Die Bundeswehr bekämpft an Somalias Küste Piraten und kümmert sich um die notleidende Bevölkerung. Das behauptet zumindest die Bundesregierung. Doch in Wirklichkeit ist sie Teil des Problems. Von Christine Buchholz und Stefan Ziefle
Anfang Dezember soll im Bundestag über den Einsatz der Bundeswehr am Horn von Afrika entschieden werden. Die Verlängerung der »Operation Atalanta« (siehe Kasten unten) steht auf der Tagesordnung. Glaubt man der Bundesregierung, dann geht es dabei um Hilfe für die notleidende Bevölkerung Somalias. »Atalanta« habe die Aufgabe, die Nahrungsmittellieferungen des Welternährungsprogramms der UNO (WFP) auf See gegen Angriffe von Piraten zu schützen. Auch der zweite Bundeswehreinsatz, der Somalia betrifft, stehe unter diesen Vorzeichen: Die EU-Mission EUTM SOM (siehe Kasten unten; auf Überschrift klicken) diene der Stabilisierung der international anerkannten somalischen Übergangsbundesregierung (Transitional Federal Government, TFG). Richtig ist, dass die Menschen in Somalia jede Hilfe brauchen, die sie bekommen können. Das Land liegt in Bezug auf Armut und Korruption sogar noch vor Afghanistan. Nicht einmal jeder zweite Somali hat Zugang zu sauberem Trinkwasser. Seit 1977 befindet sich das Land permanent im Krieg oder Bürgerkrieg. Aktuell sind etwa 1,5 Millionen Menschen innerhalb Somalias auf der Flucht, rund 500.000 Menschen sind in angrenzende Länder geflohen. 3,7 Millionen Bewohner sind auf die Hilfe der UNO angewiesen. Aber richtig ist auch, dass die Piraten nicht das Problem sind, die Hilfe des WFP nur einen Tropfen auf den heißen Stein darstellt und die Einmischung in den somalischen Bürgerkrieg alles nur noch schlimmer macht. Die katastrophale Lage im Land ist eine Folge der westlichen Politik von der Kolonialzeit über die Schuldenpolitik des Internationalen Währungsfonds (IWF) bis zu den heutigen Militärinterventionen.
{tab=»Operation Atalanta«} Seit Dezember 2008 ist die Bundeswehr an der EU-Operation »Atalanta« mit aktuell 230 Soldaten, einer Fregatte und einem Versorgungsschiff beteiligt. Schiffe dieses EU-Verbands patrouillieren am Horn von Afrika und »bekämpfen« Piraten, hauptsächlich durch Versenkung »verdächtiger« Schiffe.
{tab=European Training Mission For Somalia (EUTM SOM)} Bis zu zwanzig Bundeswehrsoldaten beteiligen sich in Uganda an der Ausbildung somalischer »Sicherheitskräfte«. Deutschland ist speziell für die Ausbildung von Offizieren und Unteroffizieren zuständig. Die Einheiten werden dann nach Mogadischu gebracht und der TFG übergeben. Doch häufig verkaufen die neu an der Waffe Ausgebildeten ihre Kampfkraft dann an jene, die am meisten dafür zahlen.{/tabs}
Während der britischen Besatzung starb Anfang des 20. Jahrhunderts im Norden des Landes etwa ein Drittel der Bevölkerung in einem blutigen Kolonialkrieg. Bis zur Unabhängigkeit Somalias im Jahr 1960 hatten die britischen und italienischen Kolonialherren das Land vernachlässigt und notwendige Investitionen in Verwaltung, Infrastruktur und Wirtschaft verweigert. Die Ökonomie des neu gegründeten Staats basierte auf ländlicher Subsistenzwirtschaft. Die wenigen Güter, die exportiert wurden, waren hauptsächlich Rinder und Bananen. Die ambitionierten Entwicklungspläne der Regierung wurden über Schulden finanziert. Aber die Rückkehr der Weltwirtschaftskrise in den 1970er Jahren zerstörte die Absatzmärkte. Die Preise verfielen und Somalia geriet in die Schuldenfalle. Der vom somalischen Diktator Siad Barré 1977 bis 1979 mit Unterstützung der US-amerikanischen Regierung gegen Äthiopien geführte Krieg brachte weitere Verschuldung.
Der IWF schritt ein und erzwang eine Abwertung des Somalia-Schillings. Die Hochzinspolitik der US-Notenbank verstärkte das Problem, weil der Dollar stark an Wert gewann. Dadurch wurden Importe unbezahlbar, was nach der großen Dürre im Jahr 1978 zu einer Hungersnot führte. Zu dieser Zeit verschärften sich im Land die Konflikte zwischen verschiedenen Clans um Weideflächen und Ackerland. Lokale Stammesmilizen, die traditionell ein Element der Stabilität waren, wurden nun in Verteilungskonflikten eingesetzt. Politisch nahm das die Form von bewaffneter Opposition gegen die Zentralregierung an, die aufgrund der Schulden keinen sozialen und ökonomischen Ausgleich mehr schaffen konnte.
Im Jahr 1991 griffen US-Truppen in den Konflikt ein, die Zentralregierung brach endgültig zusammen und der Bürgerkrieg eskalierte. Zwei Jahre später kamen UN-Truppen im Rahmen einer »Stabilisierungsmission« ins Land, darunter auch 300 Soldaten der Bundeswehr. Doch Stabilisierung haben sie nicht gebracht, nach schweren Verlusten mussten sie 1994 wieder abgezogen werden. Eine Maßnahme der seit den 1980er Jahren vom IWF durchgesetzten »Strukturanpassungsprogramme« waren Massenentlassungen im öffentlichen Dienst. Eine der betroffenen Institutionen war die somalische Küstenwache, die nahezu ganz aufgelöst wurde. Ihr Fehlen ermöglichte schwer bewaffneten europäischen Fischfangflotten (hauptsächlich aus Frankreich und Spanien) den illegalen Fischfang in den somalischen Gewässern. Außerdem nutzten europäische Unternehmen die Küste vor dem afrikanischen Land zur Verklappung von giftigem und radioaktivem Müll.
Als Reaktion darauf entwickelte sich die Piraterie vor der Küste Somalias. Die ersten Seeräuber waren hauptsächlich entlassene Küstenwächter und verarmte Fischer. Zunächst verstanden sie sich als »Steuereintreiber« und hatten die illegalen ausländischen Schiffe zum Ziel. Unter der Bevölkerung, zu deren Ernährung sie beitrugen, genossen die Piraten hohes Ansehen. Mittlerweile hat sich die somalische Piraterie allerdings zu gewinnorientierten Organisationen mit mafiösen Strukturen entwickelt. Auch gegenüber der Bevölkerung treten die Seeräuber zunehmend gewalttätig auf.
Im Bürgerkrieg setzte sich im Jahr 2000 die Union islamischer Gerichtshöfe (Union of Islamic Courts, UIC) durch. Es handelt sich hierbei um einen Zusammenschluss lokaler Gerichtsinstanzen, die über eigene Polizeikräfte verfügten und vor Ort für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgten. Letzteres garantierte ihnen die Unterstützung der Bevölkerung. Ein weiterer Pluspunkt war in den Augen der Somalier der Anspruch der UIC, von den Machtkämpfen der Clanchefs unabhängig zu sein.
Aufgeschreckt durch den Erfolg der UIC begann die »internationale Gemeinschaft« im Jahr 2004 zugunsten eines Bündnisses aus lokalen Clanchefs (Warlords) einzugreifen. Dieser Zusammenschluss wird seitdem »Übergangsregierung« (Transitional Federal Government, TFG) genannt. Aber die Unterstützung des Westens für die TFG änderte nichts an der Popularität der UIC, die bis 2006 fast das ganze Land kontrollierte. Sie stabilisiert das Land, dämmt die Piraterie ein, bekämpft Korruption und stellt ein staatliches Gewaltmonopol her.
Daraufhin marschierte das Nachbarland Äthiopien mit Unterstützung der USA im Sommer 2006 ein, 16.000 Somalier wurden getötet. Die Invasoren setzten die TFG wieder ein und hinterließen 50.000 Soldaten zur Absicherung. Seit 2007 wurden diese durch zusätzliche 6000 Soldaten der Afrikanischen Union verstärkt. Finanziert werden diese aus dem Entwicklungsfonds der EU (bis zum Sommer 2009 mit rund 35,5 Millionen Euro). Während die EU sich ansonsten an diesem Krieg nur durch Ausbildung von Soldaten beteiligte, intervenierte die US-Armee durch Bombardierungen und Kommandoaktionen. Für die Somalier wurde so der Bürgerkrieg zu einem Krieg gegen ausländische Einmischung, zu einem nationalen Befreiungskampf.
Aufgrund des starken Rückhalts in der Bevölkerung konnte die UIC in den Jahren 2007 und 2008 erhebliche Teile des Landes erobern und Anfang 2009 den Rückzug der äthiopischen Truppen erzwingen. Die TFG verfügt über keinerlei Legitimität in der Bevölkerung, kontrolliert wenige Viertel in der Hauptstadt Mogadischu und würde ohne militärische Unterstützung von außen sofort zusammenbrechen.
Offensichtlich sind die Maßnahmen der Bundesregierung nicht geeignet, den Menschen in Somalia zu helfen. Wenn es wirklich um die Somalier ginge, wäre der erste und wichtigste Schritt ein Ende der militärischen Einmischung und ein vollständiger Schuldenerlass für das Land.
Piraterie ist zudem kein Problem, dass in erster Linie die somalische Bevölkerung betrifft. 2007 gab es insgesamt nur drei versuchte Angriffe auf Transportschiffe des WFP – bei rund 30 Transporten pro Tag. Daraufhin änderte das WFP seine Transportroute und es kam in den sieben Monaten bis zum Beginn der »Operation Atalanta« zu keinen weiteren Angriffen. Der Grund für den Einsatz wird schon eher vom Maritimen Botschafter der EU, dem Sozialdemokraten Kurt Bodewig, deutlich gemacht. Laut Unterrichtung durch die deutsche Delegation erklärte dieser, Aufgaben der zur Bekämpfung der Seeräuberei eingesetzten »Mission Atalanta« der EU seien die Sicherung durchfahrender Schiffe, die Überwachung des Gebietes und die Festnahme von der Seeräuberei verdächtiger Personen. Die wirtschaftliche Bedeutung der Region könne daran gemessen werden, dass es sich um einen der meistbefahrenen Seewege der Welt handele, über den die Hälfte der weltweiten Öllieferungen transportiert werde. Allerdings hat die »Operation Atalanta« nicht zu einer Verringerung der Piraterie geführt. Im Gegenteil, insgesamt stieg die Anzahl der Piratenüberfälle von 24 im ersten Halbjahr 2007 auf 73 im zweiten Halbjahr 2008 und 144 im ersten Halbjahr 2009. Besonders bemerkenswert: Vor der von der UIC kontrollierten Küste sank die Zahl der Piratenangriffe im zweiten Halbjahr 2006 auf null. Erst nach der äthiopischen Invasion konnten die Piraten wieder frei operieren.
Die Folge des westlichen Einsatzes war die Aufrüstung der Piraten, eine Brutalisierung der Angriffe sowie ein Ausweichen der Piraten auf die offene See. Dies nahm die EU als Vorwand, um die räumliche Beschränkung des Militäreinsatzes aufzuheben. Der Einsatzraum der »Operation Atalanta« reicht nun bis an die iranische Küste am Persischen Golf und im Osten bis an die Küste des indischen Subkontinents. Das ist besonders vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte über das US-Embargo gegen den Iran bedeutsam – vor allem weil das Mandat die Kontrolle von Fracht und Papieren in internationalen Gewässern erlaubt.
In einem Strategiepapier aus Marinekreisen wird die Aufgabe freilich anders beschrieben. Diese Art von Einsatz sei neu, nicht nur für die Bundeswehr. Die EU teste und probe einen koordinierten internationalen Seeüberwachungseinsatz, besonders die Aspekte von Kommandostrukturen, Logistik und Nachschub, Psychologie der Soldaten und Koordination von Luft-, Land- und Seestreitkräften aus verschiedenen Ländern. Es sei der Test der Praxis für Marineoperationen zur Seeüberwachung und Absicherung fern der Heimat, der Prototyp für eine neue Generation von Kriegen.
Potenzielle Gegner würden in Zukunft nicht unbedingt Piraten sein: »Eine sich absehbar verschärfende Konkurrenz um den Zugang zu Rohstoffen und anderen Ressourcen erhöht das zwischenstaatliche Konfliktpotenzial. Konventionelle, reguläre Seestreitkräfte regionaler Mächte können dabei den freien und ungehinderten Welthandel als Grundlage des deutschen und europäischen Wohlstands ebenso gefährden wie kriminelle oder terroristische Bedrohungen der maritimen Sicherheit.« Von notleidenden Somalis und Piratenbekämpfung ist hier keine Rede mehr.
Zu den Autoren:
Christine Buchholz ist Mitglied des geschäftsführenden Parteivorstands der LINKEN und friedenspolitische Sprecherin der Linksfraktion im Bundestag. Stefan Ziefle ist Sprecher der BAG Frieden und internationale Politik der LINKEN.
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