London 2012: Wegen der Olympischen Spiele werden Teile der britischen Hauptstadt komplett umgebaut. Ziel ist eine maximaler Verwertung und Kontrolle städtischen Raums. Die Bewohner der Stadt bleiben auf der Strecke. Von Phil Butland
Im Juli und August finden die Olympischen Spiele in London statt. Für viele ist das eine gute Gelegenheit, die besten Athleten der Welt zu sehen, noch dazu in einem ganz besonderen Umfeld. Im Gegensatz zu anderen Sportveranstaltungen rühmen sich die Veranstalter der Olympischen Spiele, ihre Wettbewerbe seien weniger kommerziell und der Tradition des Amateursports und des Fairplay verpflichtet. Die Olympische Charta verspricht sogar, »den Sport in den Dienst der harmonischen Entwicklung des Menschen zu stellen, um eine friedliche Gesellschaft zu fördern, die der Wahrung der Menschenwürde verpflichtet ist«.
Den Einwohnern Londons wurde versprochen, dass mit den Spielen auch neue Arbeitsplätze und Wohnungen in der Stadt entstehen würden. Der damalige Labour-Bürgermeister Ken Livingstone stellte im Jahr 2007 in Aussicht, mit der Ausrichtung der Spiele ein massives Regenerierungsprojekt im Stadtteil Stratford durchzuführen. Laut Livingstone sollten so 40.000 neue Wohnungen und 50.000 neue Jobs in einer der ärmsten Gegenden im Osten Londons geschaffen werden.
Mieten steigen
Schon jetzt sehen sich viele Einwohner Ostlondons betrogen. Um die Spiele zu finanzieren, erhöhte die Stadt die Wohnungssteuer (Council Tax) um 20 Pfund (25 Euro). Statt billiger Wohnungen hagelt es Zwangsräumungen. Wer die durch die Olympischen Spiele noch einmal angezogenen Mieten nicht mehr bezahlen kann, fliegt raus. So erging es auch Daniele Manske, deren Vermieter die Chance ergriffen hat, die Miete für ihre Dreizimmerwohnung von 1050 auf 1400 Pfund zu erhöhen. Daniele und ihr Partner wurden zwangsgeräumt, denn im Moment finden sich Mieter genug, die auch die höhere Miete bezahlen können.
Daniele ist kein Einzelfall. In Stratford – dem Gebiet, für das Livingstone eine »Regenerierung« versprochen hatte – sind die Durchschnittsmieten um 20 Prozent gestiegen. Die Wohltätigkeitsorganisation Shelter hat nachgewiesen, dass viele Vermieter versuchen, ihre Mieter rechtswidrig zur Räumung zu zwingen. Kein Wunder: Ein Immobilienmakler berichtete der BBC, dass Wohnungen, die normalerweise 350 Pfund pro Woche kosten, während der Olympischen Spiele für 6000 Pfund in der Woche vermietet werden können.
Genossenschaftsbau abgerissen
Natürlich sind die Zustände in London nicht mit denen in Peking 2008 vergleichbar, wo anderthalb Millionen Menschen ihre Wohnungen verloren haben. Aber die Anzahl verfügbarer bezahlbarer Wohnungen nimmt in London durch die Olympischen Spiele drastisch ab. Wohnungen, Fabriken und Naturschutzgebiete wurden dem Bau neuer Spielstätten geopfert. Unter anderem wurde das zweitgrößte Haus im Besitz einer Wohnungsbaugenossenschaft in ganz Europa, Clay’s Lane Estate, abgerissen und alle Bewohner mussten umziehen.
Auch so haben es Mieter in Großbritannien schon schwer genug. Die Wirtschaftskrise mit der damit einhergehenden wachsenden Arbeitslosigkeit wird von immer neuen Angriffen der liberal-konservativen Regierung auf die Bevölkerung flankiert. Das Wohngeld für Arbeitslose und Geringverdiener wurde gekürzt. Viele können es sich nun nicht mehr leisten, in ihren Wohnungen zu bleiben. In Newham, einem weiteren Ostlondoner Bezirk, stehen für 28.000 Menschen auf Wohnungssuche 600 freie Wohnungen zur Verfügung. Sir Robin Wales, Bezirksbürgermeister von der Labour-Partei, will Mieter zum Umzug nach Stoke-on-Trent nötigen, um die Wohnungsnot zu lösen. Stoke-on-Trent ist über 200 Kilometer von London entfernt.
Befristete Billigjobs
Ähnlich steht es um die versprochenen neuen Arbeitsplätze. Wenn überhaupt welche entstehen, sind es temporäre Billigjobs. Die Organisatoren der Spiele zahlen an ihre Vertragspartner eine pauschale Vergütung von zehn Pfund pro Arbeitsstunde. Doch ist zum Beispiel im Vertrag der offiziellen Sicherheitsfirma G4S ausdrücklich ein »Anreiz (…) Einsparungsmöglichkeiten bei den Arbeitskosten zu identifizieren« festgeschrieben. G4S wird also ermutigt, die Löhne zu drücken und den »gesparten« Betrag einzubehalten. Outsourcing und Dumpinglöhne sind die Folge. Viele Arbeitsverträge werden an Leiharbeitsfirmen wie Carillion und McAlpine outgesourct, deren schwarze Listen gegen Gewerkschafter kürzlich publik geworden sind. Auf den schwarzen Listen stehen zum Beispiel alle, die zuvor als Arbeitssicherheitskräfte gearbeitet haben. Angesichts von 50 tödlichen Arbeitsunfällen im Jahr ist diese Kürzungsstrategie fatal.
Während die Bewohner vertrieben und die Arbeiter ausgebeutet werden, können einige die Spiele in Luxus genießen. Das Internationale Olympische Komitee hat die Organisatoren in London verpflichtet, für die Funktionäre 2000 Zimmer in Fünfsternehotels zur Verfügung zu stellen. Auf den sowieso schon überfüllten Straßen soll es reservierte Fahrspuren, die »Games Lanes«, geben. Doch nicht nur Funktionäre und Sponsoren fahren ungehindert. Für 20.000 Pfund (25.000 Euro) kann jeder eine Genehmigung erwerben. Krankenwagen dürfen die »Games Lanes« in Notfällen befahren, allerdings nur mit eingeschaltetem Blaulicht und Sirene.
Manager und Sponsoren
Zu den Profiteuren der Olympischen Spiele zählen auch die ehemaligen Mittelstreckenläufer und Parlamentsabgeordneten Sebastian Coe und Paul Deighton, Geschäftsführer des Londoner Organisationskomittees (LOGOC). Coe »verdient« eine halbe Million, Deighton sogar 800.000 Pfund im Jahr. 15 weitere Direktoren bekommen immerhin noch je 150.000 Pfund. Insgesamt 904 »Manager« werden sich an den Spielen bereichern.
Das beste Geschäft haben jedoch die privaten Sponsoren gemacht. Ursprünglich wurden die Kosten der Spiele auf zwei Milliarden Pfund geschätzt. Davon sollten private Sponsoren mehr als eine Milliarde aufbringen. Inzwischen sind die Kosten auf zwölf Milliarden Pfund angewachsen und könnten weiter steigen. Der Privatsektor zahlt nun jedoch deutlich weniger als im Vorfeld versprochen, lediglich zwei Prozent der Summe werden von Sponsoren übernommen. Der Rest muss von den britischen Steuerzahlern getragen werden.
McDonald’s und Coca-Cola
Wer sind nun die Sponsoren, die mit den Spielen Gewinn machen? Ein kurzer Blick erweckt den Eindruck, man wäre einer Satire aufgesessen. »Offizieller Nachhaltigkeitspartner« ist der Ölkonzern BP, der kürzlich seinen Zweig Solarenergie geschlossen hat, weil der nicht genug Profit abwarf. Ein weiterer »Top Sponsor« ist das Unternehmen Dow Chemicals. Dows Tochterfirma Union Carbide war für den desaströsen Chemieunfall im indischen Bhopal verantwortlich, durch den 20.000 Menschen starben und bis heute Hunderttausende schwer erkrankt sind. Dow Chemicals hat außerdem das Giftgas Agent Orange hergestellt, dem im Vietnamkrieg Millionen zum Opfer fielen. Nicht fehlen dürfen natürlich McDonald’s und Coca-Cola.
Die letzte Labour-Regierung hat zugunsten der Sponsoren neue Gesetze wie den »London Olympic Games and Paralympic Games Act« erlassen. Dieses Gesetz untersagt die Nutzung bestimmter Namen, Begriffe und Logos. Wer »Olympia«, »2012«, »Gold« oder »Sommer« verwendet, bricht Urheberrecht. Nun drohen 31 griechischen Cafés und Firmen in London hohe Geldstrafen, wenn sie ihre Namen nicht ändern. Um sicherzustellen, dass diese Gesetze eingehalten werden, sind »Markenschutzteams« an den Austragungsorten und in der Stadt unterwegs. Sie sollen »Kleider oder Gegenstände, die Werbung von anderen Firmen als den offiziellen Sponsoren enthalten« entfernen. Und selbstverständlich dürfen im Olympischen Dorf nur McDonalds-Burger gegessen und Erfrischungsgetränke von Coca-Cola getrunken werden.
Überwachungsstaat ausgebaut
So weit, so bekannt von früheren Olympischen Spielen. Wie überall im Leben versuchen Konzerne Profit herauszuschlagen, wo Menschen Spaß haben. Der wahre Skandal dieser Spiele ist nicht die Gier der Kapitalisten, sondern der massive Ausbau des britischen Sicherheitsapparats.
Allein 500 Millionen Pfund werden für die 48.000 Sicherheitskräfte während der Spiele ausgegeben, Typhoon-Flugzeuge und zwei Kriegsschiffe in London stationiert und Flugabwehrkörper auf Wohnhäusern aufgestellt. »Wogegen sollen die uns schützen? Einen Überraschungsangriff argentinischer Hockeyspieler?« erregt sich der Anwalt Dave Renton.
Zusätzlich werden in London 13.500 britische Soldaten eingesetzt – mehr als in Afghanistan. Die Stadt wird außerdem flächendeckend mit neuester elektronischer Überwachungstechnologie aufgerüstet, wie der Stadtforscher Stephen Graham in der Zeitung Guardian dokumentierte.
Falls die Soldaten Angst bekommen sollten, dass ihren Waffen nicht ausreichen, haben sie auch Zugang zum »Long Range Acoustic Device«. LRAD ist eine »Trommelfell-zersplitternde Waffe«, die im irakischen Kriegsgebiet getestet wurde. Dazu gibt es 18 Kilometer Elektrozaun und 55 Teams mit Kampfhunden.
»Antisoziales Verhalten« verboten
Rund um die Austragungsorte ist die Polizei ermächtigt, gegen jeden vorzugehen, der »antisoziales Verhalten« zur Schau trägt. Untersagt ist »Herumhängen in Bahnhöfen«, Betteln, Straßenhandel, »Herumlungern« in der falschen Kleidung (beispielsweise dem gefürchteten »Hoody«, dem Kapuzenpullover) und alles, was irgendjemand als Belästigung empfinden könnte. 10.000 Schuss Plastikmunition stehen der Polizei zur Abwehr zur Verfügung.
Warum diese massive Aufrüstung und warum gerade jetzt? Wie in vielen Ländern gab es auch in Großbritannien Widerstand gegen die Abwälzung der Folgen der Wirtschaftskrise auf die Bevölkerung. Letztes Jahr kam es in vielen britischen Städten zu Aufständen armer Jugendlicher, nachdem die Londoner Polizei einen schwarzen jungen Mann getötet hatte. Gleichzeitig bewiesen die Gewerkschaften ihre Stärke mit Streiks und großen Demonstrationen gegen die Rentenreform. Es wird daher kaum überraschen, wenn diese »temporären Sicherheitsmaßnahmen« auch nach Ende der Spiele beibehalten werden.
»Neoliberales trojanisches Pferd«
Der sozialistische Sportjournalist Dave Zirin bringt es auf den Punkt: »Bei den Olympischen Spielen geht es ebenso wenig um Sport wie es beim Irakkrieg um Demokratie ging. Es geht nicht um die Athleten und ganz sicher nicht darum, ›die Gemeinschaft der Nationen‹ zusammenzubringen. Die Spiele sind ein neoliberales trojanisches Pferd mit dem Ziel, Großunternehmen den Weg zu ebnen und grundlegende Bürgerrechte abzubauen.«
Es könnte aber auch anders kommen. Die Olympischen Spiele haben mit dem Überbringen der Olympischen Fackel von Griechenland nach Großbritannien begonnen. Inzwischen springt aber noch ein anderer Funke von Griechenland über: der Geist des Widerstands.
Wenn wir uns im August die Wettkämpfe in London anschauen, dürfen wir nicht vergessen, dass die »1 Prozent« alles daran setzen, daraus größtmöglichen Profit zu schlagen. Deswegen können wir nicht einfach den Athleten zujubeln, sondern müssen selber aktiv werden und für eine Gesellschaft kämpfen, in der unser Vergnügen nicht instrumentalisiert wird. Dann werden auch die Spiele uns gehören.
Zur Person:
Phil Butland ist Mitglied der LINKEN in Berlin-Wedding. Er ist in Großbritannien aufgewachsen und war dort aktiv in der Friedensbewegung und gegen Rassismus.
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