Bei jenen Politikern, die sich selbst als bürgerlich bezeichnen, kommt zunehmend Sympathie für plebiszitäre Verfahren auf. Eine Wende hin zu mehr Demokratie? Arno Klönne meint: Dahinter steckt der Drang nach autoritärer Politikgestaltung
Das Volk als Souverän, so will es das Grundgesetz, bringt seinen politischen Willen über Wahlen und Abstimmungen zur Geltung. Für die Bundespolitik hat allerdings die zweite genannte Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen, bisher keine Bedeutung.
Es gibt auch keine gesetzliche Regelung, wie das Volk abstimmen könnte. Repräsentativ und nicht plebiszitär ist das Politiksystem der Bundesrepublik ausgerichtet, und die politische Klasse hierzulande hat über Jahre hin genau dies für sakrosankt erklärt.
Demokratische Erleuchtung?
Und nun die Überraschung: Seit kurzem treten prominente Vertreter gerade der CDU/CSU mit der Forderung auf, die bundesweite Volksabstimmung solle eingeführt werden. Auch ein europaweites Referendum könne man sich vorstellen. Und vielleicht sei anzustreben, einen Präsidenten der EU per Direktwahl ins Amt zu bringen.
Eine späte demokratietheoretische Erleuchtung, ein Verlangen nach breiter Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger bei der Suche nach Lösungen für die Krise der europäischen Gesellschaften? Es wäre naiv, solch edle Motive anzunehmen.
Legitimation beschaffen
Die Gründe und die strategischen Ziele der plötzlichen Neigung zum Plebiszitären sind erkennbar: Im Dienste des Finanzmarktes wird in den Staaten der EU der Parlamentarismus um seine praktischen Einflussmöglichkeiten gebracht, oder er versetzt sich selbst in Ohnmacht.
In der Bundesrepublik muss das Verfassungsgericht den Bundestag dazu veranlassen, sein Haushaltsrecht wenigstens formal nicht ganz aufzugeben. Widerspenstigen Staaten wird eine externe Politiksteuerung verpasst.
Der Fiskalpakt verdrängt die parlamentarischen Rechte in den einzelnen Ländern, die repräsentative Demokratie wird zur Fassade. Da braucht es Kompensation, den Anschein demokratischer Partizipation, jetzt in plebiszitärer Form, zwecks Beschaffung von Legitimation.
Beispiel Europapolitik
Der Vorschlag, in der Bundesrepublik das Volk über die deutsche Europapolitik abstimmen zu lassen, als Exempel: Die Bundesregierung mit Hilfe des Kartells der regierenden oder regierungsfähigen Parteien würde das Thema des Plebiszits setzen, dessen Modalitäten bestimmen, die Fragen formulieren, über die dann abzustimmen wäre – direkte Demokratie von oben her strikt dirigiert, Ausübung von Macht per Herrschaft über das Verfahren.
Massenmedialer Unterstützung könnte sich die politische Klasse dabei sicher sein, wenn sie – und was wäre anderes zu erwarten – dem Volk die richtige Entscheidung nahelegt, nämlich die für eine den Kapitalinteressen konforme Weiterentwicklung des europäischen Politiksystems.
Reibungen minden
Mehr Demokratie? Mehr autoritäre Instrumente für eine politische Klasse, die in turbulenten Zeiten mehr Anstrengungen machen muss, ihren ökonomischen Auftrag zu erfüllen.
Und der heißt nun: Verarmung unten muss sein. Da mindert es Reibungen, wenn die Politiker sagen können, das Volk selbst habe sie zu ihrem Tun bevollmächtigt, ganz direkt.
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