Jürgen Ehlers meint, Bürgerhaushalte führen nicht zu mehr Mitbestimmung
Ende der 1980er Jahre führten in Brasilien starke soziale Gegensätze zu politischen Spannungen, die im ersten großen Wahlerfolg der Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) im Bundesstaat Rio Grande do Sul mündeten. Kaum im Amt führte die neue Regierung 1989 in dessen Hauptstadt Porto Alegre den weltweit ersten Bürgerhaushalt ein: Die Einwohner bekamen die Möglichkeit, zumindest über einen Teil des Haushalts der Kommune mitzubestimmen. Bis heute übt der Bürgerhaushalt von Porto Alegre eine große Anziehungskraft aus, weil sich seitdem die Lebensverhältnisse vieler Menschen verbessert haben und ein Großteil der Stadtbewohner zum ersten Mal die Möglichkeit bekam, ihre Vorstellungen zu artikulieren und Gehör zu finden.
Für viele Linke in Deutschland ist Porto Alegre zum positiven Symbol für die Demokratisierung von kommunalpolitischen Entscheidungsprozessen geworden. So heißt es auf der Homepage der LINKEN-Landtagsfraktion Brandenburg: »Bürgerhaushalte, die eine radikale Demokratisierung von politischen Entscheidungsprozessen zum Ziel haben, sind auf Partizipation und direkte Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an der Aufstellung, Umsetzung und Kontrolle der Umsetzung des Haushaltsplanes gerichtet.« Mittlerweile wurden auch in einigen deutschen Städten Bürgerhaushalte eingeführt.
Die Verbesserung der Lebensverhältnisse in Porto Alegre durch die Einrichtung einer medizinischen Grundversorgung, die Errichtung neuer Schulen und Kindergärten und der Ausbau des Trink- und Abwassernetzes war aber nicht das Ergebnis des Bürgerhaushaltes. Vielmehr nahm die Regierung der Arbeiterpartei eine Umverteilung zugunsten der bisher besonders benachteiligten Stadtviertel und deren Bewohner vor. Erst diese Maßnahme hat auch den finanziellen Spielraum eröffnet, der das Engagement der Einwohner in den Armenvierteln von Porto Alegre für den Bürgerhaushalt zur Folge hatte.
Zudem hatten die Reformbemühungen, die Bewohner über ihre unmittelbaren Belange im Stadtteil entscheiden zu lassen, ihre Grenzen. So resümierte die Wochenzeitung Freitag im Februar 2003: »Nach 13 Jahren Bürgerhaushalt hat die Armut in Porto Alegre nicht abgenommen. Der Bürgerhaushalt ist nicht in der Lage – von Ausnahmen abgesehen – Arbeit und Einkommen für die Bürger zu schaffen.« Auch in Deutschland ist die Bilanz keineswegs positiv.
Ein Problem hierbei ist die Tatsache, dass nur ein kleiner Teil eines kommunalen Haushaltes überhaupt zur Diskussion gestellt wird. Die Einnahmeseite, hier vor allem die Gewerbesteuerhebesätze, bleiben ganz außen vor. Allen Beteiligungsmodellen ist gemeinsam, dass von der Verwaltung in unterschiedlicher Form eine Auswahl von Themenbereichen vorgegeben wird und in dieser dann Prioritäten durch die Bürger gesetzt werden können. Das letzte Wort hat jedoch die Stadt- oder Bezirksverordnetenversammlung. Dementsprechend hat das Ganze den Charakter einer Anhörung.
Im Kern geht es darum, den Bürgern die dramatischen Haushaltsdefizite vieler Kommunen als Sachzwang zu verkaufen und sie dazu zu bewegen, sich des Problems durch Kürzungsvorschläge und Umschichtungen anzunehmen und nicht dagegen zu protestieren. Die Einführung des Bürgerhaushaltes soll Protestpotential integrieren.
Der Sozialwissenschaftler Carsten Herzberg, der sich intensiv mit der Entwicklung von Bürgerhaushalten auseinandergesetzt hat, bringt es mit Blick auf die Bildung des Berliner Regierungsbündnisses von SPD und PDS im Jahr 2001 auf den Punkt: »Alles in allem hat Berlin gute Voraussetzungen, mit einem Bürgerhaushalt anzufangen bzw. allen Grund dazu. Das Land ist hoch verschuldet. Um eine tragbare Vision für die Zukunft zu erarbeiten, sollten die gewählten Repräsentanten mit den Bürgern reden. Angesichts der bevorstehenden Einschnitte wäre es hilfreich, mit den Bürgern Prioritäten abzustimmen.«
Herzberg hat auch das Regelwerk entwickelt, nach dem der Bürgerhaushalt im Berlin-Lichtenberg funktioniert. Innerhalb der LINKEN wird dieses Projekt als beispielhaft bezeichnet, denn die dortige Bezirksregierung, die von der LINKEN gestellt wird, gibt sich viel Mühe, die Bewohner durch Veranstaltungen, Werbekampagnen und persönliche Besuche zum Mitmachen zu bewegen.
Ein Jahr nach Einführung des Lichtenberger Bürgerhaushalts kam Herzberg zu folgendem Schluss: »Die soziale Frage ist abwesend, einen Verteilungsschlüssel für Investitionen gibt es auch hier nicht. Im Zentrum des Verfahrens stehen die zu ›Produkten' aufbereiteten Leistungen der Verwaltung, die von den Bürgern bewertet werden. (…) Was zu einer partizipativen Demokratie fehlt, ist eine organisierte Bürgerschaft mit dem Potential einer Gegenmacht.«
Das Interesse, sich am Beteiligungsverfahren zum Bürgerhaushalt zu engagieren, ist unter den Einwohnern gering. Dies wurde beispielsweise in Friedrichshain-Kreuzberg deutlich, dem zweiten Berliner Bezirk nach Lichtenberg, der einen Bürgerhaushalt initiierte. Dort kamen zu den Veranstaltungen, bei denen Vorschläge gesammelt und diskutiert worden sind, anfangs nur zwischen 30 und 100 Teilnehmer – bei immerhin 260.000 Einwohnern im gesamten Bezirk. Auch in anderen Kommunen bewegt sich die Beteiligung auf ähnlich niedrigem Niveau. In Freiburg beteiligten sich lediglich 1863 Menschen an einer Online-Diskussion zum Beteiligungshaushalt 2009/2010.
Das Beispiel Freiburg ist besonders interessant, weil nur zwei Jahre vor dieser von oben organisierten Diskussion ein erfolgreicher Bürgerentscheid mit der Forderung »Wohnen ist ein Menschenrecht« organisiert worden war. An diesem hatten sich 59.211 Einwohner beteiligt. Davon stimmten 41.581 (70,5 Prozent) gegen die Privatisierung kommunaler Wohnungen. Damit war der Plan des grünen Oberbürgermeisters Dieter Salomon gescheitert, die 7.900 städtischen Wohnungen zu verkaufen. Die Freiburger sendeten damit ein starkes politisches Signal aus, das in ganz Deutschland sofort verstanden wurde. Nach diesem Erfolg sind alle ähnlichen Verkaufspläne zurückgestellt worden, weil auch in anderen Kommunen mit einem ähnlichen Widerstand gerechnet wurde.
Möglich war dieser Erfolg, weil sich ein breites Bündnis aus Mietern, Kirchengemeinden, Gewerkschaften, Bürgervereinen, Stadtteilinitiativen, Parteien usw. gebildet hatte. Von April bis November 2006 zog sich die Auseinandersetzung hin und es gelang den Initiatoren, viele von denen zu mobilisieren, die sich sonst nicht engagieren. In einer Dokumentation des Bürgerentscheids heißt es: »Die Wahlbeteiligung von insgesamt 39,9 % ist auf den ersten Blick nicht besonders hoch. Bei den Kommunalwahlen 2004 hatte sie beispielsweise bei 50 % gelegen. In einzelnen Stadtbezirken gab es jedoch deutlich Veränderungen im Vergleich zu Kommunal- oder auch Bundestagswahlen. So gab es in mehreren Gebieten, die bei Wahlen in der Regel unterrepräsentiert sind, eine beeindruckende Beteiligung am Bürgerentscheid. Dies waren vor allem Stadtteile, in denen es vergleichsweise viele Wohnungen der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft Stadtbau GmbH gibt. Der Stadtbezirk Weingarten erreichte beispielsweise mit 42,9 % Wahlbeteiligung den zweithöchsten Wert. Bei der letzten Kommunalwahl hatte die Wahlbeteiligung dort bei gerade einmal 28,8 % gelegen.«
So groß der Erfolg zunächst auch war, hat er jedoch nicht verhindern können, dass die Stadtbau GmbH auf Beschluss der schwarz-grünen Stadtregierung nach der Niederlage die Mieten kräftig erhöhte und Personal abbaute. Die Mitarbeiter der Stadtbau hatten sich stark im Bündnis »Wohnen ist Menschenrecht« engagiert, weil sie bei einem Verkauf zu Recht um ihren Arbeitsplatz fürchteten.
Die Gewinne der Stadtbau sollten nach Vorstellung der schwarz-grünen Mehrheit einen Beitrag leisten, um das Haushaltsdefizit der Kommune zu verringern. Die Schwäche des Widerstandes gegen die Privatisierungspläne lag darin, dass ein Teil der Bewegung bereit gewesen ist, sich an Lösungen zur Konsolidierung des kommunalen Haushaltes zu beteiligen. So heißt es am Ende der Dokumentation »Wohnen ist Menschenrecht«: »Eine zweite kalte Dusche, die mich sprachlos machte: Für die Gemeinderatssitzung direkt nach dem Bürgerentscheid war eine Debatte über den Abstimmungsausgang angesetzt. Viele Schüler, Presse und Fernsehen waren anwesend. Unserem OB und seiner schwarz-grünen Gefolgsmannschaft gelang es, kurzerhand die Debatte als kontraproduktiv und inopportun abzusetzen. Die Hoffnungen auf gemeinsame Diskussionen mit allen Beteiligten, um gute Entschuldungskonzepte im Konsens zu finden, verflog schnell. Ein kommunales Trauerspiel in Sachen Demokratieverständnis.«
Seit den 1990er Jahren ist ein deutlicher Anstieg von Volks- und Bürgerbegehren zu verzeichnen. Diese sind nicht die einzige Protestform gegen politische Entscheidungen, aber die am besten dokumentierte. Sie spiegeln die wachsende Unzufriedenheit wider – so wie die zahlreichen Wählerinitiativen, deren Initiatoren aus dem mittelständischen Kleinbürgertum kommen und die wachsende Zahl von Nichtwählern, die sich vor allem in der Arbeiterklasse finden lassen. In den Großstädten bilden die Stimmverweigerer bei Kommunalwahlen inzwischen die Mehrheit.
Bis zum Krisenjahr 1993 lag die Zahl der eingeleiteten Begehren immer unter 100 im Jahr, um dann bis 1996 auf über 400 hochzuschnellen und sich nach 2000 auf jährlich 200 bis 300 einzupendeln. Unmittelbarer Auslöser ist nicht die Krise gewesen, sondern die Verarmung der Kommunen infolge der Steuerentlastungen für die Unternehmen, auf die die Kommunen wiederum mit dem Verkauf ihres »Tafelsilbers« reagierten. Nach einer Dokumentation von Volker Mittendorf, der sich eingehend mit Bürgerbegehren und -entscheiden auseinandergesetzt hat, schwankt die Erfolgsquote sehr stark und liegt im Durchschnitt bei knapp 17 Prozent. Das ist kein Wert, der euphorisch macht.
Ein ganz wesentlicher Grund für diese Schwäche ist, dass die Voraussetzungen unterschätzt werden, die erfüllt sein müssen, um einen Bürgerentscheid zu erzwingen. Ohne ein breites Bündnis geht es nicht. Das wiederum muss versuchen, auch diejenigen zur Teilnahme zu gewinnen, die sich zum Teil schon seit vielen Jahren nicht mehr an Wahlen beteiligt haben – weil sie immer wieder die Erfahrung gemacht haben, dass sich dadurch ihre Lebensverhältnisse nicht verbessern. Die Initiatoren des Bürgerentscheids in Freiburg haben 2006 eindrucksvoll gezeigt, wie es gehen kann.
Von einer Aufbruchstimmung ist im Zusammenhang mit den Bürgerhaushalten, die in Freiburg oder anderswo »von oben« initiiert worden sind, nichts zu spüren. Das ist nur allzu verständlich, denn der Reiz, sich an Kürzungsvorschlägen zu beteiligen, ist gering – und da hilft es auch nicht, immer wieder auf Porto Alegre zu verweisen.
Nicht die Einrichtung eines Bürgerhaushaltes führt zu einer Emanzipation von angeblichen Sachzwängen und die Entwicklung von politischem Bewusstsein, sondern der Kampf gegen Privatisierungs- und Kürzungspläne. Ein Ergebnis dieser Kämpfe kann ein Bürgerhaushalt sein, der seinen Namen zu Recht trägt, weil er die Mittel zur Verfügung stellt, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. DIE LINKE muss Motor dieser Kämpfe sein und darf nicht Armutsverwaltung betreiben.
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Sebastian Klus u.a. (Hrsg.): Wohnen ist Menschenrecht. Ein erfolgreicher Bürgerentscheid in Freiburg (Ag Spak 2007).
Über den Autor:
Jürgen Ehlers ist aktives Mitglied der LINKEN in Frankfurt am Main. Er ist Architekt und Wohnungsmarktexperte.