Das Netzwerk marx21 wird ein neues Theoriejournal herausbringen. Hier soll Gesellschaftsanalyse mit linker Strategiebildung zusammenkommen. Nicole Gohlke und Volkhard Mosler aus der Redaktionsgruppe stellen das Projekt vor
marx21.de: Das Netzwerk marx21 hat bei seiner Unterstützerversammlung im Februar entschieden, ein Theoriejournal herauszugeben. Ihr beide gehört der neu gegründeten Redaktionsgruppe an. Gibt es in der deutschen Linken nicht schon genug marxistische Theorieorgane?
Nicole Gohlke: Das Interesse an Marx und marxistischer Theorie ist in den vergangenen Jahren sprunghaft gestiegen. Aber wir haben den Eindruck, dass dieses Revival eine gewisse Schlagseite hat. Zwar wurden der Kapitalismuskritiker, der Krisentheoretiker und der Globalisierungskritiker Marx wiederentdeckt, aber der Klassenkämpfer Marx blieb weitgehend unentdeckt. Auch innerhalb der LINKEN sind Klassentheorien oder politische Ansätze der Selbstbefreiung keineswegs unumstritten. Vielmehr fokussieren die meisten Strategien auf gesellschaftliche Veränderungen, die durch Parlamentswahlen erreicht werden sollen. Das ist in einem Land, in dem die Klassenwidersprüche zwar enorm angewachsen sind, der Widerstand von unten allerdings unterentwickelt ist, wenig verwunderlich.
Dieser Zustand schlägt sich auch in den theoretischen Diskursen der Linken innerhalb und außerhalb unserer Partei nieder. Das gilt auch für die marxistischen Publikationen, von denen du gesprochen hast. Es ist kein Zufall, dass etwa die ak, die sich heute »Analyse und Kritik« nennt, früher mal »Arbeiterkampf« hieß. Und kaum jemand erinnert sich noch daran, dass die Prokla, die den Untertitel »Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft« trägt, ursprünglich »Probleme des Klassenkampfes« hieß. Wir wollen mit unserem Journal den Revolutionär Karl Marx, der sich in die Kämpfe seiner Zeit einmischte, neu entdecken und seine Theorien auf heutige Bedingungen anwenden.
Die Streikzahlen sind in Deutschland auf dem niedrigsten Niveau seit zwanzig Jahren, ebenso die Zahl der Arbeitslosen. DIE LINKE erhält immer weniger Zuspruch. Wie wollt ihr denn da mit dem Revolutionär Marx ansetzen?
Volkhard Mosler: Auf der Titanic schien auch alles in bester Ordnung, bevor sie an einem Eisberg zerschellte. Deutschland ist keine Insel, die sich von der weltweiten Krise abschotten kann. Die Entwicklung in Europa und in Deutschland ist geprägt von einer Ungleichzeitigkeit sowohl der Krise als auch der Klassenkämpfe. In der arabischen Welt und vielleicht auch bald in Griechenland ist der Revolutionär Marx sehr aktuell. Die Popularität von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Deutschland geht Hand in Hand mit Regierungsstürzen und politischer Instabilität in Südeuropa. Was heute in den arabischen Ländern geschieht, kann morgen auf unseren Kontinent übergreifen. Deswegen beginnen wir genau mit diesem Punkt: »Arabellion – Zur Aktualität der Revolution« lautet der Titel unserer ersten Ausgabe. Es geht dabei nicht darum, revolutionäre Bewegungen in fernen Ländern abzufeiern. Ich verstehe Theorie nicht als geistigen Luxus, sondern als Kompass zur Orientierung in kommenden Auseinandersetzungen, gerade weil die Wege dahin manchmal etwas verschlungen sind. Die wichtigsten theoretischen Fragen stehen immer in einem Verhältnis zu den wichtigsten Fragen der politischen Praxis.
Manchmal ist dieses Verhältnis sehr direkt, etwa wenn es um marxistische Krisentheorie und die Frage der Euro-Rettung geht. Manchmal ist es aber eher indirekt. Wer hätte voraussagen können, dass es für Marxisten plötzlich zentral werden würde, sich mit Religion zu befassen? Das war lange Zeit nicht die wichtigste Priorität. Doch mit Beginn der arabischen Revolution ist genau das geschehen. Nun muss sich die Linke mit dem Verhältnis zwischen Islam und Bewegung auseinandersetzen.
Zugleich können linke Selbstverständlichkeiten plötzlich in Frage gestellt werden. Sozialisten verteidigen die internationale Solidarität als ein hohes Gut. Aber was bedeutet »Hoch die internationale Solidarität« in Bezug auf die gegenwärtige Situation in Syrien? Die einen ziehen aus der Losung den Schluss, das Regime von Assad gegen den Westen zu unterstützen. Für die anderen heißt es, nach einer westlichen Intervention zu rufen, um die Widerstandsbewegung im Land zu unterstützen. In Fällen wie diesem wollen wir versuchen, eine neue sozialistische Perspektive zu entwickeln.
Nun hast du die internationale Perspektive beschrieben. Aber was sagt das über die Situation in Deutschland aus?
Volkhard Mosler: Die Warnstreiks im öffentlichen Dienst haben doch eines gezeigt: Immer dann, wenn die Gewerkschaften ernsthaft mobilisieren, gibt es auch Solidarität aus der Bevölkerung. Die deutschen Gewerkschaften sind im europäischen Vergleich noch immer sehr stark. Gleichzeitig haben wir aber hierzulande seit Ende der 1990er Jahre die niedrigste Reallohnsteigerung. Daher ist die Frage, wie wir wieder zu einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung kommen und welche Rolle DIE LINKE dabei spielen kann.
Wir brauchen ein Theoriejournal, weil man für strategisches Handeln treffende Diagnosen benötigt. Gerade hier lag DIE LINKE schon öfter mal falsch. Beispielsweise gehen viele Vertreter des linken Keynesianismus davon aus, dass nur höhere Löhne und eine Steigerung der Massenkaufkraft zu Wirtschaftswachstum führen. Tatsächlich erleben wir aber gegenwärtig, dass die Löhne sinken und die Wirtschaft trotzdem wächst. Das Beispiel Deutschland zeigt, wie mit einer auf Export ausgerichteten Strategie und einer Erhöhung der Ausbeutungsrate zumindest kurzfristig die Krise gemeistert werden kann. An diesem Widerspruch wollen wir anknüpfen.
Mit unserem Theoriejournal wollen wir neue Akzente setzen, indem wir versuchen, die marxsche Krisentheorie im Lichte der heutigen Entwicklung auf ihre Aussagekraft zu prüfen. Dabei gehen wir von einer grundsätzlichen Unversöhnlichkeit der Klasseninteressen zwischen Kapital und Arbeit aus.
Klassenkampf international, Klassenkampf in Deutschland – das sind ja die klassischen Felder der marxistischen Linken. Aber sind die heutigen Fragen nicht ganz andere? Ich möchte nur einmal die Stichwörter Netzpolitik, Frauenbefreiung und ökologische Wende nennen. Sind das nicht die großen Herausforderungen für die marxistische Theorie?
Nicole Gohlke: Ich glaube, dass in all diesen Feldern die marxistische Theorie einen deutlichen Erkenntnismehrwert bringen kann. Sind es denn in der Netzpolitik nicht die menschlichen Produktivkräfte, die gegen die Eigentumsverhältnisse rebellieren? Oder haben nicht gerade Marxisten wie John Bellamy Foster oder Elmar Altvater eine fundierte Analyse der umweltfeindlichen Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise geliefert? Leider finden diese Analysen oft von der Strategiebildung der Linken abgekoppelt statt – zum Beispiel, wenn die Radikalität der ökologischen Analyse einer zahmen Hoffnung auf einen Elitenkompromiss in einem »Green New Deal« oder der Hoffnung auf einen grünen Kapitalismus gegenübersteht.
Auch in Bezug auf die Gleichstellung meinen wir, einen spezifisch marxistischen Beitrag leisten zu können. Wir erleben in den letzten zwanzig, dreißig Jahren, dass sich eine spezifisch »weibliche Arbeiterklasse« im Dienstleistungssektor herausbildet. In der akademischen Linken gibt es schon lange eine Diskussion über Frauenarbeit oder »Care-Ökonomie«. Aber kaum jemand beschäftigt sich damit, wie sich weibliche Pflegekräfte, Erzieherinnen oder die Kassiererinnen bei Schlecker selbstständig organisieren können – und dass, obwohl sie so viel streiken wie nie zuvor. Ich will Frauen nicht nur als Reproduktionsarbeiterinnen, als Ausgebeutete der »Care-Ökonomie«, sondern auch als Subjekte in den Klassenkämpfen des 21. Jahrhunderts begreifen. Diesen Blick habe ich auch auf DIE LINKE. Ich stelle mir die Partei als einen Akteur in sozialen Auseinandersetzungen vor und nicht nur als ein parlamentarisches oder politisches Sprachrohr. Theorieentwicklung für einen solchen Akteur, quasi als organisch-intellektueller Aktivismus – das wünsche ich mir von unserem Journal.
(Die Fragen stellte Luigi Wolf)
Zu den Personen:
Nicole Gohlke ist Bundestagsabgeordnete der LINKEN und Unterstützerin des Netzwerks marx21.
Volkhard Mosler ist Gründungsmitglied des Netzwerks marx21. Er ist im Kreisvorstand der LINKEN in Frankfurt am Main aktiv.
Mehr auf marx21.de: