtsradikalen gelungen, die Demonstration anzuführen und in eine Straßenschlacht mit der Polizei zu drängen. In Rio haben sich Gangster unter die Demonstranten gemischt und Linke bedroht.
Die Bewegung ist ein großer Fortschritt für die brasilianische Arbeiterbewegung, aber sie spiegelt auch ihre geringe politische Erfahrung wieder, ebenso die Schwäche linker Organisationen. Die Massendemonstrationen sind eine großartige Chance, um dauerhafte Strukturen der Bewegung aufzubauen, ebenso wie sozialistische Organisationen wie PSOL. Allerdings besteht auch die Gefahr, dass sich die vielen politisch unerfahrenen Demonstranten beispielsweise mit dem Versprechen Rousseffs zufrieden geben, irgendwann irgendeine Volksabstimmung abzuhalten.
Zu den Autoren:
Mark Bergfeld ist Sozialist und wohnt in London. Er war führender Studentenaktivist und Vorstandsmitglied der National Union of Students während der britischen Studierendenproteste 2010. Seine Artikel erschienen zuletzt im „Jacobin Magazine« und „New Statesman«. Web: www.mdbergfeld.com Twitter: @mdbergfeld
Miguel Borba de Sa ist Mitglied des ‘Institute for Alternative Policies for the Southern Cone‘ (PACS) und Lehrbeauftragter an der Bundesuniversität Rio de Janeiro. Er schreibt zu sozialen und indigenen Kämpfen in Lateinamerika. Er ist in der PSOL aktiv.
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