Im Februar gewann Chavez das Referendum, das ihm das Recht auf unbegrenzte Wiederwahl ermöglicht. Doch die Wirtschaftskrise und der sinkende Ölpreise stellen den Sozialismus im 21. Jahrhundert vor neue Herausforderungen. Mike Gonzalez berichtet aus Caracas.
Auf der Urdaneta-Allee, in der Nähe des Präsidentenpalastes in Venezuelas Hauptstadt Caracas, haben sich am Tag der Abstimmung über das Referendum zehnttausende Chavez-Anhänger versammelt. Gleich nach 21 Uhr brach die wartende Menge in Jubelschreie aus. Soeben war verkündet worden, dass Präsident Hugo Chavez das hart umkämpfte Referendum zur Verfassungsreform gewonnen hatte.
Für die Gesetzesänderung stimmten 55 Prozent der Wahlbeteiligten – insgesamt rund 6,5 Millionen Menschen. Somit ist die bestehende Begrenzung, wie oft der Präsident und alle anderen Amtsträger für eine weitere Amtsperiode kandidieren dürfen, aufgehoben. Die Nein-Kampagne, mit ihrer Behauptung, ein Ja würde der Ein-Mann-Diktatur Tür und Tor öffnen, vereinigte circa fünf Millionen Stimmen auf sich. Präsident Hugo Chavez hatte seinen persönlichen Ruf in die Waagschale geworfen und das Referendum quasi zu einem Vertrauensvotum für ihn als Präsidenten und als Führer der bolivarischen Revolution erklärt. Die Kampagne hatte mehr als zwei Monate lang die Medien beherrscht. Die meisten Beamten hatten ihre Arbeitsstellen verlassen, um sich in der Ja-Kampagne zu engagieren.
Warum diese Kampagne, wenn Chavez erst vor kurzem wichtige Gouverneurs- und Bürgermeisterwahlen gewinnen konnte und die nächsten Präsidentschaftswahlen erst 2012 anstehen? Im November 2008 konnte die Rechte erheblich punkten, als sie fünf wichtige Bundesstaaten und mehrere Bürgermeisterämter, darunter das des Ballungsgebietes von Caracas eroberte. Das gab ihr neues Selbstvertrauen, das sich in der Bereitschaft zeigte, nebst ausgeklügelten Kampagnentechniken auch Gewalt anzuwenden, um Chavez zu stürzen. Regierungsanhänger wurden angegriffen, kubanische Ärzte bedroht und öffentliche Ressourcen überall dort zerstört, wo Oppositionskandidaten an die Macht gekommen waren. Gleichzeitig führte eine wohl organisierte, rechte Studentenbewegung eine Kampagne gegen eine "Diktatur der Linken", wie sie das nannte.
Die Wahlergebnisse vom November waren allerdings auch Ausdruck zweier weit verbreiteter Sorgen unter den Chavez-Anhängern. Eine ist die Korruption, die überall zu sehen ist und bis ins Herz des chavistischen Staates reicht. Viele Mitkämpfer des Präsidenten, wie sein ehemaliger Vize Diosdado Cabello, haben von der Revolution profitiert. Das wissen alle.
Das andere Problem ist die enorme Drogengewalt vor allem in den Armenvierteln. Dieser Gewalt sind mehr als 400 Gewerkschafter und Sozialaktivisten zum Opfer gefallen. Ihre Mörder sind in der Regel Auftragskiller im Dienste wohlhabender Paten. Die Infrastruktur ist offensichtlich marode – Müll türmt sich auf den ungepflegten Straßen und viele Sozialprogramme wurden eingestellt. Angesichts wachsender Wirtschaftsprobleme, einer Inflation weit über 30 Prozent und sinkender Ölpreise war die Abstimmung wichtig für Chavez, um seine Autorität zu festigen. Das ist ihm gelungen.
Das Grundproblem aber bleibt und ist nach diesem Ergebnis möglicherweise noch dringlicher. Viele der korruptesten Gestalten sitzen im Herzen der Regierung. Zugleich bedeuten die sinkenden Öleinkünfte, dass der neue Wohlfahrtsstaat und das Reformprogramm nur aufrecht erhalten werden können, wenn das Bürgertum und die wohlhabenden Mittelschichten gezwungen werden, ihren Teil zu schultern. Diese Schichten haben bisher keine Einbußen ihres Lebensstandards erlitten.
Die Raserei der Rechten ist ein deutlicher Hinweis auf die Reaktionen, die aus jenen wohlhabenden Schichten zu erwarten sind. Die Menschen, die auf der Urdaneta-Allee feierten, in ihre Megaphone riefen und ihre Fahnen schwenkten, machten nicht wegen eines bloßen Wahlsiegs Party. Sie drückten damit ihre Unterstützung aus für Chavez als Symbol der Revolution, der Umverteilung von Reichtum und vor allem einer neuen demokratischen Volksmacht.
Chavez vertritt nach wie vor diese Hoffnungen – trotz der Kompromisse, die seine Regierung eingegangen ist, und der Menschen, die ihn umgeben. Es gab allerdings Augenblicke, in denen Chavez' Fähigkeit, diesen Volkswillen zu deuten, scheinbar versagte. Er schien zuweilen zu glauben, er allein könne den Sieg des venezolanischen Sozialismus stemmen.
Wenn er dem großartigen Einsatz und dem enormen Vertrauensvorschuss der Bevölkerungsmehrheit gerecht bleiben und die bisherigen Errungenschaften konsolidieren will, dann muss die Initiative an die Graswurzeln übergehen, an jene Volksorganisationen, die immer wieder die Revolution vor ihren Feinden gerettet haben.
Die Feinde der Revolution sind allerdings nicht nur unter jenen giftigen Rechten zu suchen, deren maßloser Hass auf Chavez schauerliche Erinnerungen an das chilenische Bürgertum und dessen Unterstützung für den Militärputsch von 1973 weckt. Es sind auch diejenigen innerhalb des Staatsapparats und der Regierung, die Machtpositionen besetzt haben und im Windschatten der Revolution zu Reichtum gekommen sind, die sie nicht ohne weiteres wieder hergeben werden.
Die einzige Garantie für die Zukunft liegt in der Stärke einer Bewegung von unten, die in den kommenden Monaten zur treibenden Kraft werden muss. Das war schließlich Chavez' Versprechen bei seinem Machtantritt vor zehn Jahren. Und dieses Versprechen war es, mit dem er auch in dieser Runde das Votum für sich entscheiden und die Menschen massenhaft in roten T-Shirts auf die Straße bringen konnte.
Aus dem Englischen von David Paenson