Zu einem Ruck reichte es nicht, aber als propagandistische Pflichtübung ist die Europa-Rede des Bundespräsidenten dann doch der Beachtung wert – meint Arno Klönne
In bester Form war Joachim Gauck nicht, als er vor geladenen Gästen über »Europa als Idee« sprach. Eine große Rede war eigentlich von ihm erwartet worden. Eine solche zu bieten, das muss man ihm zugute halten, wäre angesichts des Themas jedoch jedem anderen versierten Prediger ebenso schwer gefallen, denn an europäischen Bekenntnissen ist derzeit kein Mangel.
Auch nicht an Klagen, irgendwie müsse noch die eine große Erzählung über Europas Einheit beigebracht werden. Dazu immerhin wusste Gauck etwas zu sagen: Das identitätsstiftende historische Ereignis fehle nun einmal den Europäern, der Gründungsakt nach Art einer Entscheidungsschlacht, im Ringen mit einem Feind. Da sind die identitären Abendländler ganz rechts ideologiepolitisch besser dran, sie können auf die kriegerische Rettung verweisen, als einst die Türken vor Wien standen.
Verteilung von Wohlstand
Einen Ersatzgründungsakt wußte Gauck aber doch vorzuweisen: Den zeitgeschichtlichen Beitritt osteuropäischer Staaten zum westeuropäisch begründeten Europa, dem angeblich freien, demokratischen, wohlhabenden. Eine gedanklich empfindliche Stelle seiner Rede – denn da könnte ja jemand auf die Idee kommen, nach der Verteilung von Wohlstand zu fragen; indessen war eine Diskussion nicht vorgesehen.
Europa sei, so schilderte Gauck es auf wenig überraschende Weise, eine Wertegemeinschaft, und er hatte dabei solche Werte im Blick, die nicht dem profanen Maßstab der Ratingagenturen ausgesetzt sind, auch nicht der Standort- und Außenhandelskonkurrenz der europäischen Länder untereinander.
Deutsches Diktat über Europa
Die Bundesrepublik, beteuerte er, habe mit der Traditionslinie deutscher Großmachtpolitik nichts mehr gemeinsam, keinesfalls sei ein deutsches Diktat über Europa beabsichtigt. Da dürfen also alle derzeit um ihre wirtschaftlich-politische Souveränität bangenden europäischen Länder sich beruhigt zufrieden geben, das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik hat gesprochen, nichts Böses wird ihnen geschehen.
Auch das gebeutelte Griechenland bekam bei Gauck einen ideellen Trost: Eine AGORA forderte er, in begrifflichem Rückgriff auf das antike Hellas – eine gesamteuropäische kulturelle Stätte der Kommunikation, televisionär betrieben. Und die Briten bat er, in Europa dabeizubleiben, ein Zuckerstück reichend: Man solle ein praktikables Englisch zur verbindlichen europaweiten Zweitsprache machen.
Zurück zum Finanzmarkt
Jungen Leuten erklärte Gauck, wie sie sich europäisch fühlen können, auch wenn sie zu Hause bleiben; er verwies auf den bundesrepublikanischen Alltag mit dem Restaurantbesitzer aus Italien, der Krankenschwester aus Spanien, dem Fußballspieler aus der Türkei. Die derzeit sonst häufig erwähnten Migranten aus Bulgarien und Rumänien erwähnte er nicht, das hätte hier auch dem harmonischen Bild Abbruch getan, und ein Präsident darf das Publikum nicht in Unruhe versetzen.
Gewiss seien noch Probleme zu meistern in Europa, so Gauck, aber »notwendige Anpassungen im wirtschafts- und finanzpolitischen Bereich« schon vorgenommen. Über deren Folgen, also den dramatischen Anstieg von Arbeitslosigkeit und Armut in europäischen Regionen, schwieg der Redner.
Und so konnte das Publikum sich in einen europäischen Himmel versetzt fühlen – freilich nur für die Dauer der präsidialen Ansprache. Gauck verabschiedete sich dann ziemlich abrupt. Und nun hat wieder der Finanzmarkt das Sagen.
Zuletzt in Klönnes Klassenbuch:
- Luxuswut? Demokratieforscher über den Bürgerprotest: Außerparlamentarische Einmischung in die Politik sei und werde immer mehr eine Spezialität gutbetuchter Ruheständler – so der Politikwissenschaftler Franz Walter. Mit dieser Momentaufnahme seine Instituts sollte man sich nicht begnügen, meint Arno Klönne
- Mit der Bundeswehr in den Drohnenkrieg: Die Bundesregierung will für ihre internationalen militärischen Operationen Kampfdrohnen anschaffen. Ein weiterer Schritt auf dem Weg zur »Enttabuisierung« nicht nur des Militärischen, sondern auch des Angriffskriegerischen – meint Arno Klönne
- Verwirrspiel Niedersachsenwahl: In Niedersachsen löst Rot-Grün wohl Schwarz-Gelb ab. Aber Hoffnungen auf einen Machtverlust von Angela Merkel bei der Bundestagswahl lassen sich daraus nicht ableiten, meint Arno Klönne