In der Türkei gibt es weitere Proteste gegen die wirtschaftsfreundliche und undemokratische Politik von Ministerpräsident Erdoğan. marx21 sprach mit Canan Şahin über Hintergründe und Perspektiven der Bewegung
marx21.de: Es schien im Sommer etwas ruhiger geworden zu sein in der Türkei. Die Medien berichteten kaum noch über Proteste. Wie ist es dazu gekommen, dass die Demonstrationen im September wieder aufgeflammt sind?
Canan Şahin: Die Regierung fürchtete sich schon länger vor dem Herbst, da viele Aktivistinnen und Aktivisten der Gezi-Bewegung bereits vorher ankündigt hatten, dass die Proteste gegen die undemokratische und neoliberale Politik der Regierung dann weitergehen würden.
Die erste Protestwelle diesen Monat war eine Antwort auf den Plan, in Ankara eine Autobahn direkt über den Campus der Technischen Universität (METU) bauen zu lassen. Die METU ist nicht nur eine international angesehene Uni, sondern sie ist auch seit Jahren ein bekannter Schauplatz von Demonstrationen gegen die Regierung.
Aufgrund offen linker Einstellungen bei Studenten und Mitarbeitern und ihrer langen Tradition von Opposition, Aktivismus und Widerstand gerät die Uni immer wieder ins Fadenkreuz der lokalen und zentralen Regierungen. Als letztes Jahr in Anwesenheit des Premierministers Tayyip Erdoğan (AKP) ein Satellit auf dem Campus vorgestellt wurde; kam es zu einer Massendemonstration, die sofort brutal von der Polizei beantwortet wurde.
Die geplante Autobahn wird ein Waldstück mit insgesamt 3000 Bäumen zerstören. Dagegen wehrten sich hunderte Studenten und versuchten die Bagger aufzuhalten, als diese anfingen die ersten Bäume auszureißen. Sowohl am Morgen als auch am Abend des 6. September ging die Polizei mit Tränengas und Gummigeschossen gegen die Demonstranten vor. Als Reaktion darauf sind Menschen in anderen Teilen der Stadt und in der gesamten Türkei aus Solidarität mit den demonstrierenden Studenten auf die Straße gegangen. Mit Beginn des neuen Semesters Ende dieses Monats werden weitere und größere Demos und Sit-ins von den Aktivisten organisiert.
Wenn man an die Anfänge der Gezi-Bewegung denkt, so ist die Ähnlichkeit hier mehr als offensichtlich. Beide Formen des Widerstands fordern stadtplanerische Projekte heraus, die allein der reichen Bevölkerung zugute kommen, anstatt der breiten Masse. Die Formen und die Ausmaße dieser Projekte verdeutlichen, dass die öffentliche Meinung bei solchen Entscheidungen keine Rolle spielt. Vielmehr wird von oben herab bestimmt, was passiert. Kurzfristiger Profit wird über Nachhaltigkeit gestellt. Ökologische Katastrophen sind programmiert und werden sogar noch gefördert.
Bei den anhaltenden Protesten geht es daher darum, die undemokratische und neoliberale Agenda der zentralen und lokalen Regierungen anzugreifen.
Viele verschiedene Bewegungen sind zusammen auf die Straße gegangen, um gegen die AKP-Regierung zu demonstrieren. Gab es dabei noch weitere politische Motive neben der Sorge um umweltpolitische Themen und die neoliberale Stadtpolitik?
Ein Teil der Proteste hatte religiöse Wurzeln. Dabei ging es vor allem um den alevitischen Glauben. Obwohl 20 Prozent der muslimischen Bevölkerung in der Türkei Aleviten sind, sind ihre Gotteshäuser (cemevi genannt) immer noch nicht offiziell vom Staat anerkannt. Die Verfassung sieht stattdessen vor, dass das einzig legitime Gotteshaus für Muslime die Moschee ist. Zu Zeiten der Alleinherrschaft der CHP (1919-1946) wurden andere religiöse Stätten im Jahr 1925 verboten, um so den Islam von oben zu kontrollieren und ihn an eine vermeintlich säkulare Linie zu binden. Die regierende Partei heute nutzt dieses Gesetz immer noch als Vorwand, um die Probleme der alevitischen Gemeinschaft nicht lösen zu müssen.
Doch nicht nur diese seit Jahrzehnten staatlich geförderte Diskriminierung führte dazu, dass sich Personen alevitischen Glaubens nun den Protesten anschlossen. Es gab auch konkrete aktuelle Vorfälle. Im Zentrum stand und steht immer noch der Bau einer dritten Brücke über den Bosporus in Istanbul. Viele Umweltaktivisten, Stadtplaner, Architekten und unterschiedliche Aktivisten sprechen sich gegen diesen Bau aus, beinhaltet dieser doch die Abholzung eines großen Waldgebiets. Eine Kampagne mit dem Slogan »Nein zur dritten Brücke!« wurde Monate vor den Gezi-Protesten ins Leben gerufen. Der Bau wurde in einer großen Zeremonie mit der ganzen politischen Führung der regierenden AKP begonnen. Auch der Präsident Abdullah Gül war anwesend.
Was die alevitische Gemeinde bezüglich dieser Brücke in Aufruhr versetze, war vor allem ihr geplanter Name: Sultan-Selim-Brücke. Sultan Selim war ein osmanischer Herrscher, der im 16. Jahrhundert 40.000 Aleviten abschlachten ließ. Dies macht ihn zu einer der meistgehassten Personen bei den Aleviten. Alevitische Verbände forderten eine Namensänderung der Brücke, doch die Regierung leugnete stattdessen die Massaker und hob lieber voller Stolz hervor, was für eine wichtige und inspirierende Figur Sultan Selim für die heutige Türkei sei.
Ich möchte dennoch betonen, dass die Proteste der alevitischen Bevölkerung nicht der Kern der momentanen politischen Kämpfe sind, so wie es einige Vertreter der Regierung gerne darlegen. Vielmehr ist die alevitische Gemeinde ein Teil von vielen, die gerade ihren Unmut äußern.
Wie kam es dazu, dass sich die Demonstrationen und Straßenkämpfe in den letzten Wochen in der gesamten Türkei ausgebreitet haben?
Nachdem der AKP-nahen islamischen Gülen-Bewegung die Teilnahme alevitischer Gruppen in Demonstrationen aufgefallen ist, versuchte diese, deren Anliegen zu beschwichtigen und zu beruhigen. Zusammen mit dem Vorsitzenden einer alevitischen Stiftung, Cem Vaqf, schlug der islamische Wissenschaftler Fethullah Gülen den Bau einer Moschee und einer Cemevi auf dem gleichen Gelände vor.
Dieses Projekt wurde von der alevitischen Gemeinschaft nicht gut aufgenommen. Im Gegenteil: Tausende protestierten gegen das Vorhaben, degradierte es doch ihr Gotteshaus zum Anhang einer Moschee. Sie hatten das Gefühl, die Regierung wollte sie eher ruhig stellen, anstatt ihnen die gleichen Bürgerrechte einzuräumen.
Auf diese Demonstrationen reagierte die Polizei wieder mit massiver Brutalität und es kam zu anhaltenden brutalen Auseinandersetzungen im alevitischen Stadtteil Tuzluçayır in Ankara. Diese Proteste fanden am 8. September, also nur zwei Tage nach den Vorkommnissen an der METU statt.
Weitere zwei Tage später gingen tausende von Menschen in Hatay nahe der syrischen Grenze auf die Straße, um ihre Solidarität mit den Studenten der METU zu zeigen, und um gegen einen möglichen Militärschlag gegen Syrien zu demonstrieren. Auch hier wich die Polizei nicht von ihrem brutalen Vorgehen ab und lieferte sich stundenlange Gefechte vor allem mit Jugendlichen. Hierbei kam Ahmet Atakan, ein 22-jähriger Alevit arabischer Abstammung ums Leben.
Insgesamt wurden seit Beginn der Gezi-Proteste sechs Aktivisten getötet, von denen drei aus Hatay kamen. Abgesehen von dem kurdischen Aktivisten Medeni Yıldırım hatten die anderen Opfer alle einen alevitischen Hintergrund. Der Tod von Ahmet Atakan löste Massendemonstrationen aus. Gedenkfeiern fanden in allen größeren Städten der Türkei statt. Auch in Istanbul. Dabei ließ die Polizei es nicht zu, dass die Demonstrationen sich dem Taksimplatz und dem Gezipark näherten und feuerte stattdessen stundenlang Tränengas und Wasser auf die Demonstranten. Auch in Ankara ging sie mit äußerst starkem Tränengas gegen die Demonstrationen vor und ließ Menschen aus dem Bezirk, wo der junge Mann umgekommen ist, nicht an der zentralen Demo teilhaben. Die Kämpfe hielten an diesem Tag die ganze Nacht an.
In Istanbul verlagerten sich die Proteste und Auseinandersetzung in dieser Nacht das erste Mal nach Kadiköy, ein Stadtteil auf der asiatischen Seite der Stadt. Die Bilder sind immer wieder die gleichen: Die Polizei attackiert und die Aktivisten kämpfen hinter Barrikaden bis in die Morgenstunden.
Wie hatte sich die Gezi-Bewegung seit dem Höhepunkt im Juni weiter entwickelt?
Die Besetzung des Geziparks und die Demonstrationen haben sich in vielen Städten zu so genannten Parkforen entwicklet. Allein in Istanbul wurden jeden Abend 40 verschiedene Parkforen parallel abgehalten. In diesen Treffen besprechen die Aktivisten das weitere Vorgehen der Gezi-Bewegung. Aber auch andere Themen finden Beachtung. Das reicht von Themen, die die einzelnen Stadtviertel betreffen, bis hin zu den Wahlen.
Unterschiedlichste Dinge wurden so auf eine sehr demokratische Art und Weise diskutiert. Die sozialen Medien haben diesen Foren geholfen, sich zu vernetzen, parallel Themen zu finden und andere Debatten zu verfolgen. Wegen der Urlaubszeit in der Türkei wurden diese Foren im August weniger besucht. Mit dem erneuten Aufkeimen der Bewegung wächst aber auch das Interesse an ihnen wieder.
Die Bewegung hat ihre Höhen und Tiefen. Mit einem Rückgang der Teilnehmerzahlen an den Demonstrationen besteht das Risiko, dass die Bewegung an den Rand gedrängt wird. Nur eine große und regelmäßige Teilnahme an den Protesten kann den Kampfgeist aufrecht halten. Mit radikaler Militanz allein lässt sich die Freiheit nicht herstellen, für die die Leute auf die Straße gehen. Dennoch finde ich die Menschen, die hinter den Barrikaden kämpfen, mutig. Nur wird diese Strategie allein keine Lösung bringen.
Genau deswegen ist es wichtig, eine Massenbewegung aufzubauen. Eine große, populäre Bewegung sollte nicht durch eine kleinere radikalere Gruppe ersetzt werden. Ich denke vielmehr, dass es wichtig ist, die Parkforen wieder aufleben zu lassen, um dort die aktuellen Anliegen und Perspektiven der Bewegung diskutieren zu können. Wir müssen Strategien entwickeln, um die Bewegung noch mehr auszuweiten, anstatt sie von irgendeinem Sektierertum schwächen zu lassen.
Wie setzt sich die Bewegung denn momentan zusammen? Gehen jetzt andere Leute auf die Strasse als zu Beginn?
Die Zusammensetzung der Bewegung hat sich über die letzten Monate nicht verändert. Es gibt viele Schüler und Studenten unter den Demonstranten, genauso wie Angestellte, Fußballfans, Aktivisten aus der Schwulen- und Lesbenbewegung, Umweltaktivisten, linke Parteien und mehr.
Aber: Auch wenn immer noch die gleichen Gruppen auf die Straße gehen, die Anzahl war nie wieder so hoch wie zu Anfang der Gezi-Proteste im Juni. Auch wenn nun mehr Aleviten demonstrieren, die momentanen Proteste finden meistens auf lokaler Ebene in Form von Demonstrationen in den Stadtvierteln statt.
Wie reagiert die Regierung auf die Proteste, abgesehen von der exzessiven Polizeigewalt gegen die Demonstranten?
Die Regierung wurde gezwungen, ihren eigentlichen Plan, den Gezipark zu einem Shoppingcenter umbauen zu lassen, so lange auf Eis zu legen, bis es ein rechtsgültiges Gerichtsurteil diesbezüglich gibt. Stattdessen soll es nun eine Volksabstimmung darüber geben, auch falls die Regierung vor dem obersten Gerichthof Recht bekäme. Dies ist bisher der einzige Erfolg, den die Bewegung gegen die Regierung erzielen konnte.
Ansonsten wurden sechs Menschen umgebracht, zehn Personen haben ihr Augenlicht durch Gasgranaten verloren, hunderte wurden verletzt, aber kein einziger Polizist wurde bisher dafür zur Verantwortung gezogen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Regierung gratuliert den Polizisten für ihr Vorgehen. Seit Mitte Mai hebt Premierminister Erdoğan hervor, wie wichtig es ist, Polizisten auf dem Universitätscampus zu haben anstatt private Sicherheitskräfte. Er hat vor kurzem darauf bestanden, dass Polizisten »den Frieden auf dem Campus wahren« sollen.
Dieses Verhalten zeigt, wie viel Angst die Regierung vor der Bewegung hat. Ähnlich geht der Innenminister momentan vor. So schickte er Briefe an Schulen und Unis, um sie daran zu erinnern, dass sie doch bitte ihren Aufgaben nachkommen sollen, falls Studenten und Schüler für Unruhe sorgen. Mit anderen Worten: Die akademischen Mitarbeiter wurden aufgefordert, Studenten mit anderen Meinungen zu überwachen und sie den Autoritäten anzuzeigen.
Die Polizeigewalt hat noch lange nicht aufgehört. Das Innenministerium hat noch mehr so genannte »Skorpione« (kleine Geräte, um Gas abzuschießen) sowie Gas aus Spanien und Brasilien importieren lassen. Tayyip Erdoğan hat von Anfang an hinter den ganzen Protesten eine Verschwörung vermutet, hinter denen Lobbyisten oder Putschisten stecken würden. Darüber hinaus hat die Regierung versucht, die aktuellen Entwicklungen in Ägypten und Syrien zu nutzen, um falsche Vergleiche zu ziehen. So verglich er die Anti-Mursi-Proteste auf dem Tahrirplatz mit den Gezi-Protesten. Auch wenn diese beiden Proteste rein gar nichts miteinander zu tun haben, so gelingt es der AKP trotzdem erstaunlicherweise, ihre Basis mit solchen Absurditäten und konservativen und sektiererischen Argumenten zu halten.
Auf den Bildern aus dem Gezipark waren viele türkische Flaggen zu sehen. Wie schätzt du die nationalistisch-kemalistischen Kräfte in der Bewegung ein? Haben die einen großen Einfluss?
Die nationalistischen Kemalisten waren ziemliche »Spätzünder«, was die Gezi-Bewegung anging. Die ersten Proteste gingen von Umweltaktivisten, Schwulen- und Lesben-Aktivisten und Sozialisten aus. Die Kemalisten kamen erst später dazu, um Anhänger für ihre nationalistische Agenda zu gewinnen.
Ihre Politik besteht aus vor allem aus zwei Dingen: sie sind gegen eine Lösung der kurdischen Frage und sie sind gegen eine islamische Bewegung, was sie aus einer islamophoben Perspektive heraus begründen. Im Gegensatz zu den Leuten, die nur gelegentlich eine türkische Flage auf dem Taksimplatz und im Gezipark schwenkten, benutzten die Kemalisten die Flagge von Anfang an als politisches Symbol ihrer Ideologie. Dabei riefen sie Slogans wie »Wir sind die Soldaten von Mustafa Kemal«.
Die Aktivisten griffen diesen Slogan mehrheitlich nicht auf und äußerten ihren Unmut über jene Gruppen vor allem dadurch, dass sie diesen Slogan veräppelten und witzige Umwandlungen davon machten. Die Bewegung selbst drängte die Nationalisten an die Seite. Als der kurdische Junge Medeni Yıldırım in Lice ermordet wurde, gingen Tausende von Menschen auf die Straße, auch außerhalb Kurdistans. Es wurden Banner wie »Widerstand in Taksim, Widerstand in Lice« hochgehalten, ein Zeichen dafür, dass ein politisches Umdenken innerhalb der Gezi-Bewegung stattgefunden hat. Die kurdische Frage wurde thematisiert und respektiert.
Auch wenn man nicht sagen kann, dass die Bewegung komplett von nationalistischen Ideen befreit war, so kann doch festgestellt werden, dass die kemalistischen Kreise im Laufe der Proteste stark an Glaubwürdigkeit und Unterstützung verloren haben. Einige Parlamentarier der (kemalistischen) CHP haben offen die Bewegung unterstützt. Manche von ihnen haben sogar versucht, Polizeiautos aufzuhalten, indem sie sich vor sie gestellt oder gesetzt haben, um so die Polizei davon abzuhalten, Demonstranten anzugreifen. Trotzdem war es immer ganz klar, dass die Bewegung nie eine kemalistische Führung haben wollte. Sie wollte und will immer noch nicht, dass ihnen ihre Bewegung weggenommen wird.
Wie wird es nun weiter gehen? Im März 2014 wird es lokale Wahlen geben. Inwiefern können diese die Proteste beeinflussen?
Die Gezi-Bewegung hat bisher noch keine neue politische Organisation geschaffen, die eine Alternative zu den existierenden politischen Parteien darstellen könnte. Es kann daher sein, dass ein Teil der Bewegung die CHP allein deswegen wählen wird, da sie keine andere Alternative zur AKP sehen. Die Umfragen lassen darüber hinaus aber darauf schließen, dass die Unterstützung für die AKP durch die Bewegung nicht wirklich abgenommen hat.
Die kurdische Friedens- und Demokratiepartei (BDP) hat Anfang dieses Jahres ein Bündnis mit anderen politischen Gruppen und Einzelpersonen gebildet, das sich »Der Demokratische Volkskongress« (HDK) nennt.
Eine große Kampagne wird wahrscheinlich in Istanbul stattfinden, da sich dort Sırrı Süreyya Önder, ein sehr beliebter Politiker der BDP, als Direktkanditat zur Wahl stellen wird. Sein Einsatz in der Gezi-Bewegung hat seine Popularität noch ansteigen lassen und Leute aus verschiedenen politischen Spektren schätzen ihn sehr für sein Engagement und seine Ehrlichkeit. Eine große Kampagne in Istanbul würde der Bewegung eine Möglichkeit geben, eine gemeinsame politische Agenda zu finden, mit der Öffentlichkeit ihre Forderungen zu verhandeln und Unterstützung auch von denen zu bekommen, die nicht Teil der Bewegung waren.
Welches Potenzial hat die Gezi-Bewegung, politische Reformen zu erreichen oder fundamentale Veränderungen herbeizuführen?
Die Gezi-Bewegung hat eine ganze Generation neu politisiert und ins Zentrum der politischen Kämpfe gegen Autorität, undemokratische Politik und Polizeigewalt gestellt. Diese Generation orientiert sich nicht an alten politischen Kämpfen. Sie kämpfen für etwas Eigenes. Und um das zu erreichen, scheuen sie kein Risiko. Es geht ums Gewinnen, statt ängstlich auf ehemals verlorene Kämpfe zurückzublicken. Das unterscheidet sie von anderen Generationen. Diese jungen Menschen werden definitiv die politischen Kämpfe in den nächsten Jahren in der Türkei maßgeblich beeinflussen.
Die andauernde Zerstörung der Städte wird dazu führen, dass einige große Projekte nicht durchgeführt werden können. Dies wird schlussendlich die Bewegung und das Selbstvertrauen der Aktivisten stärken. Gleichzeitig wird die Regierung dadurch schwächer werden.
Die Gesetzeshüter werden für ihre Greueltaten nicht belangt. Die Regierung hat es bisher abgelehnt, Verfahren gegen Polizeibeamte wegen Mord oder Totschlag einzuleiten. Die einzige Untersuchung bisher wurde im Fall Ali Ismail Korkma durchgeführt, da Videomaterial ganz deutlich Polizisten und Ladenbesitzer bei der Tat zeigten. Genau deswegen ist es Aufgabe der Bewegung, gegen eine Zunahme an Polizeigewalt in Universitäten, auf den Straßen und Plätzen aktiv vorgehen.
Was politische Reformen angeht, hat sich die Bewegung bisher noch nicht als flexibel genug erwiesen, ihre Energie konstant auf breite politische Kämpfe zu lenken. Eine Lösung für die kurdische Frage zu finden, ist momentan wieder weiter in die Ferne gerrückt. Die Verhandlungen zwischen dem PKK-Anführer Abdullah Öcalan und dem türksichen Staat verlaufen nicht so reibungslos wie erwartet. Die Regierung hat es bisher noch nicht einmal geschafft, grundlegende Reformen durchzusetzen, wie beispielsweise Unterricht in der Muttersprache anzubieten. Der Gezi-Bewegung ist es bisher nicht ausreichend gelungen, die kurdische Bewegung aktiv zu unterstützen. Das sollte sich ändern.
Als General Al-Sisi in Ägypten Präsident Mursi stürzte, hätte die Bewegung auch darauf stärker reagieren können. Eine offizielle Erklärung dazu blieb aber aus. Dies hätte eine passende Antwort auf die AKP sein können und hätte es möglich gemacht, Wählerstimmen von der AKP-Basis zu gewinnen.
Wir müssen ein solidarisches Netwerk zwischen den syrischen Revolutionären, den Streikenden in Griechenland, den ägyptischen Demonstranten gegen den Militärputsch, der kurdischen Bewegung und dem Antikapitalismus aufbauen.
(Das Interview führte Erkin Erdogan. Übersetzung: Paula Nikolai)
Zur Person:
Canan Şahin ist Mitglied der sozialististischen Partei DSIP.
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