Trotz längerer Ladenöffnungszeiten wollen die Unternehmer im Einzelhandel keine Zuschläge für Spät- und Samstagsarbeit mehr zahlen. Nachtzuschläge sollen drastisch gekürzt werden. Für eine Verkäuferin würde das bis zu 180 Euro weniger Lohn bedeuten. ver.di hat für Oktober bundesweit weitere Streiks angekündigt.
Seit Monaten bleiben die Unternehmensverbände im Einzelhandel bei ihren Kürzungsforderungen. Nach bundesweit über 500 Warnstreiks und Streiks bis Ende August ist Anfang September auch die vorerst letzte Verhandlungsrunde im Pilotbezirk Nordrhein-Westfalen (NRW) an der harten Linie der Bosse gescheitert.
Nun will die Gewerkschaft ver.di ihre Streiks ausweiten. Um bundesweit für Oktober geplante Streiks vorzubereiten, finden nach Mitteilung von ver.di in vielen Betrieben Urabstimmungen statt. Nach gescheiterten Verhandlungen wird seit Mitte September in Niedersachsen, Bayern und Berlin bereits wieder gestreikt.
1,7 Prozent mehr Lohn haben die Unternehmer in NRW angeboten. Dieses „Angebot« soll aber nur gelten, wenn die Zuschläge wegfallen. Für die Kolleginnen und Kollegen bliebe unterm Strich ein dickes Minus.
ver.di hingegen hat in den Verhandlungen zwischen 4,5 und 6,5 Prozent mehr Geld und einen monatlichen Mindestlohn von 1500 Euro für eine Vollzeitstelle verlangt. Viele der 2,6 Millionen im Einzelhandel Beschäftigten, 70 Prozent davon Frauen, kommen mit ihrem Gehalt nicht aus und müssen einen Zweitjob annehmen. „Habe Arbeit – Brauche Geld« ist deshalb auf T-Shirts streikender Verkäuferinnen zu lesen.
Kern des Konfliktes sind die Zulagen für Arbeit nach 18:30 Uhr, an Samstagen und in der Nacht. Die bisherigen Zuschlagsregelungen würden „kundenfreundliche Öffnungszeiten« wirtschaftlich unmöglich machen, behaupten die Verhandlungsvertreter des Hauptverbandes des deutschen Einzelhandels und des Handelsverbandes BAG. Außerdem würden diese Arbeitsplätze gefährden. Wegen der „anhaltend schwierigen Situation des Einzelhandels« seien die Verhandlungsspielräume „sehr eng.«
Allerdings sind es nicht die Zulagen für belastende Arbeitszeiten, die Jobs gefährden, sondern die Preisschlachten zwischen den Konzernen und Umsatzeinbußen durch die Mehrwertsteuererhöhung. Seit Jahren kämpfen große Einzelhandelsunternehmen verbissen um Marktanteile. Sie liefern sich Rabbatschlachten mit Kampfpreisen, die in einigen Fällen sogar unter den Einkaufskosten der Produkte lagen.
Ob Aldi. Lidl, oder Metro, sie alle lassen für ihren knallharten Konkurrenzkampf die Belegschaften bluten. Um billiger als die Konkurrenz zu sein, greifen viele Unternehmer zu unsauberen Mitteln: geringe Bezahlung, nicht bezahlte Überstunden, Einschüchterungen durch Filialleiter, Behinderung von Betriebsratsgründungen.
Gerade die Großen der Branche, die in den Tarifverhandlungen bestimmend sind, verweisen auf die schlechte Lage im Einzelhandel. Sie selbst allerdings machen gute Gewinne: Im vergangenen Jahr hat die Metro-Gruppe (real, Media Markt, Saturn, Kaufhof) einen Gewinn von fast 2 Milliarden Euro gemacht, 14,1 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Bei der Edeka-Gruppe waren es 1,1 Milliarden Euro (plus 14 Prozent), die Rewe-Gruppe legte mit 655 Millionen um 24,9 Prozent zu. Bei der Otto-Gruppe machten 624 Millionen Euro Gewinn ein Plus von 10,4 Prozent aus. Der Karstadt-Konzern steigerte seinen Gewinn auf 146 Millionen Euro, ein Plus von 123 Prozent.
Um Personalkosten zu sparen, sind zwischen 2003 und 2006 rund 130.000 Vollstellen im Einzelhandel vernichtet worden. Laut ver.di wird nur ein Teil davon ersetzt, allerdings durch Teilzeit- und Minijobs. Im selben Zeitraum haben die Unternehmen ihre Verkaufsfläche jedes Jahr um bis zu 1,5 Millionen Quadratmetern erweitert: nicht, weil die Kauflust der Bevölkerung stark zugenommen hätte, sondern um der Konkurrenz Kunden abzujagen.
Immer häufiger werden Leiharbeitskräfte eingesetzt. Den Zeitarbeitsfirmen zahlen Einzelhändler zwar oft ein Entgelt in Höhe des im Unternehmen üblichen Grundlohnes, aber keine Zuschläge für Spät- oder Samstagsarbeit. Bei den Leiharbeitskräften selbst kommt ein Lohn an, der oft nur halb so hoch ist wie jener der fest angestellten Kolleginnen und Kollegen.
Ebenfalls zugenommen hat die Flucht der Bosse aus Tarifverträgen. Mehr als ein Drittel der Handelsunternehmen hat keine Tarifbindung mehr. In diesen Betrieben werden auch keine Zuschläge bezahlt, teilte der Verhandlungsführer der Unternehmer, Rainer Marschaus, mit.
In Berlin fordern die Unternehmer außerdem eine Angleichung des West-Tarifs an die niedrigeren Löhne im Osten. Auch deswegen haben am Montag 300 Kolleginnen und Kollegen Karstadt bestreikt und am Kurfürstendamm demonstriert. „Eine solche Angleichung hieße, 1 Stunde länger ohne Lohnausgleich zu arbeiten und etwa 300 Euro weniger Urlaubs- und Weihnachtsgeld«, sagte eine Kollegin der ver.di-Streikleitung gegenüber marx21. „Der Bruttolohn für eine Vollzeitstelle beträgt in der Endstufe 1977 Euro im Monat. Doch das verdienen nur wenige, weil viele Teilzeit arbeiten«, so die Kollegin.
Mütter werden durch flexibilisierte Arbeitszeiten vor besondere Schwierigkeiten gestellt. „Laut Tarifvertrag können sie sich von der Spätschicht befreien lassen, wenn sie Kinder unter 13 Jahren haben. Aber in der Praxis sieht das anders aus«, so die Streikleitung. Eine Kollegin beklagte: „Wenn man den Arbeitsplatz behalten will, muss man auch in der Spätschicht arbeiten. Deswegen vor Gericht zu ziehen, kann man niemandem zumuten.«
Es ist auch nicht so einfach, die Kleinen in die Kita zu bringen. Denn die Arbeit beginnt oft, bevor diese öffnet. Für die Frühschicht gibt es in Berlin laut Streikleitung „keine entsprechende Regelung im Tarifvertrag«.
Erika Ritter geht davon aus, dass die Arbeitsniederlegungen »noch deutlich an Breite« gewinnen werden. »Denn am Verhandlungstisch geht im Moment nichts mehr«, sagte die ver.di-Fachbereichsleiterin Handel für Berlin-Brandenburg in einem Interview mit der »jungen Welt«.
(Frank Eßers)
Mehr im Internet:
- ver.di: Argumente gegen die Forderungen der Unternehmerverbände (20 Seiten, PDF, 368 KB)